Liebe Freunde,
es regnet in Strömen. Schon seit zwei Stunden. Es kann auch noch mehrere Stunden so weiter regnen. Meistens beginnt es hier am späten Nachmittag zu regnen. Von früh morgens bis nachmittags scheint die Sonne, und man kann sich gar nicht vorstellen, dass sich der Himmel bedeckt und die Schleusen geöffnet werden. Ich bin hier in „meinem“ Pfarrhaus im Trocknen. Und wenn die Maler hier nicht seit meiner Ankunft das Haus von Innen und Außen streichen würden. wäre es sogar gemütlich. Ich habe gehört, dass sie morgen den letzten Tag hier sind.
Ich lebe hier im Pfarrhaus mit zwei großen Schlafzimmer (mit Bad) und zwei kleinen Schlafzimmern (ohne Bad). Im ersten Stock befindet sich ein langer, durchgehender Balkon. Unten: großes helles Wohnzimmer, Esszimmer mit Erweiterung zu einem kleinen Innenhof , an den sich ein Gemeinderaum, die Kirche und der Kindergarten anschließen. Eine gut ausgestattete Küche, Waschküche und ein Arbeitszimmer mit allen notwendigen digitalen Zugängen. Da kann man schon ein paar Jahre leben. Im Laufe eines Jahres gibt es offenbar nur wenige Taufen Trauungen
und Beerdigungen. Sonntagsgottesdienste finden regelmäßig statt und sind erstaunlich gut besucht. Die Gemeinde hat etwa zweihundert Mitglieder und in den Gottesdiensten sind – anders als in einer durchschnittlichen Gemeinde in
Deutschland – auf jeden Fall mehr als zehn Prozent der Gemeindeglieder versammelt.
Heute Abend singe ich wieder bei der Chorprobe mit. Am Freitag Vormittag ist nochmal Vorlese-Stunde im Kindergarten angesagt. Da mache ich viele Dönekens. Den Kindern gefällt das. Am Freitag besuche ich auch das deutsche Humboldt-Gymnasium. Da gehen vor allem die Kinder und Enkel derjenigen hin, die deutsche Wuzeln haben. Aber auch die Kinder der „Bildungs-Elite“ oder jedenfalls die Kinder derjenigen, die sich Schulgeld, Schuluniform usw. leisten können. Die Schule wird von der deutschen Regierung subventioniert und steht in enger Verbindung mit der deutschen Botschaft. Der deutsche Botschafter besucht auch öfter den Gottesdienst in „meiner“ Kirche. Die Deutschen oder „Deutsch-Wurzler “ sind hier erstaunlich gut miteinander vernetzt.
Die ersten Deutschen kamen nach Costa Rica, als die erste deutsche Revolution nach 1848 gescheitert war und die monarchistisch-autoritäre Restauration ihre Macht wieder gesichert hatte. Dann waren hier Ingenieure und Facharbeiter aus Deutschland gefragt, als hier in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. die Eisenbahn gebaut wurde, die den Kaffee von den Fincas in die Hauptstadt bzw. zu den Häfen bringen sollte. Der zweite grössere Schub aus Deutschland kam Ende des 19. Jahrhunderts, als man es in Costa Rica mit Kaffee zu Wohlstand bringen konnte. Hamburg wurde Haupt-Umschlagplatz für Kaffee-Importe aus Costa Rica – und blieb es bis in die 70er Jahre.
Der dritte Schub, wenn man das so sagen kann, kam in der Nazizeit, als viele jüdische Mitbürger aus Deutschland hierher fliehen konnten. Und in der 60er Jahren kamen viele, die einfach raus wollten aus dem in vielerlei Hinsicht als eng erlebten Nachkriegs-Deutschland. Ich habe schon etliche hier in der Gemeinde kennen gelernt, die damals hierher kamen Sie haben hier ihre Familien
gegründet, einige haben Einheimische geheiratet und sind hier sesshaft geworden. Ihre Verbundenheit mit Deutschland bestand bisher oft gerade so lange, wie die alten Eltern noch dort lebten und die Kinder und Enkel wenigstens einmal im Jahr sehen wollten.
Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: Zur Zeit der spanischen Eroberung gab es in Costa Rica- anders als in den Ländern ringsum – für die spanischen conquistadores nicht viel zu holen. Costa Rica wurde lange Zeit irgendwie mitverwaltet.
Lange Zeit von Guatemala aus. Im 19. Jahrhundert kam es aber auch in Costa Rica zu den anscheinend unvermeidlichen Machtspielchen und den „üblichen“ Revolutionen. Dabei haben die U.S.A. schon frühzeitig mitgemischt und Einfluss genommen im Sinne von „America first!“.
Einhundertfünfzig Jahre hindurch gehörte Costa Rica zum U.S.-amerikanischen „Hinterhof“, bis die kommunistischen Revolutionen in Kuba, Nicaragua, Guatemala und San Salvador die gut funktionierenden „Bananrepubliken“ der U.S.A. das Gewohnheitsrecht in Frage stellten. Anders als in Nicaragua, Guatemala, San Salvador und Panama ist Costa Rica aber seit Ende des 2. Weltkrieges eine „Insel des Friedens“ geblieben. Es hat seit 1948 friedliche Wechsel unterschiedlicher demokratischer Regierungen gegeben. Öl und sonstige Begehrlichkeiten an Bodenschätzen gibt es nicht. Und nur wegen des Kaffees lohnen sich keine militärischen Übergriffe und nicht einmal politische Einflussnahme. In wirtschaftlicher Hinsicht ist aber dafür der american way of life überall vertreten – zumindest was San José angeht – anderes vom Land habe ich ja bisher noch nicht gesehen.
San José ist von einem riesigen Gewirr von vierspurigen Highways umgeben. Nicht selten passiert es, dass diese Highways plötzlich enden und als einfache Strassen weitergehen. Die Verkehrsplanung scheint den Interessen der Wohlhabenden angepasst worden zu sein. Man ist hier verkehrstechnisch jedenfalls verloren, wenn man lohne Auto(s) ist. Es gibt zwar öffentliche Busse, sie sind aber immer überfüllt. Aber inzwischen ist es auch für Autofahrer kein Vergnügen, sich hier zu bewegen, weil man morgens zwischen 7 – 10 und nachmittags zwischen 15 – 19 Uhr praktisch überall im Stau steht. Die „Ticos“ haben sich offenbar damit abgefunden. Die individuelle Lösung besteht darin, dass man vor 7 Uhr an seinem Arbeitsplatz ist und entweder schon am frühen Nachmittag oder erst am späteren Abend wieder nach Hause fährt.
Für meine Ausflüge in die nähere Umgebung bleibt die Zeit zwischen halb zehn und halb drei. Für längere Tagesausflüge sollte man vor sieben Uhr morgens aus der Stadt raus sein und nicht vor sieben Uhr abends wiederkommen. Ich habe gehört, dass die Stadtverwaltung tatsächlich diskutiert, in San José eine U-Bahn zu bauen. Was in Addis Abeba möglich ist, könnte doch hier realisiert werden! Ich vermute, dass – neben den herkömmlichen Schwierigkeiten – auch das Thema Erdbeben-Sicherheit bei er Durchführung eines solchen Vorhabens eine Rolle spielen dürfte.
Ansonsten gibt es im Zentrum der Stadt und den umliegenden Avenidas und Calles nur ein unglaubliches Gewimmel. Ich liebe das sehr. Je weniger die Strassen ein U.S.-amerikanisches Erscheinungsbild haben, desto bunter ist das Treiben darin. Im Zentrum selbst gibt es viele internationale Firmen, die hier ihre Geschäfte, Restaurant-Ketten und Cafés haben. Aber ein paar Strassen weiter wird es – fast hätte ich gesagt: gemütlicher. Hier habe ich bei meinem ersten Stadtbummel auch einen Schuhmacher gefunden, der die ausgegangene Naht meines Schuhs mit der Hand an Ort und Stelle genäht hat. Ich war begeistert. Hatte schon daran gedacht, mir ein neues Paar robuste Schuhe zu kaufen. Amerikanische Marken sind hier günstiger als bei uns. Aber jetzt lasse ich es erstmal so.
Im Zentrum con San José gibt es – Gott sei Dank, immer noch – viele sehr schöne Häuser vom Ende des 19. Jahrhunderts. Damals haben die reich gewordenen Besitzer von Kaffee-Fincas und Kaffee-Händler das Stadtbild geprägt. Schöne alte Holzhäuser findet man hier noch aus dieser Zeit. Und beeindruckende Villen, die den jeweiligen Geschmack ihrer Besitzer widerspiegeln: viktorianisch, wilhelminisch, spanisch oder maurisch. Viele dieser Häuser sind allerdings schon zerstört worden, um Hochhäusern der Geschäfts- und Bankenwelt Platz zu machen. Ein Jammer! Immerhin hat vor ein paar Jahren der Präsident der größten Versicherungsgesellschaft INS etwas geschafft, was unglaublich klingt: Er war begeisterter Sammler prä-kolumbianischer Kunst und hat im 11. Stock des komplett hässlichen Beton-Hochhauses seiner Versicherung eines der wichtigsten Museen des Landes eingerichtet: das Museo de Jade.
Das Teatro Nacional gilt als das schönste Gebäude der Stadt. Die Mutter einer Kirchenvorsteherin, die in Konzert-Abo besitzt, hatte die wunderbare Idee, mich zu einem Konzert am Pfingstsonntag Vormittag einzuladen. (Gottesdienst war abends): Wagner, Lohengrin, Vorspiel zum 3. Akt, dann Rachmaninoff, die 2. Symphonie, dann und Saint-Saens, Cellokonzert – gespielt von einem hervorragenden jungen Cellisten aus Bremen. Den Anstoß zum Bau des Teatro Nacional gab eine Tournee der damals berühmten Adelina Patti im Jahre 1890. Sie konnte nicht in Costra Rica auftreten, weil kein geeigneter Rahmen zur Verfügung gestellt werden konnte. Das alte Theater war kurz vorher einem Erdbeben zum Opfer gefallen…
Für viele Vertreter der reichen Oberschicht war es eine nationale Schande, dass die Opernsängerin nicht auftreten konnte. Die Kaffeebarone unter ihnen einigten sich darauf, auf alle Kaffeeexporte eine Sondersteuer zu erheben bis genug Geld für den Bau eines repräsentativen Theaters da war. Die Devise war: nicht kleckern, sondern klotzen. Als Vorbild diente die wenige Jahre zuvor fertiggestellt Pariser Oper. Man ließ kostspielige Baumaterialien mit dem Schiff aus Europa hertransportieren. Europäische Architekten und später die Künstler sorgten endlich für den standesgemäßen Rahmen. Im Jahre 1897 wurde das Teatro Nacional eingeweiht – mit einer Aufführung der Pariser Oper.
Als Außenstehender kann man auf den ersten Blick den Eindruck haben, dass Costa Rica ein einziger großer Nationalpark mit unendlicher Artenvielfalt im Hinblick auf Fauna und Flora ist. Und tatsächlich gibt es hier eine ganze Reihe gösserer und kleinerer, staatlicher und privater Reservate. Und dann sind da natürlich die pazifischen und karibischen Bade-Küsten. Und von San José, der Hauptstadt, die etwa in der Mitte des Landes liegt, alles in erreichbarer Nähe für Tages- oder Wochenend-Reisen.
Über den hochglanz-touristischen Eindruck kann man leicht die Armut im Land übersehen. Wenn ich durch die Strassen der Stadt gehe, sehe ich sie überall: die armen, bettelnden, obdachlosen Menschen. „Arme habt ihr alle Zeit…“ – diese nüchterne Feststellung steht schon in der Bibel. Und nicht nur „Tag und Nacht, Frost und Hitze …“ wie es am Ende der Noah-Geschichte heißt, sondern auch das Gefälle zwischen Armut und Reichtum in dieser Welt wird nicht aufhören. Aber vielleicht liegt es an jedem von uns, etwas dagegen zu tun, dass dieses Gefälle nicht ständig wächst.
Ich habe davon gehört, dass es noch einige indianische Ethnien im Land gibt. Die zu besuchen würde mich natürlich sehr reizen. geht aber nur außerhalb der Regenzeit und nur mit Allrad-Fahrzeugen. Vielleicht wäre Hinreiten eine Alternative….
Herzliche Grüsse,
Kurt Jürgen