Wolgograd, Oktober 2018

Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018

Wieder einmal ein Gruß aus Russland..Der dritte Teil unseres Seelsorgekurses (3 x 10 Tage) findet dieses Mal nicht in St. Petersburg, sondern in Sarepta, in der Nähe von Wolgograd statt.

Den Kurs leite ich wieder gemeinsam mit Anna, meiner Kollegin aus Heilbronn.

Die kleine Stadt Sarepta liegt etwa vierzig Kilometer südlich von Wolgograd. Auch an der Wolga. Die deutsche Siedlung ist eine Kopie von Herrnhut in der Oberlausitz. Mitte des 18. Jahrhunderts erreichten die ersten fünf Glaubensbrüder auf Einladung der Zarin Katharina II. das Gebiet von Zarizyn, dem heutigen Wolgograd. Damals eine Zarenfestung. Sie konnten ihr Land „zum ewigen Eigentum“ selbst aussuchen, durften eine Selbstverwaltung einsetzen und brauchten für die ersten dreiß0ig Jahre keine Steuern zu bezahlen.

Der Boden erwies sich als kaum für den Ackerbau nutzbar. Am ehesten noch für Baumwolle und Tabak. Auch Wein wurde angebaut und eigenes Bier gebraut. Es entstanden bald blühende Handwerksbetriebe.Die von den Herrnhutern gegründete Senffabrik besteht noch immer und produziert unter anderem Senföl. Es wurde eine Quelle mit mineralhaltigem Wasser entdeckt, die Sarepta eine Zeit lang zu einem bedeutenden Kurort in Russland machte. Sarepta wurde die bekannteste und wichtigste deutsche Kolonie in Russland.

Ende des 19. Jahrhunderts war dann endgültig die strengen Herrnhuter Regeln des Zusammenlebens nicht mehr durchzusetzen. Gleichzeitig nahm jedoch auch die Bedeutung des Ortes ab. Mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion verordnete Stalin, dass alle Russlanddeutschen deportiert werden. Verstreut in Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Sibierien und im Russischen Fernen Osten sind viele von ihnen umgekommen oder haben ein Leben im Elend durchgemacht.

Nach 1989 sind viele Wolgadeutsche und auch die nachgewachsene Generation in die angestammte Heimat zurückgekehrt. Seit 1990 gibt es wieder lutherisches Gemeindeleben in der alten Kirche von 1780. Die denkmalgeschützte Kirche ist zu einem bedeutenden regionalen Begegnungszentrum geworden. Durch eine Bürgerinitiative konnten acht der zum Ensemble gehörenden fünfzehn Häuser restauriert werden. Sie gehören jetzt zum Freilicht-Museum Sarepta.

In einem besonderen Museumsgebäude erfährt man ganz eindrücklich etwas vom Leben der Herrnhuter Gemeinde in Sarepta. Leider sind die Hinweise zu den Ausstellungsstücke nur auf Russisch. In dem Komplex gibt es auch Zimmer zur Übernachtung. Einige Kursteilnehmer und wir als Kursleitung sind hier ordentlich untergebracht. Die anderen Kursteilnehmer übernachten in größeren Mehrbettzimmern im Keller des Pfarrhauses. Während der heißen Sommer hier soll die Übernachtung dort im kühlen Kellergewölbe ausgesprochen angenehm sein.

Nicht nur die historische Kirche, sondern auch das große Pfarrhaus wurde gründlich renoviert. Hier wohnt Propst Oleg Stuhlberg mit seiner Frau Tanja und ihren beiden kleinen Kindern. In einem anderen Flügel des Pfarrhauses befindet sich ein großer, heller Gruppenraum, eine Tagungsküche und das Dienstzimmer des Propsten. Im Gruppenraum können wir sehr gut arbeiten. Insgesamt ist es ein für mich überraschend angenehmer Ort. Gerne würde ich hier wieder einen Kurs oder eine Tagung veranstalten wollen.

Schon im zweiten Kursteil waren drei der ursprünglich zwölf Teilnehmenden abgesprungen. Aber in einer Gruppe mit neun Teilnehmenden lässt es sich sogar noch besser arbeiten. Für die wichtige Aufgabe des Übersetzens im Kurs steht Ruth zur Verfügung. Ruth kenne ich schon seit vielen Jahren als Dolmetscherin in meinen Kursen. Sie macht das ganz hervorragend. Mit Anna ist die gemeinsame Kursleitung kollegial und ausgesprochen angenehm.

Ich wohne in einem großen Zimmer mit hohen Decken. Durch die Neonbeleuchtung hat es den Charme einer Bettenabteilung in einem Möbelhaus der 50er Jahre. Aber es ist mit Nasszelle ausgestattet und einem WC, auf dem ich immer etwas schräg Platz nehmen muss, weil der Toilettenpapier-Halter so angebracht ist, dass Geschäfte aufrecht nicht erledigt werden können.

Heute Morgen ist beim Aufziehen die ganze Gardinenstange runtergekommen. Das gabt Licht und freien Durchblick aus dem etwas düsterem Raum. Ich war schon drauf und dran, das Ereignis und seine Folgen auf sich beruhen zu lassen, hab mich dann aber doch entschlossen, den Vorgang zu melden. Gleich nach dem Mittagessen erschien eine Dame mit Notizblock und Gefolge, die die Bescherung registrierte und Anweisungen gab, den Schaden umgehend zu beheben. Ich bat darum, dies etwas später zu tun, weil ich vorher noch gerne Mittagsschlaf machen wollte.

Zwei Minuten später stand ein lang aufgeschossener Mensch im Overall in meinem Zimmer. Ich wiederholte noch einmal, dass mir drei Uhr lieber wäre. Mit einem verständnisvollen „Au wei“ (oder so ähnlich) machte er sich sofort ans Werk. Aufgrund seiner Körpergröße war eine Leiter nicht nötig. Aber er musste doch immer einmal wieder von der Fensterbank steigen, weil er das eine und andere Handwerkszeug nicht dabei hatte. Mit einem freundlichen „Au wei!“ (oder so ähnlich ) verabschiedete er sich.

Gleich nach ihm betrat eine Mitarbeiterin aus der Hauswirtschaft mein Zimmer. Sie sagte nichts, fegte und wischte dann aber nicht nur die Fensterbank ab, sondern machte sich über das ganze Zimmer her. Keine Chance, sie daran zu hindern. Alles in allem dauerte die Aktion gerade so lange, dass ich meine Mittagspause pünktlich um drei mit einem erleichterten Spasiba bolschoi! – Danke vielmals! beenden konnte.

Anna und ich hatten uns in Moskau am Flughafen getroffen und sind von dort zusammen nach Wolgograd geflogen. Dort wurden wir Oleg abgeholt. Oleg und seiner Frau Tanja nehmen auch an unserem Kurs teil. Er ist Propst im Bezirk Wolgograd mit Sitz in Sarepta. Der Tag nach unserer Ankunft, ein Samstag, war der einzige Tag, um Wolgograd zu besuchen.

Oleg lud Anna und mich am nächsten Tag ein, in seinem Auto zunächst einen großen Soldatenfriedhof etwas außerhalb von Wolgograd zu besuchen. In einem riesigen Komplex sind in den letzten Jahren mehrere Soldatenfriedhöfe angelegt worden: ein Friedhof für rumänische, kroatische und italienische Soldaten, die im Verbund mit der Deutschen Wehrmacht hier gefallen waren. Ein Friedhof mit etwa fünfzig Steinblöcken, die jeweils aus vier Quadern bestehen und so geschichtet sind, dass in der Mitte der Blöcke ein Kreuz geformt ist. Auf jedem Quader sind die Namen von gefallenen unbekannten deutschen Soldaten geschrieben – 130.000 Namen!

Daneben eine andere Anlage für gefallene deutsche Soldaten, die identifiziert werden konnten. Ein riesiger, runder Grabhügel und umlaufend ein Band mit Steinplatten, auf denen die Namen dieser Gefallenen stehen: 63.000 Namen. Nicht weit davon entfernt der Soldatenfriedhof für russische gefallene Soldaten. Und dazwischen eine ökumenische Kapelle mit eindrucksvoller Architektur: Die Seiten offen, aber an jeweils einer Seite ein großes „orthodoxes“ und ein „lateinisches“ Steinkreuz. Durch beide Kreuze kann man hindurchsehen auf die Weiter der Steppe. Und die ganze Anlagen nach oben – zum Himmel – offen. Eine sehr eindrucksvolle Anlage. In der Schlacht um Stalingrad sind zwei Millionen Menschen gefallen – die meisten im Alter zwischen siebzehn und dreißig Jahren. Und von den etwa einhunderttausend deutschen Kriegsgefangenen von dort sind nur sechstausend lebend in die Heimat zurück gekehrt. Mich hat diese beeindruckende Grabanlage sehr erinnert an den Soldatenfriedhof in Charkow, wo mein Vater zwischen seinen Kameraden begraben liegt.

Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen. Und der Himmel über der weiten Steppenlandschaft war hellblau und ohne Wolken. Am späten Nachmittag kamen wir an der Gedenkstätte mit der bekannten monumentalen Statue Mutter Heimat“an. Die Abendsonne tauchte die über einhundert Meter hohe Statue in ein geradezu freundlich-warmes Licht. Die Statue befindet sich auf der Spitze des Mamajew-Hügels. Im Kampf allein um diesen Hügel, von dem die ganze Stadt und die Wolga unter Beschuss genommen werden konnten, sind 30.000 deutsche und sowjetische Soldaten gefallen. Die Deutsche Wehrmacht wollte mit der Einnahme der Stadt Stalingrad den Nachschub der Alliierten von Persien über das Kaspische Meer und die Wolga bis in die Mitte des Landes unterbrechen. Ziel war es aber auch, bis zu den Ölfeldern des Kaukasus zu gelangen und nicht zuletzt die „Stadt Stalins“ in Trümmer zu legen.

Von der Monumental-Statue führt einen Treppenweg herab Richtung Wolga. Es handelt es sich um eine ebenso monumentale Anlage zum Gedenken und zur Ehre der ruhmreichen Verteidiger der Stadt. Beim Herunterschreiten der breiten Treppe ist Maschinengewehrfeuer vermischt mit Befehlen und Schreien der Soldaten zu hören und dazwischen patriotische Lieder und Kampfgesänge. Beidseitig an den Wänden der Treppenanlage monumentale in Stein gehauene Kampfszenen. Es mag ja sein, dass russische Besucher hier an Kampf und Sieg berauschen. Ich selbst bin erstarrt.

Im Auto hat Oleg uns dann ein wenig durch das schon in den fünfziger Jahren wieder aufgebaute Zentrum der Stadt gefahren, das ein einziges Trümmerfeld war. Ganz in der Nähe des Kellers, in dem General Paulus sich ergeben haben wir in einem feinen Restaurant zu Abend gegessen. Das Restaurant liegt in der Straße Miram – zum Frieden….

Volgograd (Sarepta), Oktober 2018

Zweiter Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018

Das Kursgeschehen eines Tages endet mit einer Abendandacht in der schönen alten Kirche der Herrnhuter Gemeinde aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Kirche ist ganz in weißer Farbe gehalten. Neben dem Altar stehen auf Fensterbänken frische Schnittblumen in Vasen und Topfpflanzen. Die Untersetzer der Topfpflanzen leuchten in wechselndem Neonlicht rot und blau und gelb. Über dem Altar leuchtet eine Kordel aus bläulich- rot aufflackerndem Neonlicht. Und die Orgelpfeifen strahlen in hellem Neongrün. Für unseren Kurs wäre diese Installation nicht extra nötig gewesen….

In den Gesangbüchern gibt es viele Lieder, die wir auch aus unserem Gesangbuch kennen. Sie sind zweisprachig gedruckt. Eine gewisse Vorliebe gibt es für die „Herz-Jesu-Lieder“, in denen die innige Verbindung mit Jesus betont wird und gleichzeitig auch die Niedrigkeit und Nichtigkeit des einzelnen Menschen unterstrichen wird. Der Mensch ist als Sünder verworfen und kann nur durch das Leiden und den Opfertod Jesu gerettet werden.

In einer Kurseinheit zum Thema „Einführung in die Psychodrama-Seelsorge“ habe ich die Gruppe eingeladen, die Texte von zwei Gesangbuchliedern, die wir gerade in der Morgenandacht gesungen hatten, genauer anzuschauen und in Form von Skulpturen das darin ausgedrückte Lebensgefühl zu zeigen. Dies war sehr eindrücklich.

In einem anschließenden Gruppenspiel zeigte eine Teilnehmerin auf der psychodramatischen Bühne, wie sie ihren vierten Geburtstag in der Familie gefeiert haben: Die Eltern, Geschwister und Freundinnen tanzten am Ende einen Reigentanz und sangen dabei ein Geburtstagslied. Nur die alte Babuscka und der Kater blieben auf dem Sofa sitzen. Ein glücklicher Augenblick im Leben und möglicherweise eine Kraftquelle und ein Trost in weniger glücklichen Zeiten.

Die Teilnehmenden wollten gerne wissen, ob sie Elemente des Psychodrama für ihre eigene Seelsorgearbeit übernehmen können. Im Sinne eines Monodrama haben wir deshalb die Situation eines Einzelgesprächs mit Psychodrama-Elementen experimentell auf die Bühne gebracht. Eine Kursteilnehmerin, Katharina erzählt im Gespräch mit mir als Seelsorger von ihren Ängsten. Ich helfe Katharina dabei, diese Ängste zu benennen. Unter anderem geht es um Flugangst, aber auch generell um Lebensangst. Ich bitte Katharina, für diese Ängste verschiedene Stühle aufzustellen und sich dann jeweils hinter diese Stühle zu stellen und die Angst sprechen zu lassen. („Ich bin deine Angst vor dem Fliegen. Ich mache, dass du innerlich zitterst….“ oder: Ich bin deine Lebensangst, ich schleiche mich zu dir und würge dich, dass du denkst, du erstickst…“). Ich bitte Katharina, eine zu der jeweiligen Angst passende Haltung und Gestik einzunehmen.

Die zunächst nicht greifbaren Ängsten werden auf diese Weise konkret und „handhabbar“ – bis dahin, dass Katharina ihre Lebensangst anschreit („Raus aus meinem Leben! Hilf mir, Gott!…“). Katharina kommt auf die Idee, die Angst wegzuschieben und dabei immer wieder ein Vaterunser zu sprechen. Schließlich ist die Angst verschwunden. In der Nachbesprechung wird deutlich: für diesen Moment nur. Aber immerhin ist es eine gute Erfahrung, an die sich Katharina erinnern kann, wenn die Angst sie wieder überfällt.

In den Fällen, welche die KursteilnehmerInnen einbringen geht es auffallend oft um die Familienkonstellation Mutter-Tochter-Kind(er). Der Vater ist oft schon nicht mehr am Leben und der Mann der Tochter (der Vater ihrer Kinder) oft anderweitig „abhanden gekommen“. Dabei spielen Arbeitslosigkeit, die räumliche Enge im Zusammenleben mehrerer Generationen in einer Wohnung und der Alkoholmissbrauch eine Rolle. Oft wohnen die Kinder auch noch im Erwachsenenalter bei den Eltern. Und selbst dann noch, wenn sie selbst geheiratet haben und Kinder da sind. Die Wohnungen haben meistens nicht mehr als zwei bis drei Zimmer.

Die KursteilnehmerInnen haben im Vergleich zum ersten Kurs vor einem Jahr große Fortschritte gemacht. Sie sind aufmerksamer und einfühlsamer in ihrer Wahrnehmung geworden und haben einen guten Blick für ihr Gegenüber entwickelt. Sie spüren, dass in in einem Seelsorgegespräch verallgemeinernde und belehrende Bemerkungen nicht hilfreich sind. Der Mensch mit seinem individuellen Schicksal steht im Mittelpunkt. Mir fällt die große Bedeutung der Gemeinde auf, in der jemand seelsorglich tätig ist. Das Aufgehobensein in der „Gemeinschaft der Gläubigen“ ist ein großes Anliegen sowohl von den Seelsorgern als auch von den Ratsuchenden. Nicht selten endet eine gelungene Beratungssituation mit einer (Erwachsenen)Taufe in der Gemeinde. In der russischen Gesellschaft gibt es nur ein geringes und ungenügendes psychotherapeutisches Angebot. Für die Kirchen wäre es eine große Chance, psychotherapeutisch fundierte Seelsorgeangebote für Gemeindeglieder ebenso wie für Menschen außerhalb der Kirchen zu machen!

Auch für Kinder- und Jugendliche in Krisensituationen gibt es nur ungenügende Hilfsangebote. Ein Teilnehmer stellte folgenden Fall vor: Ein 18-jähriger junger Mann wendet sich – auf Drängen seiner älteren Schwester – an den Pastor. Die Mutter des jungen Mannes war im Zusammenhang mit der Geburt des Jungen gestorben. Seine zehn Jahre ältere Schwester wird Mutterersatz für das Kind. Der Vater heiratet nicht wieder. Er arbeitet bis spät und spricht zu Hause kaum ein Wort.

Als die Schwester heiratet und aus der elterlichen Wohnung auszieht, bleibt der Junge mit dem real abwesenden und emotional nicht zugänglichen Vater allein. Er findet keinen Anschluss bei Jugendgruppen oder in einem Sportverein, weil der Vater ihm dies verbietet. So stromert er – hart an der Grenze der Verwahrlosung – tagsüber in der Stadt herum. Erstaunlicherweise kann er jedoch die neunte Klasse beenden. Auf Druck seiner Schwester wendet er sich an den Pastor. Völlig überraschend trägt er dort seinen Wunsch vor, sich taufen zu lassen. Auf die Frage des Pastors sagt er: „Meine Mutter war eine gläubige Frau, sie hätte bestimmt gewollt, dass ich getauft werde.“

Das nie bearbeitete Geburtstrauma kommt über den Wunsch, sich taufen zu lassen wieder hoch. Der Pastor spricht dies an. Im Gespräch wird deutlich, dass der Verlust der Mutter und die nie gestillte Sehnsucht in dem jungen Mann den Wunsch geweckt hat, sich taufen zu lassen. Es wird deutlich, dass er auf diese Weise eine Nähe und Verbindung zur Mutter herstellen kann. Die Beziehung zu seinem Vater war zeitlebens problematisch und nie so, dass das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit befriedigt und Vertrauen in das Leben entwickelt werden konnte. Womöglich stand sogar der unausgesprochene Vorwurf des Vaters zwischen beiden, dass der Vater durch die Geburt des Kindes seine Frau verloren hat. Für den jungen Mann wird die Taufe zu einem heilsamen und befreienden Geschehen.

Kompetente und erfahrene SeelsorgerInnen könnten dazu beitragen, das gesellschaftliche Defizit im sozial-therapeutischen Bereich zu vermindern. Genau dies ist das Ziel unserer Seelsorgekurse.

Leider muss bezweifelt werden, dass die Kirchenleitungen dies auch so sehen. Seelsorge erweckt den Anschein der Bedeutungslosigkeit oder Beliebigkeit, weil sie im Verborgenen geschieht und ihre Wirkung unspektakulär ist.

In einer Kurseinheit zum Thema „Religiöse Sozialisation“ wurde deutlich, dass viele Kursteilnehmer erst im Erwachsene zum Glauben und in die Kirche gekommen sind. Bis dahin ist Kirche und besonders die Lutherische Kirche ihnen ganz unbekannt gewesen. Wenn jemand zum ersten Mal einen lutherischen Gottesdienst besucht oder ein Gespräch mit dem Pastor führt ist dies oft verbunden mit der Bitte um eine eigene Bibel.

Und dann geschieht es, dass dieser Besucher zum ersten Mal im Leben anfängt, selbst in der Bibel zu lesen. Gespräche über biblische Texte und den Glauben bringen tatsächlich Menschen dazu, Mitglieder in einer Gemeinde zu werden. Wenn sie nicht schon als Kinder in der Orthodoxen Kirche getauft wurden, geschieht ein Kircheneintritt oft mit der Bitte, getauft zu werden.

In der Sowjetzeit, als die Kirche – auch die Orthodoxe Kirche – verfolgt und Priester in den Gulag geschickt oder ermordet wurden, haben die Großmütter, die Babuschkas den Glauben bewahrt und an die Enkel weitergegeben. Das kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Auch heute sind es vor allem (ältere) Frauen, die das Gemeindeleben tragen. Bis vor kurzem war es möglich, dass in sehr kleinen Gemeinden das Gemeindeleben und die Gottesdienste in einer Wohnung (oft in einem der großen „Plattenbauten“ – stattfand. Jetzt ermöglicht ein neues Gesetz, dass Gottesdienste in Wohnungen nicht mehr gefeiert werden dürfen, wenn sich Mitbewohner über die „Ruhestörung“ beschweren. Für manche kleine Gemeinden bedeutet dies das Aus.

Gestern Nachmittag hatten wir kursfrei. In der Gemeinde gibt es einen VW-Bus. Sechs Kursteilnehmer und Anna und ich sind zusammen nach Wolgograd reingefahren, um noch etwas mehr von der Stadt zu sehen und zu erleben. Als erstes sind wir an einer Stelle ausgestiegen, wo der kleine Fluss Sarepta in die Wolga fließt. Für die Olympiade wurde alles mit neuen Straßen und Plätzen überzogen, sodass vom Fluss nichts mehr zu erkennen ist. Aber hier war es, wo die Herrnhuter Kolonisten vom 40 km entfernten Sarepta ihre Waren umschlugen und auf den größeren Wolgaschiffen weiter transportierten. Und tatsächlich wurde Wolgograd – das früher Zaretzin hieß – später noch als die da schon aufstrebende Siedlung Sarepta gegründet.

Mit einem der Ausflugsboote haben wir dann eine Fahrt auf der Wolga gemacht. Es war schon Nachmittag und langsam ging die Sonne über der Stadt und dem Fluss unter. Auf dem anderen Ufer der Wolga konnte man deutlich einen breiten Sandstrand erkenn. Ich dachte dabei an das Wolgalied, das ich kürzlich bei der Probe des Kirchenchores mitgesungen habe:

Die Wolga ist mein Heimatfluß, an den ich immer denken muß….Die Wolga fließt ins Kaspi-Meer… , zuerst jedoch mit Sehnsuchtsschmerz strömt sie durch mein zerquältes Herz…“

Ich dachte aber auch an das berühmte Wolgalied aus der Oper von Franz Léhar:

…Es steht ein Soldat am Wolgastrand,/ hält Wache für sein Vaterland./ In dunkler Nacht allein und fern./ Es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern./ Regungslos die Steppe schweigt/ Eine Träne ihm ins Auge steigt:/ Und er fühlt, wie´s im Herzen frißt und nagt,/ wenn ein Mensch verlassen ist, und er klagt,/ Und er fragt…“

Vor allem aber spüre ich auf dieser gemächlichen, ruhigen Flussfahrt die Diskrepanz zu den entsetzlichen Kämpfen um Stalingrad, die hier gewütet haben. Im Stadtpanorama fällt der Blick auf die große, alte Getreidemühjle, die einmal einen deutschen Besitzer hatte. In den Straßenkämpfen umkämpft, völlig zerstört, wie die umliegenden Häuser. Heute ein Museum, das an diese Kämpfe und diese Zerstörung erinnert. Zum Museum gehört auch die stehen gelassene Ruine eines umkämpften Wohnblocks.

Wir fahren unter die neue Brücke, die den Fluss überspannt. Gerade noch rechtzeitig fertig gestellt zur Fußball-Weltmeisterschaft. Sie wurde von der Bevölkerung anfangs „Die tanzende Brücke“ genannt, weil die Schwankungen der Brücke zuerst mehr als einen Meter betrugen. Danach wurde sie stabilisiert und ist jetzt sicher befahrbar. Gleich neben der Brücke das neue Fußballstadion. Eine neues Wahrzeichen der Stadt.

Wolgograd gilt als „Heldenstadt“. Es gibt hier eine „Allee der Helden“ und viele Mahnmale, die an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ erinnern. Entlang der Straßen im Zentrum gibt es viele Mahnmale, die gleichzeitig Massengräber für Soldaten und Zivilisten sind. Neben der orthodoxen Alexander-Newski-Kirche, die völlig zerstört war und gerade mit Unterstützung des Staates wieder aufgebaut wird, das Mahnmal für den unbekannten Soldaten: Ein hoher Obelisk und davor eine „ewige Flamme“.

Es ist schon dunkel geworden, als unsere kleine Gruppe vor dem Mahnmal steht. Ich bleibe noch eine Weile und schaue in die Flamme. Neben mir steht eine junge Frau. Bewegungslos schaut sie in die lodernde Flamme. Ich spreche sie an, ob sie meditiert. Sie sieht mich an und sagt: „Das Leben ist hart und schmerzlich!“ Ich bin völlig überrascht bei diesen Worten und schäme mich fast, dass ich sie angesprochen habe. Ich sage: „Ja, das Leben kann hart und schmerzlich sein.“ Sie: „Meine Freunde haben mich alle verlassen.“ Und sie sieht mich, den Fremden an und hat Tränen in den Augen. Ich verabschiede mich und sage: „Ich wünsche Ihnen sehr, dass das Leben wieder gut zu Ihnen ist.“ Sie sieht mich an und sagt: „Spasiba. Danke“ Und ich sage: „Spasiba“. Und gehe zu den anderen.

Wolgograd (Sarepta), Oktober 2018

Dritter Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018

Unser Seelsorgekurs ist gut zu Ende gegangen. Mit einer feierlichen Überreichung der Diplom-Urkunden. Auf dem Abschlussfoto sehen alle ziemlich stolz und froh aus. Die Urkunden wurden im Rahmen eines Abschlussgottesdienstes in der schönen, alten Herrnhuter Kirche überreicht. Danach war ein gemeinsames Essen im Pfarrgarten angesagt. Früh am nächsten Morgen musste Anna leider schon zurück nach Deutschland fliegen. Ich bin echt froh und dankbar, dass ich die beiden letzten Kursblöcke gemeinsam mit ihr leiten konnte!

Am nächsten Morgen früh um sieben Uhr nehmen Walodja und Alena , Olga und mich in ihrem Auto mit in das etwa 450 km nördlich von Sarepta gelegene Saratow. Walodja und Alena selbst haben die Fahrt weiter bis nach Uljanowsk fortgesetzt, wo sie leben. Die Fahrt bis Saratow dauerte sechs Stunden. (Mindestens weitere 8 Stunden sind es bis Uljanowsk!)

Die lutherische Gemeinde in Saratow hat vor fünf Jahren, die Genehmigung bekommen auf dem Grundstück, auf dem die in der Stalinzeit abgerissene Kirche einmal stand, eine neue Kirche zu bauen. Moderne, interessante Architektur mit viel Beton. Es fehlt noch der Turm, der sich wie eine Nadel zum Himmel strecken soll. Nachdem wir Walodja und Alena verabschiedet hatten, fuhren Olga und ihr Mann Andrej mit mir nach Marx und Engels – zwei alte wolgadeutsche Städtchen. Wir fahren aus Saratow raus über die neue, drei Kilometer lange Brücke über der Wolga nach Marx.

Aus dem Autofenster sehe ich die frisch gepflügten Felder. Sogar aus der Entfernung kann ich sehen, wie fruchtbar der schwarz-braune Boden ist. Und ich verstehe, wie dankbar die hierher zugewanderten deutschen Siedler waren für diesen fruchtbaren Boden, der ihnen Auskommen und Wohlstand ermöglichte. Die Kleinstadt Marx war eine Zeit lang Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik. Wir parken direkt vor der lutherischen Kirche. Eine Baustelle. DieKirche wird gerade restauriert. Für mehr als eine Million Euro. Ein reicher russischer Mäzen, dessen Eltern in Marx gelebt haben, hat alle Kosten für die umfassende Restaurierung übernommen.

Vor der 1917er Revolution hieß die Stadt Katharinenstadt . Von den dort lebenden Wolgadeutschen so genannt nach der Zarin Katharina der Großen, die die Ansiedlung der Deutschen ermöglicht hatte. Ihr Denkmal in der Nähe der Kirche wurde im Krieg eingeschlossen und jetzt als Replik wieder in derselben Größe aufgestellt. Auf einem neuen Sockel, denn die Schrift auf dem alten Sockel wurde weg gemeißelt,

Die Kirche ist ein beeindrucken großes Gebäude. Sie ist ganz weiß. Mit einem separaten Glockenturm. Von außen ist sie schon fertig renoviert, aber das Innere ist noch eine Baustelle.

Über viele Generationen wurden in dieser Kirche Wolgadeutsche getauft, konfirmiert und getraut. Die Kirche hatte früher mehr als eintausend Plätze für eine große Gemeinde. Heute sind es keine dreißig Gemeindeglieder mehr. Wozu dann der Aufwand, die Kirche wiederherzustellen? Aus meiner Sicht ist dies ein Beitrag zur Erinnerungskultur. Auch wenn es heute nur eine verschwindend kleine Gemeinde ist, es bleibt doch durch sie und durch das Kirchengebäude die Erinnerung an eine Gemeinschaft von Gläubigen, die an diesem Ort ihren Glauben gelebt haben.

Inzwischen ist es fast dunkel geworden. Aber die weiße Kirche leuchtet immer noch hell vor dem dunklen Abendhimmel. Mir fallen Worte von Martin Luther ein: Dunkelheit vertreibt nicht durch Dunkelheit, sondern durch Licht , und Hass vertreibt man nicht durch Hass, sondern durch Liebe.

Über der Kirche steht der halbe Mond. Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön; so sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht seh´n.

Auf dem Rückweg machen wir Halt in Engels- Es hat auch heute noch einen kleinen Hafen an der Wolga. Es ist das alte Handelszentrum der Wolgadeutschen gewesen. Viele alte Backsteinhäuser aus der damaligen Zeit stehen noch. Privathäuser. Das Gebäude der höheren Schule (Collegium). Das Haus, wo jetzt das Deutsch-Russische Kulturzentrum untergebracht ist. Neu ist das Denkmal mit dem Bullen und dem Salzgefäß auf seinem Rücken. Mineralsalz wurde in dieser abgebaut und in Engels verschifft.

Ich lade Olga und Andrej zum Abendessen ein in ein nettes Restaurant am Marktplatz von Engels. Nachdem seine Frau Olga ihm so begeistert vom Seelsorgekurs erzählt hat, ist es höchste Zeit für Andrej, die Verhältnisse zurecht zu rücken. Er fragt mich ganz direkt: Bist du nun Pastor oder bist du Psychologe? Ich erzähle ein wenig davon, wie ich selbst zur „Pastoralpsychologie“ gekommen bin und versuche zu erklären, wie sehr das neuere human-wissenschaftliche Denken die Pädagogik, die Sozialwissenschaften und nicht zuletzt die Seelsorge der Kirche bereichert hat. Und wie die Humanwissenschaften in Theorie und Praxis den Glauben nicht ersetzt, sondern auf vielfache Weise befreit und vertieft haben.

Andrej schaut mich weiterhin skeptisch unter seinen buschigen schwarzen Augenbrauen. Die Vorfahren von Andrej sind aus Armenien hierher eingewandert. Andrej hat als Tischler und Autoschlosser in Saratow gearbeitet. Die Begegnung mit Olga brachte eine Wende in seinem Leben. Olga führte ihn zum Glauben und in die lutherische Kirche. Andrej studierte Theologie im kirchlichen Ausbildungszentrum in Nowosaratowka bei St. Petersburg, wurde in Saratow zum Pastor ordiniert und ist seit zwei Jahren hier Propst.

Im Nachtzug nach Samara habe ich im Schlafwagen wieder nur eins der beiden oberen Betten erwischt. Dabei schaffe ich es kaum noch, mich da hoch zu hieven. In den unteren Betten haben sich zwei alte Damen schon bettfein gemacht. Da betritt ein Mann von beträchtlicher Körperfülle die Szene. Im ersten Augenblick freue ich mich, weil ich mir so schlank und rank vorkomme, wie seit langem nicht. Doch dann nimmt dieser Mensch einen kleinen Anlauf und Hoppsa! ist er im oberen Bett gelandet und beginnt sogleich mit seinem Handy zu spielen. Verblüffend. Neid! Ich versuche erneut, die kleine Leiter aufzuklappen, auf der Obenlieger hochklettern können.

Die alte Dame unter mir hat etwas dagegen, dass die Leiter aufgeklappt wird. Die Leiter würde sie doch sehr stören, weil die Leiter sich direkt neben ihrem Kopf befände, und das ginge gar nicht. Ich versuche sie im schönsten mir zur Verfügung stehenden Russisch sie höflich zu bitten, sich mit ihrem Kopf doch bitte an die Fensterseite zu legen. Njet. Ich bitte die Schaffnerin unseres Waggons um Hilfe. Die schafft schnell Klarheit: Kopf immer zum Fenster! Die gute alte Ordnung in den russischen Zügen sieht das so vor. Also um drehen, paschalsta! Andrej, der mich bis in meinen Zug begleitet hatte, versuchte die Schaffnerin dazu zu bringen, für mich einen Schlafplatz unten zu ermöglichen. Aber das schwarze Collarhemd und das große silberne Umhängekreuz des Propsten machten keinen Eindruck auf sie. Also klettere ich wieder einmal mit Mühe in die obere Etage.

Nach überstandener Nacht hole ich mir einen Teebeutel tschorno tschei c tschut tschut moloko – Bitte einen schwarzen Tee mit etwas Milch. Teebeutel und heisses Wasser aus dem großen Samowar im Waggon, das geht immer. Milch war – wie immer – aus. Mit meiner Teetasse setze ich mich in den Gang und schaue aus dem Fenster. Ich muss eine so unglückliche Figur gemacht haben, dass die Schaffnerin mich in ihr Dienstabteil einlud. Hier an ihrem Diensttisch könne ich doch gerne meinen Tee trinke. Ich habe die bevorzugte Behandlung natürlich zu schätzen gewusst. Gleichzeitig habe ich daran gedacht, dass sowohl mein Großvater wie auch schon mein Urgroßvater väterlicherseits Lokomotivführer waren. Wir Eisenbahner sind doch eine Familie….

In Samara werde ich vom Hausmeister der Lutherischen Kirche mit dem Auto abgeholt und zu meinem Hotel gebracht. Am nächsten Vormittag bin ich mit Karin verabredet. Eine Sozialarbeiterin aus dem Schwäbischen. Sie hat unbezahlten Urlaub genommen, um hier in Samara mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die in Russland als „behindert“ bezeichnet werden. Zum Beispiel Jugendliche mit Down-Syndrom oder Jugendliche mit epileptischen Anfällen. Mir fällt auf, dass man oft auch von jugendlichen „Autisten“ spricht, die als problematisch gelten.

Wenn die Jugendlichen ihr 18. Lebensjahr vollendet haben, bekommen sie keinerlei Hilfen mehr von staatlicher Seite. Die Mehrzahl von ihnen ist auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Sie hängen dann mehr oder weniger zu Hause herum. Sie sind vollkommen auf die Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie angewiesen. Konkret heißt dies: Wenn beide Eltern berufstätig sind – was in der regel der Fall ist – sind die Jugendlichen den ganzen Tag sich selbst überlassen.

Die Pastorin der benachbarten lutherischen Kirchengemeinde in Togliatti hat angesichts dieser Problemlage berufsbegleitend ein Studium in Sonderpädagogik gemacht. Aufgrund dieser Zusatzqualifikation bietet sie für etwa 15 dieser Gruppe von Jugendlichen ein besonderes Angebot an. Es besteht aus einer Mischung aus handwerklicher Tätigkeit, Sport und Bewegung und Gruppengespräch. In der lutherischen Kirche in Samara gibt es einen ebenso großen Bedarf für ein solches Angebot. Für drei Monate ist jetzt Karin für eine Gruppe von zwölf Jugendlichen tagsüber mit ihren Angeboten da. Darunter vor allem ein tanz-therapeutisches Angebot. Die Jugendlichen sind begeistert – und ihre Eltern auch. Aber wenn Karin zurück in Deutschland ist, wird es kein ähnlich qualifiziertes Angebot geben. Weder in personeller noch in finanzieller Hinsicht gibt es die Möglichkeit, das Angebot fortzusetzen. Und niemand weiß, wie es weitergehen kann.

Samara, Oktober 2018

Vierter Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018

In Samara werde ich vom Hausmeister der Lutherischen Kirche mit dem Auto abgeholt und zu meinem Hotel gebracht. Am nächsten Vormittag bin ich mit Karin verabredet. Eine Sozialarbeiterin aus dem Schwäbischen. Sie hat unbezahlten Urlaub genommen, um hier in Samara mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die in Russland als „behindert“ bezeichnet werden. Zum Beispiel Jugendliche mit Down-Syndrom oder Jugendliche mit epileptischen Anfällen. Mir fällt auf, dass oft auch „Autisten“ als problematisch genannt werden. Ich habe nicht genauer herausfinden können, was damit konkret gemeint ist. Meine Phantasie ist, dass damit Jugendliche gemeint sind, die „auffällig“ sind.

Wenn die Jugendlichen ihr 18. Lebensjahr vollendet haben, bekommen sie keinerlei Hilfen mehr von staatlicher Seite. Die Mehrzahl von ihnen ist auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Sie hängen dann mehr oder weniger zu Hause herum. Sie sind vollkommen auf die Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie angewiesen. Konkret heißt dies: Wenn beide Eltern berufstätig sind – was in der regel der Fall ist – sind die Jugendlichen den ganzen Tag sich selbst überlassen.

Die Pastorin der benachbarten lutherischen Kirchengemeinde in Togliatti hat angesichts dieser Problemlage berufsbegleitend ein Studium in Sonderpädagogik gemacht. Aufgrund dieser Zusatzqualifikation bietet sie für etwa 15 dieser Gruppe von Jugendlichen ein besonderes Angebot an. Es besteht aus einer Mischung aus handwerklicher Tätigkeit, Sport und Bewegung und Gruppengespräch.

In der lutherischen Kirche in Samara gibt es einen ebenso großen Bedarf für ein solches Angebot. Für drei Monate ist jetzt Karin für eine Gruppe von zwölf Jugendlichen tagsüber mit ihren Angeboten da. Darunter vor allem ein tanz-therapeutisches Angebot. Die Jugendlichen sind begeistert – und ihre Eltern auch. Aber wenn Karin zurück in Deutschland ist, wird es kein ähnlich qualifiziertes Angebot geben. Weder in personeller noch in finanzieller Hinsicht gibt es die Möglichkeit, das Angebot fortzusetzen. Und niemand weiß, wie es weitergehen kann.

Karin hat mich den ganzen Vormittag durch das alte Zentrum von Samara geführt. Zum schönen alten Wohnhaus des Schriftsteller Alexej Tolstoi – einem Verwandten des berühmteren Leo Tolstoi. A. Tolstoi lebte einige Jahre in Paris und Berlin und kehrt Anfang der 20er Jahre in das stalinistische Russland zurück. Im Jahre 1935 veröffentlichte er das Märchen Der goldene Schlüssel oder die Abenteuer des Pinoccio, das ein in Russland und darüber hinaus bekanntes Kinderbuch wurde. Die Vorgeschichte zu diesem Kindermärchen beginnt 1883. Damals veröffentlichte der Italiener Carlo Collodi die Geschichte über eine Holzpuppe mit einer langen Nase, die allerhand Unfug anstellt und am Ende in einen Menschen verwandelt wird.

Alexej Tolstoi nimmt diese Veröffentlichung zur Grundlage einer eigenen Version der Geschichte, die er 1936 als Theaterstück verfasst. In die lustige Kindergeschichte flechtet er eine sozial- und gesellschaftskritische Botschaft ein. Eine Weiterentwicklung vom Fabulösen zur Sozialsatire bzw. zum politischen Lehrstück. Drei Jahre später kommt das Märchen als Zeichentrickfilm in die Kinos der UdSSR. Die Kameras zeigen Bilder von verwahrlosten Kindern und der Goldene Schlüssel öffnet die Tür in ein Land wo es keine ausbeuterische Unterdrückung gibt und wo Kinder glücklich leben können: in der UdSSR. Im selben Jahr (1939) und unabhängig von einander entsteht Walt Disneys Zeichentrickfilm „Pinoccio“.

In den Kino der sowjetischen Besatzungszone wird der Film 1949 gezeigt und erobert die Herzen der Kinder. Wenn man die Sowjet-Propaganda einmal ausblendet, gilt die Verfilmung dieses Märchens durch den berühmten russischen Regisseur Alexander Ptuschko in der Retrospektive als ein Meisterstück in der Filmgeschichte.

Karin führt mich auch zum Stalinbunker: In einem Hinterhof, gleich gegenüber dem Dramatischen Theater, dem großen orthodoxen Frauenkloster und der daneben liegenden Deutschen Bierbrauerei wurde für Stalin das Gegenstück zum „Führerbunker“ in 34 Meter Tiefe bombensicher gebaut. Sogar die Nachbarn sollen von den Bauarbeitern nichts gemerkt haben, weil die Entsorgung der Erde durch unterirdische Kanäle weit entfernt erfolgte. Es gab viele unterirdische Kanäle und Ausgänge, die zur Flucht bis an das nahe gelegene Wolga-Ufer führten. Die gesamte Regierung und zentrale Verwaltungsbehörden wurden beim Anrücken der Deutschen Wehrmacht nach Samara verlegt. Östlich der Wolga und tief im Landesinneren. Ich habe gerne darauf verzichtet, dieses Angst-/Machtobjekt zu besichtigen.

In Samara gab es zur sowjetischen Zeit nur noch zwei „arbeitende“ orthodoxe Kirchen. Die lutherische Kirche wurde selbstverständlich auch zweckentfremdet. Bei meinem Spaziergang durch Samara hatte ich den Eindruck, dass mir diese Stadt an der Wolga freundlich und liebenswert entgegen kommt. Mich haben die vielen kleinen Theater überrascht und die Bereitschaft der Menschen, denen ich hier begegnet bin, sich mit der Geschichte kritisch und unerschrocken auseinanderzusetzen. Im alten Zentrum finden sich viele schöne Häuser, die vor uns nach der Jahrhundertwende entstanden sind. Es gibt nette, kleine Kneipen und Cafés in der Fußgängerzone, in der man angenehm flanieren und die Auslagen der üblichen Verdächtigen wie Gucci und Versace betrachten kann.

Nach meiner Ankunft mit dem Zug am frühen Morgen hatte ich gerade ein paar Stunden Zeit bis zur Bibelstunde, die ich auf die Bitte der Pröpstin hin versprochen hatte, zu übernehmen, weil sie einen auswärtigen Termin wahrnehmen musste. Vor Beginn der Bibelstunde war ich zum Mittagessen mit den Mitarbeitern der Gemeinde eingeladen. Es fand in der gemütlichen, großen Küche des Kirchenzentrum statt. Eine hinreißend freundliche Gemeinde-Köchin hatte für die 6 – 8 Mitarbeitenden in der Gemeinde das Mittagessen zubereitet. Ein Gemeinschaftsessen, das hilft, den Arbeitsalltag zu unterbrechen. Wunderbar!

In der Bibelstunde warten zehn betagte Babuschkas auf mich sowie ein junger Mann, von dem ich vermutete, dass er Student war und nicht wirklich hierher gehörte. Ich wurde herzlich und offen begrüßt. Mir war schnell klar, dass ich erfahrene und geübte Bibelstunden-Expertinnen vor mir hatte, die sich auch gegenüber Überraschungsbesuchern aus Deutschland unbeeindruckt zeigten.

Als biblischen Text habe ich die bekannte Geschichte vom Barmherzigen Samariter mitsamt Rahmenerzählung aus dem Lukasevangelium (Lk 10, 26-37) ausgesucht. In der vorangehenden Rahmenerzählung geht es darum, dass Jesus gefragt wird, was ein Mensch tun muss, um das ewige Leben zu haben. Jesus antwortet so darauf, dass er die Fragestellung verändert: Woran erkennt man, dass Gott einem Menschen im konkreten Alltagsgeschehen nahe ist (und nicht erst im Himmel)? Er tut dies mit der berühmten Beispielgeschichte vom Barmherzigen Samariter, in der die Vertreter der etablierten Religion keine gute Figur machen.

Der junge Mann, der sich direkt neben mir seinen Platz gesucht hatte, verfolgt interessiert, wie ich den biblischen Text verstehe und wie ich versuche, ihn lebensnah zu deuten. Nach der Bibelstunde spreche ich ihn an.. Es stellt sich heraus, dass er tatsächlich studiert: Geschichte und Deutsch. Allerdings an einer Universität, die weit entfernt liegt. Er hat gerade frei und ist eher zufällig in diese Bibelstunde geraten. Ob ich ihm wohl eine deutsch-sprachige Bibel beschaffen könne. Ich habe die Sprecherin der Bibelstunde gebeten, dem Studenten eine deutsch-sprachige Luther-Bibel aus den Beständen der Gemeinde zu überlassen.

Schon in Wolgograd war mir aufgefallen, dass der Besitz einer eigenen Bibel oder einer Familien-Bibel für viele eine Kostbarkeit ist. . Das hat meine Einstellung zur Arbeit von Bibelgesellschaften in Deutschland verändert. Ich habe verstanden, dass ihre Arbeit immer noch wichtig ist. Anders als für uns, die wir jederzeit für wenig Geld eine aktuelle Ausgabe der Bibel erstehen können, sehnen sich viele Menschen anderswo über Jahre danach, eine persönliche Bibel zu besitzen und sie selbst studieren zu können.

Die Pröpstin und Präsidentin der Synode, Olga hat mich zum Mittagessen eingeladen. Olga ist eine Persönlichkeit. Sie hat durchaus eine Machtposition in der Lutherischen Kirche in Russland. Und sie ist sich dessen bewusst. Wir haben vor allem über die Situation, die aktuellen Bedürfnisse und die Zukunft der Gemeinde in Samara gesprochen. Über den gerade abgeschlossenen Seelsorgekurs haben wir dagegen kaum gesprochen.

Olga ist eine hervorragende Managerin und Expertin im Hinblick auf Fundrising. Sie versteht es , Menschen und Geld zu zusammen zu bringen und einzusetzen, um die Arbeit in ihrer Gemeinde und im Kirchenkreis zügig voran zu bringen. Seelsorge hat in ihren Planungen keine Priorität. Es war eine gute und interessante Begegnung. Olga hat mich mit dem Taxi bis zum Bahnhof begleitet und dort mit mir auf das Eintreffen meines Zuges gewartet. Ich habe verstanden, dass dies ein Zeichen der Wertschätzung gewesen ist.

Ich sitze im Nachtzug von Samara nach Moskau. Fünfzehn Stunden Zugfahrt liegen vor mir. Ich bin schon in vielen Zügen durch Russland gereist – aber dies habe ich noch nicht erlebt: Mein kleines russisches Reisebüro in Hannover hatte für mich ein Zwei-Bett-Abteil reserviert. Als erstes werde ich persönlich von der Schaffnerin mit Tee begrüßt. Dann wird mir von einer anderen Zugbegleiterin die Menü-Karte überreicht mit der Bitte, meine Speise- und Getränkewünsche zu nennen. Das Abteil ist schlicht und praktisch eingerichtet. Inklusive funktionierendem Fernseher.

So komfortabel bin ich noch nie in Russland gereist! Nach der Abreise stellt sich heraus, dass ich das Abteil ganz allein für mich habe. Man kann Luxus auch genießen – und es fällt gar nicht so schwer, sich daran zu gewöhnen…

In Moskau bin ich mit Aljona verabredet. Sie ist Pastorin für die deutsch-sprachige Gemeinde in Moskau. Und sie ist gerade dabei, in Deutschland eine mehrjährigen theoretische und praktische Weiterbildung als Pastoralpsychologin und Supervisorin abzuschließen. Sie spricht fließend Russisch. Die ersten Jahre ihres Lebens hat sie mit ihren Eltern in Moskau gelebt. Aljona hat zwischen den jeweils zehntägigen Blöcken unseres Seelsorge-Kurses für die Teilnehmenden kurs-begleitend Supervision angeboten. Die Teilnehmen waren von ihr und ihrer Arbeit sehr angetan.

Aljona und ich waren uns bisher noch nicht begegnet. Waren nur im Email-Kontakt miteinander. Aljona hatte ein ganz hervorragendes marrokanisches Restaurant ausgesucht, das inmitten eines Fabrigeländes aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag. Und nicht nur das von uns besuchte Restaurant gab es hier, sondern viele Kneipen, Musikschuppen und in der Moskauer Szene angesagte Angebote. Toll! Im Hintergrund sieht man die neue Skyline von Moskau mit ihren modernen Wolkenkratzern. Für mein architektonisches und ästhetisches Empfinden: genial!

Aljona und ich haben Zukunftspläne geschmiedet für die Entwicklung einer eigenständigen Weiterbildung in Seelsorge, Beratung und Supervision für die Russische Lutherische Kirche. Es sieht so aus, dass Aljona gemeinsam mit einigen von mir ausgebildeten russischen Kolleginnen und Kollegen in den nächsten Jahren Fortbildungen anbieten wird. Vor einem Jahr haben einige aus unserem Kurs einen Seelsorge-Verein gegründet, dessen Aufgabe es ist, in der Lutherischen Kirche in Russland die Seelsorge als einen wichtigen Pfeiler zu verankern. Ich freue mich sehr über diese Entwicklung und hoffe auf gutes Gelingen mit Gottes Hilfe.

Am Tag vor meiner Rückreise habe ich die alte, berühmte Stadt Wladimir besucht. Zweieinhalb Stunden Zugfahrt Richtung Osten. Wladimir ist eine der Städte des sogenannten „Goldenen Rings“. Wie Perlen auf einem Band reihen sich mehrere Städte aus dem 11. und 12. Jahrhundert um Moskau herum. Wladimir war im 12., Jahrhundert einmal das Zentrum von Staat, Kultur und Kirche. Innerhalb kurzer Zeit wurden in Wladimir kolossale Bauvorhaben verwirklicht: die große Mariae-Himmelfahrts-Kathedrale mit ihren vielen goldenen Kuppeln, das Goldene Tor, die Paradeeinfahrt zur Stadt und die Demetrius-Kathedrale – die Palastkirche des Wladimirer Fürsten aus dem 12. Jahrhundert.

Die Demetrius- Kathedrale ist nicht groß, aber sie übt mit ihrer schlichten und doch monumentalen Majestät eine große Wirkung auf den Betrachter aus. Besonders beeindruckend ist die mit Reliefs reich verzierte Eingangsseite. Die dort aus weißem Stein gehauenen Reliefs stellen unter anderem Löwen, Zentauren und Schneeleoparden dar. Auch Motive aus der antiken Mythologie und Szenen aus der Regierung König Davids.

Angesichts der vielen goldenen Kuppeln von Wladimir ist ein ein beeindruckender, wundervoller Abschluss meiner Russlandreise.

Moskau, Oktober 2018

Sarepta und die Kalmyckische Steppe, Mai 2019

Bericht vom Kurs „Seelsorglicher Umgang mit psychisch erkrankten Menschen“

in Sarepta b. Wolgograd und einer Reise nach Astrachan und Kalmyckien.

Wieder einmal Russland und wieder einmal Wolgograd. Genauer: Sarepta. Hier in der 1765 gegründeten Anlage der Herrnhuter Brüdergemeinde fand der Kurs statt. Wieder unter der Leitung von Dr. Anna Christ-Friedrich und mir. Dieses Mal waren es ganz überwiegend Gemeindeglieder aus verschiedenen Gemeinden der Region, die teilnahmen. Eine Pastorin aus Astrachan und ein Pastor von der Krim nahmen teil. Am Ende des einwöchigen Kurses haben alle Teilnehmenden im Rahmen eines Abschluss-Gottesdienstes ihre Zertifikate überreicht bekommen.

Der Kurs war kompakt und intensiv. Eine Anstrengung und Herausforderung für Teilnehmende und Leitung. Aber ein ausgesprochen erfolgreiches und zufriedenstellendes Unternehmen.

Als Beispiel für die Art unseres Arbeitens im Kurs dieses Gedächtnisprotokoll eines Seelsorge.Gespräches, das eine Teilnehmerin geführt hat.

Verbatim T.

Nach dem Gottesdienst kam eine Frau (A.) aus unserer Gemeinde auf mich zu und fragte, ob ich Zeit hätte, mit ihr zu sprechen, sie brauche meine Hilfe. Ich sagte, dass ich Zeit hätte. Wir sind dann in ein Zimmer gegangen, in dem wir ungestört sprechen konnten. Ich kenne A. schon längere Zeit. Wir sprechen einander mit Vornamen und Sie an. Was ich von A. schon vorher wusste: A. ist 83 Jahre alt. Sie ist immer regelmäßig in den Gottesdienst gekommen. Meistens in Begleitung hres Sohnes (Alex, 55 Jahre alt) und seiner Frau. Sie leben in der Nähe von A. Frau A. lebt allein. A. hat bis vor einiger Zeit immer aktiv am Gemeindeleben teilgenommen, aber jetzt hat sich ihre Gesundheit verschlechtert. Sie hat Probleme mit dem Herzen, sagt sie. Sie kommt nur noch selten in die Kirche. Ihr Sohn und seine Familie sorgen für Amalia. Sie besuchen A. regelmäßig, bringen ihr Lebensmittel und helfen auf jede Weise.

Ich (1). Ich weiß, dass Sie kürzlich krank waren und sogar im Krankenhaus lagen. Wie fühlen Sie sich jetzt? Womit kann ich helfen?

A (1). Ja, mir ging es sehr schlecht. Ich lag mal im Krankenhaus, mal war ich wieder zu Hause. Rein und raus. Ständig wurde der Krankenwagen gerufen. Ich habe mich viel untersuchen lassen und dafür einen Haufen Geld ausgegeben. Aber die Ärzte finden bei mir nichts Ernsthaftes, sagen sie. Und sie sagen, dass alle Veränderungen dem Alter entsprechen. Aber es geht mir häufig sehr schlecht: der Blutdruck ist mal zu hoch und dann sofort zu niedrig. Und in einem solchem Augenblick scheint es mir, dass meine Gefäße gleich platzen und ich sterbe. Und jetzt ist ja niemand mehr bei mir…

Ich (2). Was Sie durchmachen, ist sehr schwer für Sie. Es geht Ihnen einfach schlecht. Aber ich verstehe nicht, wenn Sie sagen, Sie seien allein. Sie haben doch Ihren Sohn und seine Familie….

A (2). Genau wegen ihm bin ich gekommen, ich bin so gekränkt und ärgerlich auf ihn, dass ich gar nicht weiß, was ich damit machen soll und wie ich damit leben kann. Sobald ich an ihn denke, beginnt gleich ein Anfall. Ich möchte ihm gar nicht mehr begegnen, weil er mich so gekränkt hat.

Ich (3) Kränkung ist ein ganz und gar furchtbares Gefühl. Es bringt Schmerzen und Bitterkeit ins Herz und hat die Eigenschaft, sich auszuweiten.

A (3). Sich ausweiten! Ja, genau das ist es, was ich auch fühle. Das Ganze hat vor langer Zeit angefangen. Ich habe einen Bruder (Wladimir, 77 Jahre), er war in unserer Familie der Jüngste, und Mama hat ihn von Kindheit an immer geschont und behütet. Und sogar als sie im Sterben lag hat unsere Mutter meinen älteren Bruder und mich angewiesen, für unseren jüngeren Bruder immer zu sorgen und ihm zu helfen. Mein älterer Bruder ist längst gestorben, und ich sorge nun schon seit mehreren Jahre allein für meinen kleinen Bruder.

Wolodja war in seiner Jugend sehr gut aussehend und ausgesprochen gutmütig. Aber dann hat der Alkohol ihn verdorben. Er ist sozusagen ein großer Freund vom Trinken. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Aber wegen seiner Vorliebe für das Trinken hat seine Frau sich von ihm scheiden lassen, da sie seine Trinktouren und Ehebrüche nicht länger erdulden konnte und wollte. Jetzt hat auch eine seiner zwei Töchter keinen Kontakt mehr mit ihm.

Wolodja lebt in meiner Nähe in einer eigenen Wohnung. Obwohl – was für ein Eigentum ist das jetzt noch für ihn? Eine seiner Töchter kann es gar nicht erwarten, dass er stirbt, weil sie die Wohnung schon lange auf sich hat umschreiben lassen . Walodja hat nur noch Wohnrecht dort.

(An dieser Stelle verstummt A., senkt den Blick und beginnt zu weinen. Ich berührte ihre Hand und gebe ihr ein Taschentuch. Einige Zeit weint sie noch, dann sage ich leise zu ihr:)

Ich(4) Ja, A., das, was Sie mir jetzt erzählen, ist sehr schwer für Sie. Unsere eigenen Verwandten sind es oft, die uns Probleme machen. Und jeder hat seinen eigenen Charakter….

A. 4 (sieht mich mit ihren himmelblauen, müden Augen an). Ja, und mein Sohn hat auch seinen eigenen Charakter. Einen problematischen Charakter. Das sehe ich an seiner Einstellung zu seinem Onkel Walodja. Mein Bruder Wolodja ist natürlich im Leben ungeraten, aber ich habe ihm auf jede Weise geholfen, solange ich die Kräfte hatte. Er hatte kürzlich einen Schlaganfall, und jetzt kann er kaum gehen, aber eine Gesellschaft aus kleinen Säuferinnen lässt er immer herein. Es kommen ein, zwei dieser Frauen – jung im Vergleich zu ihm – machen den Dummkopf betrunken, stehlen ihm Geld aus seiner kleinen Rente – und laufen weg. Mal stehlen sie das Handy, mal etwas anderes.

Ich habe früher die Polizei gerufen, und die eine Säuferin hat wegen des Diebstahls seines Handys einmal ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen, aber dann begann er wieder sie herzubringen, er sagt, er brauche sie, mit diesen Frauen ginge es ihm gut. Der alte Dummkopf!

Ich(5) A, habe ich Sie richtig verstanden, dass sie am Anfang gesagt haben, Ihr Sohn hätte einen problematischen Charakter?!

A (5) Ja, einen sehr problematischen Charakter. Wegen Wolodja habe ich mich mit meinem Sohn zerstritten. Ich war nämlich ganz bettlägerig geworden und bat meinen Sohn, zu Wolodja zu gehen, um Lebensmittel zu kaufen und sie ihm zu bringen. Aich ein bisschen seine Wohnung zu putzen. Er ist doch sein Onkel. Geld gibt mir Wolodja nicht, da diese kleinen Säuferinnen immer das Geld von seiner Rente stehlen.

Also habe ich meinem Sohn etwas Geld zugesteckt und zu ihm gesagt: Geh nach der Arbeit wenigstens für ein paar Minuten am Tag zu Walodja hin. Wenn du die Säuferinnen siehst, jage sie weg. Und wenn es nötig ist, koche ihm etwas zu essen, denn er kann es ja selber nicht. Also, mein Sohn ging einige Tage lang hin, und dann erklärte er mir, es fiele ihm schwer, zu ihm zu gehen. Er werde das nicht weiter tun. Man müsse ihn in ein Altenheim geben.

Ich (6) Sie haben auf diese Aussage Ihres Sohnes gekränkt und zornig reagiert?

A (6) Natürlich! Das ist also mein Sohn! In der Zeit, als es mir gesundheitlich schlecht geht bitte ich ihn, sich um Walodja zu kümmern. Aber was tut er? Er verweigert sich! Als er mir das mitteilte, wurde ich unmittelbar durch einen neuen Anfall von Bluthochdruck wieder ganz krank und bettlägerig. So einen Sohn habe ich also aufgezogen! Für wen habe ich bei der Geburt so viel ausgehalten! Alles habe ich nur für ihn getan, Und so vergilt er es mir im Leben. Ich möchte keine Gemeinschaft mehr mit ihm haben. Ich bin in der Seele gekränkt von seinen Worten! Wer soll denn jetzt für Wolodja sorgen?

Ich (7) Amalia, aber ist es nicht so, dass Ihr Sohn immer gut für Sie gesorgt hat? Sie regelmäßig besucht hat, wenn es Ihnen schlecht ging und Sie immer zum Gottesdienst begleitet hat?

A (7) Ja, das stimmt. Wenn es mir schlecht ging, rief ich ihn an und er fuhr natürlich zu mir. Mal er, mal meine Schwiegertochter. Sie übernachteten oft bei mir. Mal riefen sie den Krankenwagen, mal kochten sie. Natürlich hat er mir geholfen. Ich bin ja schließlich seine Mutter und habe so viel im Leben für ihn getan.

Ich (8) Amalia, was meinen Sie: Warum will Ihr Sohn seinen Onkel in einen Altenheim geben? Warum fällt es ihm schwer,zu ihm zu gehen? Können Sie denn nicht die Gefühle Ihres Sohnes verstehen? Natürlich sind Sie für ihn die Mutter. Natürlich haben sie viel für ihn getan. Mein Eindruck ist auch, dass er Sie liebt und schätzt und für Sie sorgt. Sie betreut, wenn es Ihnen schlecht geht. Vielleicht ist für ihn der Lebensstil seines Onkels nicht länger akzeptabel! Es fällt ihm schwer, immer wieder seinen Onkel zu besuchen und alles hinzunehmen.

(A. sieht mir direkt in die Augen. Die Pause zieht sich in die Länge. A. Denkt über etwas nach.)

A (8) Ich habe nie vorher darüber nachgedacht. Ich begreife nur, dass das Gefühl der Kränkung sehr schlecht für mich ist und sich auf meine Gesundheit auswirkt. Womöglich ist es eine Sünde, so gekränkt zu reagieren? Über das Verhalten des eigenen Sohnes! Ich bin zu Ihnen in die Kirche gekommen, um dafür zu beten, dass Gott mir hilft, mit dieser Situation zurechtzukommen.

Ich (9) Wenn Sie wollen, können wir jetzt gleich beten und Gott bitten, Ihnen zu helfen, sich in Ihren Gefühlen zurechtzufinden. Denn es fällt Ihnen schwer, mit der Kränkung im Herzen zu leben. Das macht Sie auf Dauer krank, und das spüren Sie.

Unser Gespräch endete mit einem Gebet.

Auszüge aus der Arbeit an diesem Gespräch:

Die Seelsorgerin T. führt ein Gespräch mit der 83 Jahre alten Frau A. , die sie als Gemeindeglied und regelmäßige Gottesdienstbesucherin schon seit längerem kennt. Sie führt das Gespräch respektvoll und einfühlsam. In diesem Gesprächsbeispiel wird ein wichtiges Thema in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft sichtbar: nämlich die Rolle der alten Babuschkas. Sie sind für viele junge Familien unverzichtbar im Hinblick auf die Betreuung der Enkelkinder. Aber es wohnen auch viele Kinder – oft auch noch nach der Heirat – bei den Eltern. Das heißt meistens: bei den Müttern. In den großen Städten ist es sehr schwer für eine junge Familie eine eigene Wohnung zu finden. So rückt man zusammen – mit allen zwischenmenschlichen Problemen die dies mit sich bringt.

Erwachsene Kinder und junge Familien bleiben dadurch über lange Zeit abhängig von den Eltern, die Wohnungs-Eigentümer sind. Manchmal, wie im Falle von Walodja werden die Kinder schon als Eigentümer registriert und die Eltern behalten nur das Wohnrecht. Die Bedeutung, aber auch die Macht der Mütter ist oft groß. Sie erwarten von ihren Kindern Dankbarkeit und konkrete Hilfe im Alter. Da staatliche soziale Hilfen nur unzureichend vorhanden sind, müssen die erwachsenen Kinder oft die Versorgung ihrer alten Eltern leisten.

In diesem Gespräch geht es auch um das Thema Alkoholabhängigkeit. Ein großes Thema in der Gesellschaft. Von den meisten wird Alkoholmissbrauch nicht als Krankheit verstanden, sondern als „normal“ und jedenfalls als individuelles Problem. Oft stehen Ehefrauen und Kinder hilflos da gegenüber dem Problem und agieren als „Co-Abhängige“ mit.

Dies tut auch Frau A. Gegenüber ihrem „kleinen Bruder“, der auch im hohen Alter keine eigene Verantwortung für sein Leben übernehmen will und wohl auch nicht (mehr) kann. Der Sohn von Frau A. erweist sich – anders als seine co-abhängige Mutter – als klar und verantwortungsvoll. Gleichzeitig erfüllt er seine „Sohnes-Pflichten“.

In welchem Maß Frau A. In die Sucht ihres Bruders mit verwickelt ist, zeigt sich in diesem Gespräch sehr eindrucksvoll. Aus Enttäuschung und Kränkung – wendet sie sich von ihrem Sohn ab und riskiert, dass er dies auch seinerseits tut. Am Ende des Gespräches gelingt es der Seelsorgerin, Frau A. zum Nachdenken über ihr Handeln zu bringen. Eine tiefer gehende seelsorgliche Arbeit mit Frau A., insbesondere der Blick auf ihre Kindheit wäre angesichts ihres hohen Alters gar nicht angemessen.

Arbeitstreffen der Kursleiter und -Leiterinnen

Am Tag darauf gab es ein Treffen der der aktuellen und zukünftigen KurleiterInnen und derjenigen, die mit der Organisation von Seelsorgekursen in Russland befasst sind. Wir haben sechst Stunden intensiv und gut miteinander gearbeitet und beschlossen, dass die Kurse künftig verkürzt angeboten werden: statt bisher in dreimal 10 Tagen jetzt nur noch in dreimal 5 Tagen. Wurde die Vergleichbarkeit mit einem herkömmlichen sechswöchigen Seelsorgekurs im Rahmen der Klinischen Seelsorgeausbildung in Deutschland aufgegeben. Für die russische Situation ist diese Vergleichbarkeit jedoch nicht unbedingt nötig. Vielmehr geht es darum, durch die zeitliche Verkürzung das Angebot an den realen Gegebenheit der lutherischen Gemeinden in Russland auszurichten.

Für den nächsten zeitlich in drei Blöcke aufgeteilten „Langzeitkurs“ (dreimal 5 Tage) haben wir wieder Sarepta als Ort festgelegt. Die Kursleitung wird in den ersten beiden Blöcken in der Hand von Pastorin Aljona Hofmann und mir liegen. Aljona Hofmann ist zur Zeit Pastorin in der Deutschen Botschaftsgemeinde in Moskau. Sie hat ihre Seelsorgeausbildung abgeschlossen und auch ihre Ausbildung zur Supervisorin (Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie, DGfP). Den dritten Kursblock werden wieder Anna und ich leiten.

Außerdem soll es wieder zwei einwöchige Kurse zu speziellen Themen geben. Zum einen einen Kurs in 2021 mit dem Thema „Bedeutung von Individuum und System“ – ebenfalls unter der Leitung von Anna und mir. Und ebenfalls in 2021 einen Kurs zum Thema „Palliativ-Seelsorge“. Außerdem ist ein weiterer Langzeitkurs in 2022 geplant. Ich will dem lieben Gott nicht vorgreifen, aber ich gehe davon aus, dass spätestens dann auch meine Zeit für Kursleitung in der russischen Kirche zu Ende sein wird. Dann hätte ich über zwölf Jahre Seelsorgekurse in der Lutherischen Kirche in Russland angeboten und wäre dort in jedem dieser Jahre an verschiedenen Orten (Omsk, Krasnojarsk, St. Petersburg und Wolgograd) in Sachen Seelsorgeausbildung tätig gewesen. Ich hoffe natürlich, dass ich Anstöße gegeben habe für eine eigenständige Entwicklung der Seelsorgeausbildung in der Russischen Lutherischen Kirche.

Auf der Ebene der Kirchenleitungen in Moskau (ELKER) und Omsk (ELKUSFO) hat es leider bisher kaum Unterstützung gegeben. Seelsorge ist einfach nicht spektakulär genug. Aber so war es über lange Zeit auch in den Kirchen bei uns.

Seelsorgeverein und Seelsorgeausbildung in der Russischen Lutherische Kirche

Vor zwei Jahren haben KursteilnehmerInnen einen Seelsorgeverein in der Evanglisch Luthrischen Kirche im Europäischen Russland (ELKER) gegründet. Es gibt einen gewählten Vorstand, eine Vereins-Satzung und eine Beschreibung der Ausbildungs-Standards. Aber der Enthusiasmus über die Wirksamkeit einer solchen von der Basis her organisierten Initiative hält sich in Grenzen. Wie mein amerikanischer Freund und Kollegen, der seit vielen Jahren in der Lutherischen Kirche in Russland tätig ist, mit einer Russin verheiratet ist, fließend Russisch spricht und sowohl als Superintendent wie auch als Weiterbildner in der Kirche tätig ist habe auch ich den Eindruck, dass Basisinitiativen in der russischen Gesellschaft und auch in der Lutherischen Kirche selten vorkommen und wenig Unterstützung finden.

Noch immer scheint das Gift eines autoritären Staates in der Gesellschaft und bei einzelnen Menschen zu wirken. Lieber sich bedeckt halten und bei Gefahr den Kopf einziehen als zuversichtlich gemeinsam die eigene Sache voranzutreiben.

Der Bericht eines Kursteilnehmers über seine Kirchenleitung hat mich besonders erschüttert, weil ich ihn seit langem kenne und schätze. Dieser Teilnehmer ist nach einer Tumor-Operation halbseitig gelähmt. Er gilt als schwerbehindert (Kategorie I). Die staatliche Gesetzgebung sieht für Menschen mit dieser Form der Behinderung keine steuer-wirksame Tätigkeit aufgenommen werden kann und darf. Also auch nicht in der Kirche als Arbeitgeber.

Dieser junge Pastor ist erst 37 Jahre alt und möchte sich – nach erfolgreichen Reha-Maßnahmen, aber bei bestehender Halbseitenlähmung – gerne weiter als Pastor arbeiten. Und das tut er auch. In der Gemeinde, die er aufgebaut hat. Der Neubau einer Kirche ist fast abgeschlossen. Die Menschen in der Gemeinde schätzen und lieben ihn. Es hat für sie keine Bedeutung, ob ihr Pastor offiziell gar nicht tätig sein kann. Er macht es eben ehrenamtlich, wie sie selbst auch.

Für seinen Lebensunterhalt bietet er Kurse an der örtlichen Universität an und hat andere Tätigkeiten auf Honorarbasis aufgenommen. Von einem Unterstützungskreis aus Deutschland bekommt dieser junge Pastor eine monatliche Unterstützung, die für den Lebensunterhalt zwar nicht ausreicht, aber wichtig ist. Aus für mich nachvollziehbaren Gründen hat er nach langem Zögern jetzt die Scheidung eingereicht. Daraufhin hat die Kirchenleitung ihm gedroht, die Rechte aus seiner Ordination zu entziehen.

Wo enge Moralvorstellungen und autoritäres Leitungsverhalten das menschliche Miteinander im Sinne des Evangeliums konterkariert, ist Einhalt geboten. Die Frage ist nur: von wem? An diesem Beispiel wird für mich deutlich, dass die Lutherische Kirche in Russland nicht nur die Seelsorgeausbildung stärker unterstützen, sondern insgesamt seelsorglicher werden muss.

Manche sagen, dass die Lutherische Kirchenleitung in Russland in der Anfangszeit (seit 1991)im Vergleich zu den einzelnen Gemeinden als eher schwach wahrgenommen wurde, sich dies aber gerade umkehrt. Die Kirchenleitung scheint auch dort und manchmal gerade dort durchsetzungsstark aufzutreten, wo einzelne Gemeinden und ihre Pastoren sich als besonders kreativ und eigenverantwortlich erweisen.

Dies zeigt sich für mich am Beispiel der lutherische Kirche auf der Krim. Ein heißes Thema. Weil es letztlich um die Frage geht, wie sehr Kirche sich mit politischen Interessen verbündet bzw, wie sie sich von politischen Interessen fernhalten kann und sollte. Die lutherischen Gemeinden auf der Krim sind – genau so wie die Bevölkerung – gespalten im Hinblick auf das Zugehörigkeitsgefühl zur Ukraine oder zu Russland.

Nach der Annexion der Krim ( völkerrechtlich gesehen) durch Russland hat die Kirchenleitung in Moskau beschlossen, einen ihrer Pastoren für die Gemeinden auf der Krim einzusetzen, um die Menschen kirchlich zu versorgen und Versöhnung herbeizuführen. Das ist jedoch eine nicht lösbare Aufgabe. Die Gemeinden und die Einzelnen in den Gemeinden sind gespalten, hin und her gerissen, verunsichert und inzwischen weitgehend resigniert. In einer von vielen als hoffnungslos wahrgenommenen kirchlichen und gesellschaftlichen Situation gibt es deutlich erkennbare Auflösungserscheinungen. In dieser Situation gibt es für den von Moskau entsandten Pastor die Anweisung, so gut es geht für eine Beruhigung der Lage zu sorgen.

Erstaunlicherweise gibt es mitten in dieser entmutigenden Situation verschiedene Eigeninitiativen in einzelnen Gemeinden mit dem Ziel, die Gemeinde zu entwickeln und Zukunftsperspektiven für sie zu ermöglichen. Von der Kirchenleitung ist man enttäuscht, weil man von dort aufbauende und richtungweisende Hilfen und Entscheidungen vermisst. Eigeninitiativen sind aber aus Sicht der Kirchenleitung nicht erwünscht. Deshalb wurde dem Pastor die Weisung gegeben, nur das zu tun, was die Kirchenleitung angeordnet hat. Das fördert natürlich die Frustration und Resignation sowohl der Gemeinden wie auch des Pastors.

Auf der Krim scheint in vielen Bereichen Stillstand und Perspektivlosigkeit zu herrschen. Faktisch geht es den Menschen auf der Krim in vieler Hinsicht schlechter als vor der Annexion. Das sind alarmierende Anzeichen und das Bedrohliche der Situation wird von vielen gespürt.

Astrachan

Am Tag nach dem Kursleiter-Treffen, einem Sonntag bin ich dann gemeinsam mit Vera, einer Kursteilnehmerin mit dem Bus von Wolgograd nach Astrachan gefahren. Acht Stunden in einem voll besetzten Kleinbus mit nur zwei zehnminütigen Pausen! Auf einer endlosen scheinenden Landstraße durch endlos scheinende Weite der Landschaft. Auf der Horizontlinie ein etwas größerer Gegenstand. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich eine Lokomotive. Abgestellt im Irgendwo.

Gerädert und erschöpft kommen Vera und ich spät abends am Bahnhof in Astrachan an. Vera hatte ein Taxi für uns telefonisch vorbestellt. Das wartet schon auf uns. Erkennungsmerkmal ist die Farbe, Automarke und die letzten Ziffern des Nummernschildes. Endlich lande ich meinem Hotelzimmer und falle ins Bett.

Am nächsten Morgen die Begegnung mit der Rezeptionist. Noch einmal erlebe ich den fast schon vergessenen, spröden Charme des Sozialismus. In Restaurants in der DDR hatte ich oft das Gefühl, das ich nicht Gast, sondern Störenfried bin. Um so abweisend und kunden-feindlich sein zu können, muss man wahrscheinlich in dritter Generation selbst erlebt haben. Nicht einmal mein berühmtes charmantes Lächeln hat da geholfen. Eisenträger lächeln auch nicht zurück. Aber das Zimmer war bestens in Ordnung – karascho eben.

Wie offenbar in vielen Privatwohnungen und Hotels muss man morgens vor dem Duschen etwa zwanzig Minuten das Wasser aus dem Warmwasserhahn laufen lassen, um warmes Wasser zu bekommen. Es geht sozusagen um die Geduld beim Wasserlassen. Einmal habe ich mir die Wartezeit mit einer langen Sitzung auf der Klobrille vertrieben. Ein anderes habe ich mich in der Wartezeit wieder ins Bett gelegt – und prompt verschlafen. Das Duschwasser war inzwischen heiß, aber ich musste ungeduscht in den Kurs eilen.

Das Frühstück gab es in einem kleinen Bistro gleich neben dem Hotel. (Übrigens: das Wort Bistro kommt aus dem Russischen und heißt: schnell!). Hier ist noch echte Malocher-Atmosphäre. Oder eher: Arbeitslosen- Malocher- Atmosphäre. Da werden die letzten Rubel hervorgekramt und zusammengelegt, damit jeder der Kumpel wenigstens einen heißen Tee und kascha bekommt – das traditionelle Müsli. Die Auswahl auf der Frühstückskarte ist wiederum kundenfreundlich: Kascha oder drei Spiegeleier mit Brot. Mit fällt die Auswahl schwer. Ich nehme deshalb beides.

Vera hat mich dann vom Bistro abgeholt in ihrem leicht verrosteten NIVA – Ko-Produktion mit Chevrolet. Ausgerechnet! Der NIVA ist ein 4Wheel-Drive . Ich bin froh, dass die Kupplung bis zum Ende des Tages gehalten hat und uns nicht um die Ohren geflogen ist. Zuerst haben wir eine Buchhandlung besucht – Knigi. Ich wollte einen Reiseführer über Astrachan kaufen. Leider noch nicht gedruckt. Dafür entdecke ich einen interessanten Bildband über die Zeit des Ersten Weltkriegs in der Region Astrachan. Auf einem Foto ist zu sehen, wie eine Kanone von einem Kamel gezogen wird. Irgendwie absurd friedlich.

Nach unserem Besuch in der Buchhandlung habe ich dann auf eigene Faust und ganz ohne Reiseführer den imposanten, mittelalterlichen Kreml der Stadt besichtigt. Ging auch. Astrachan hat zwei Gesichter: ein schönes modernes Zentrum um den Kreml herum und an der Wolga entlang. Und daneben viel Marodes. Unzählige kleine Holzhäuser mit Schnitzereien an Türen, Fenstern und Giebeln sind fast verfallen. Trotzdem wohnen immer noch Familien darin.

Am Endes des Tages zeigt mir Vera ihre Gemeinde. Wir betreten einen größeren Hof. Auf einer Seite des Hofes ein flaches kleines Gebäude mit bunt bemalter Fassade: Kinderhort und Diakoniezentrum mit Alt-Kleiderkammer und Essensausgabe für Bedürftige. An einer anderen Seite ein herunter gekommenes größeres Backstein-Gebäude: die frühere kirchliche Schule. Sie steht seit langem leer. Vor einem Jahr erst hat die Stadtverwaltung das Gebäude der Kirchengemeinde als Eigentum zurückgegeben.

Vera ist darüber sehr glücklich. Sie möchte in diesem Gebäude ein Hospiz einrichten. Das würde allerdings viel Geld kosten, das nur durch ausländische Sponsoren zur Verfügung gestellt werden kann, denn die Gemeinde ist arm und vom Staat ist kein Geld dafür zu erwarten. Ich schlage Vera vor, erst einmal einen Teil des Gebäudes zu sanieren und zu vermieten. Das so beschaffte Geld könnte dann die Kosten für die weitere schrittweise Sanierung decken. Auch dies sei am Ende ein Hospiz, nämlich Unterkunft für Durchreisende und Gäste.

Neben der früheren Schule steht ein großes Gebäude aus Holz. Es iust das alte Pfarrhaus. Es sieht für mich aus wie ein dunkles Spukschloss. Über eine Außentreppe betreten wir das Haus. Ein Gang, von dem mehrere Zimmer abgehen und vor uns ein großer Raum, der schon jetzt für Gottesdienste genutzt wird. Nichts ist bisher saniert oder renoviert worden. Über zwei Etagen gibt es insgesamt zwölf Zimmer sowie den großen Gottesdienstraum.

Dieses frühere Pfarrhaus hat einen eigenen Charme. Ich stelle mir vor, wie schön es aussehen wird, wenn es erst saniert ist. Auch hier könnte man zunächst zwei Wohnungen sanieren und vermieten. Ebenfalls eine Einnahmequelle. Auch hier könnte dann Schritt für Schritt die Sanierung des ganzen Gebäudes erfolgen, in dem es dann verschiedene Gemeinderäume und auch die Wohnung für die Pastorin gäbe. Vera will sich diese Vorgehensweise durch den Kopf gehen lassen. Sie ist nicht so für das Kleinschrittige, sondern eher für den großen Wurf.

Zum Beispiel möchte sie auch das frühere Kirchengebäude zurück haben. Es hat keinen Turm mehr, aber die Apsis im Altarraum ist deutlich erkennbar. Ansonsten ist eine Zwischendecke eingezogen worden. Es wohnen jetzt mehrere Familien in diesem Gebäude, das aussieht wie ein großes Mietshaus. Vera möchte am liebsten die Zeit zurück drehen und die Kirche wieder so herstellen, wie sie vor 130 Jahren ausgesehen hat.

Ich frage Vera, wie viele Gemeindeglieder ihre Gemeinde hat. Sie sagt, dass es zur Zeit etwa 50 Mitglieder sind. Vor ein paar Jahren, als sie hier anfing, seien es nur 35 Mitglieder gewesen. Ich gebe zu Bedenken, dass angesichts dieser geringen Anzahl von Gemeindegliedern, das Pfarrhaus doch ausreichen würde. Aber nein, Vera hofft, dass in ein paar Jahren die Gemeinde einhundert Gemeindeglieder hat. Da wäre es gut, das alte Kirchengebäude zurück zu haben….

Am Ende des Tages haben wir in einem stadtbekannten Fischrestaurant wunderbar gegessen. Hecht ist die Spezialität des Hauses…. Wie vereinbart ist am nächsten Morgen pünktlich das Auto mit Fahrer zur Stelle, um mich durch die kalmyckische Steppe in die Hauptstadt Elista und von dort zurück nach Sarepta zu bringen.

Die Kalymickische Steppe, ein buddhistischer Tempel und Chess-City

Natürlich ist es luxuriös, mit dem Taxi durch die Steppe zu reisen… Aber es war´s mir wert! Für Walodja, meinen Fahrer jedoch war es vermutlich eher frustrierend, mit mir nicht so richtig sprechen zu können, da sein Englisch und mein Russisch ähnlich fortgeschritten sind. So verständigten wir uns vor allem mit „Signalwörtern“ wie z.B. „Kaffeepause“. Auf Russisch: Kaphepausa. Aber was wirklich in Walodja steckt, wurde mir immer dann bewußt , wenn er Gelegenheit hatte mit seinesgleichen zu kommunizieren. Dann war kein Halten mehr. Da wurde geschwätzt und gelacht ohne Ende. Ich weiß nicht, ob die kalmyckischen Gesprächspartner wirklich alles verstanden, was er zu ihnen auf Russisch sagte, aber sie fühlten sich auf jeden Fall sehr angeregt und waren oft begeistert. Davon profitierte natürlich auch ich. Man nahm mir meine Einsilbigkeit nicht übel. Und wenn herauskam, das ich Deutscher bin, dann kommunizierten wir alle gemeinsam auf Deutsch. Jedenfalls habe ich alles verstanden.

Die Steppe hatte ich mir tatsächlich so ähnlich vorgestellt. Flach wie Ostfriesland, aber ohne Nordsee. Aber auch mit Schafen. Von weitem sah man oft nur dunkle Punkte am Horizont bis man beim Näherkommen sah: Schafe. Eine ganze Herde. So süß die gerade geborenen Lämmer. Bei der verzückten Beobachtung der Lämmer habe ich keine einziges Mal daran gedacht, dass ich gerne Lammfleisch esse. Echt nicht. Im Mai blüht die Stimme. Nur deshalb hatte ich ja den Kurs in diese Jahreszeit gelegt. Die Kursteilnehmer wussten davon natürlich nichts.

Nur wenn man sich Zeit nimmt, aus dem Auto aussteigt und zu Fuß ein paar hundert Meter durch die Steppe zu gehen, nimmt man ihre zarte Schönheit wahr. Die verschiedenen Gräser. Die gelben und blauen Wiesenblumen. Die rosa gefärbten Sträucher. Auch die unzähligen Mauselöcher und die am Himmel kreisenden Greifvögel. Das Zwitschern der Lerche. So lange schon war es her, dass ich das Zwitschern einer Lerche beim Aufstieg in den Himmel gehört hatte. Und dann in den kleinen Dörfern der Flieder. Prächtig! Lila und dunkel-lila und weiß. Und der schwere, wunderbar betörende Duft des Flieder! Wie in meiner Kindheit. In den Vorgärten dazu das kräftige Blau der Iris.

Die Autofahrt von Astrachan in die kalmyckische Hauptstadt Elista kann man in gut drei Stunden schaffen. Wir haben fast die doppelte Zeit gebraucht, weil ich die langsame beschauliche Fahrt durch diese Landschaft genießen wollte. Aber dann holt einen in dieser weiten, einsamen Landschaft plötzlich das Grauen des Krieges ein und die tragische deutsch – russische Schicksalsgemeinschaft. Am Straßenrand ein großer sowjetischer Soldatenfriedhof. Wir halten an und besichtigen die auf einem Hügel gelegene Gedenkstätte. Von hier aus geht der Blick kilometerweit. Und kilometerweit war damals das Schlachtfeld.

Inzwischen habe ich mehrere Soldatenfriedhöfe in Russland besucht und mir das Wort für Friedhof gemerkt: Kladwitsche. In der Gedenkstätte Massengräber für die gefallenen Soldaten. In jedem der großen Gräberfelder liegen hunderte Gefallener. Bis hierhin war die deutsche Wehrmacht im Sommer 1942 vorgestoßen – und schon ein halbes Jahr später im Zusammenhang mit der Schlacht von Stalingrad wieder abgezogen. Die erhoffte Ausbeutung der Ölfelder von Baku blieb eine grandiose Fehlkalkulation. Ebenso das Ziel, den alliierten Nachschub von Kriegsmaterial zu blockieren, der von Persien durch das Kaspische Meer und über die Wolga bis ins Innere des Landes ging. Das war das strategische Ziel der Schlacht um Stalingrad.

Besonders natürlich auf dem Hintergrund des eigenen in Russland gefallenen Vaters habe ich schon früh den Eindruck gehabt, dass Deutschland und Russland eine tragische, aber auch fruchtbare Schicksalsgemeinschaft verbindet. Und dass Russland für mich ganz klar zu Europa gehört. Nicht nur geografisch bis zum Ural, wie ich es in der Schule gelernt habe. Auch kulturell, Intellektuell, historisch und wirtschaftlich. Und, wie ich finde, auch politisch. Ich hoffe, dass mit Russland als Mitglied eines Tages eine neue Europäische Union entsteht – wenn die jetzige Europäische Union sich nicht durch partikularen Nationalismus selbst zerstört.

Ich war auf der Fahrt etwas eingenickt, als ich vor uns ein Schild sah: Res Publica Kalmyckien. Wow.: Res publica!. Sind die Römer bis hierher gekommen? Kalmyckien ist die einzige mehrheitlich buddhistische autonome Republik in Russland – und in Europa. Die Kalmycken sind stolz darauf, direkte Nachfahren von Dschingis Khan und seiner Goldenen Horde zu sein. Ursprünglich kam die „Goldene Horde“ aus der heutigen Inneren und Äußeren Mongolei und vor allem aus dem Gebiet um die Wüste Taklamakan. In den politischen Nachrichten gibt es manchmal auf die größere Stadt dort: Urumqui. Es ist die Region des Turkvolkes der (muslimischen) Uiguren. Peking versucht schon seit längerem, das Aufbegehren gegen die Dominanz der Han-Chinesen mitten in der ethnisch weitgehend geschlossenen Gesellschaft der Uiguren durch den Ausbau von Gefängnissen und politischen Umerziehungslagern niederzudrücken.

An den Gesichtszügen der Menschen hier in Kalmyckien sieht man unschwer, das sie der der Ethnie der Mongolen angehören. Ihr buddhistischer Glaube ist von Tibet aus hierher gekommen, und der Dalai Lama wird als religiöses Oberhaupt hoch verehrt. In der kalmyckischen Hauptstadt Elista steht eine beeindruckende buddhistische Tempelanlage: eine große, gold-geschmückte Pagode. Das große Tempelgelände ist umgeben mit einem Zaun, an dem unzählige bunte Stofffetzen im Wind flattern. Eine so große Tempelanlagen mitten in der weiten Steppe ist eine Überraschung. Wenn man die Tempelanlage betritt wird man von mehren auffallend schlanken Buddha-Figuren begrüßt, die eine – für den lamaistischen Buddhismus typische – „Zipfelmütze“ tragen. Beim Betreten der Pagode werde ich von einem Besucher mit ein paar Wörtern sehr freundlich auf Deutsch angesprochen. Beim Verlassen der Pagode treffen wir wieder aufeinander. Wir gehen zusammen die große Freitreppe hinunter auf den Tempel-Vorhof. Dort steht eine große , blumen-geschmückte Figur. Mein Mit-Besucher legt die Handflächen zusammen und verneigt sich mehrmals im Gebet vor dieser Figur mit den Worten: OM MANI PADME CHUM. Und wiederholt diese Worte mehrfach. Ich frage ihn, ob ich mit-beten dürfe. So beten wir beide. Ich sage, der Einfachheit halber nur: OM. Mein Mit-Beter strahlt mich an.

Om mnani padme chum ist das Mantra des Mitgefühls und der Weg zur Erleuchtung. Om steht für Gott und das sein und den Kosmos. Padma bedeutet Lotus und Hum ist eine Bekräftigunghsformel wie zum Beipiel des christliche Amen. Bedeutet aber gleichzeitig auch Weisheit. Es ist das bekannteste Mantra für den unreifen Adepten, welcher durch kontinuierliche Meditation den Weg der Erkenntnis beschreitet. Es ist das Mantra auf dem Weg zur Erleuchtung.

Ich erinnere mich dabei an eine Szene, als meine Tochter und ich durch China gereist sind. Das war 1991. Also nur zwei Jahre nach dem Massaker gegen demonstrierende Studenten auf dem Tienanmen-Platz.. China war damals noch völlig geprägt von einem indoktrinären Kommunismus. Die wirtschaftliche Öffnung stand noch bevor. Wir waren fast die einzigen Touristen, die das Land bereist. Ich würde heute das Land vermutlich nicht wiedererkennen. Damals besuchten wir auch einen Tempel. Ich meine mich zu erinnern, dass es ein konfuzianischer Tempel war. Wir beobachteten lange die Gläubigen in ihrem Gebet. Beeindruckend der große Gong, den ein Mönch anschlug, wenn ein Beter sein Gebet verrichtet und eine Opferkerze angezündet hatte.

Ich habe mich in die Schar der Beter eingereiht: Verneigen, Opferkerze. Gong. Meine Tochter war entsetzt: Papa, du bist doch Pastor und betest fremde Götter an! Vielleicht hilft zum besseren Verständnis; ihre Konfirmation war noch nicht lange her…. Ich weiß noch, wie ich stammelte: Aber heimlich habe ich doch das Vaterunser gebetet. So ganz überzeugend war dies offenbar nicht. Später hat sie Ethnologie studiert und sich über die Mission der Kirche in Afrika empört. Vor allem, dass die Kirche so rigide gegen witchdoctors, Zauberer und Heiler vorging, anstatt mit ihnen zusammen zu arbeiten…

In Elista haben Wladimir und ich in einer sehr schönen Hotelanlage gewohnt. Ein resort, das genau so auch in den USA stehen könnte. Und in der Tat wurde die Hotelanlage erst vor wenigen Jahren anlässlich der Schach-Olympiade fertig gestellt.. Der damalige Präsident war reich, und er liebte das Schachspiel. Also verordnete er, dass Schach zum Unterrichtsfach ab der ersten Klasse und Schach der Nationalsport Nummer eins wird. Das hat niemandem geschadet. Im Gegenteil. Der Präsident machte aus seinem Hobby ein Weltereignis: vor einigen Jahren fand in Elista die Schach-Olympiade statt. Für dieses Ereignis wurde ein neues Stadtviertel gebaut. Mit einem großen, in Form einer einer tradtionellen Jurte gebauten Zentralgebäude, das heute ein Museum beherbergt. Und vielen kleineren Gebäuden, in denen die angereisten Olympioniken untergebracht waren. Bezeichnenderweise trägt die Anlage den Namen City-Chess. Dieser Präsident zeichnete sich auch durch andere Wohltaten aus, war beliebt und überließ bei der nächsten Wahl das Amt auf geordnete und politisch korrekte Weise seinem Nachfolger.

Beim Frühstück trafen wir eine kleine Reisegrupe, die Englisch miteinander sprach. Wir kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass sie aus den USA eingereist waren. Nicht etwa wegen besonderer Leidenschaft für das Schachspielen. Vielmehr waren sie unterwegs in Sachen Mission. Baptisten aus Seattle. Unser Gespräch kam ,merkwürdig schnell zu einem Ende, als ich sagte, dass ich Lutherischer Pastor sei. Es hatte ihnen offenbar die Sprache verschlagen, wo unser Gespräch doch gerade erst in Gang gekommen war.

Jurte und Kamel

Bei der Vorbereitung auf diese Reise hatte ich mir drei Dinge vorgenommen: eine traditionelle Kalmycken-Jurte zu besuchen, auf einem Kamel zu reiten und in Elista (übrig gebliebene) Mitglieder der lutherischen Gemeinde zu treffen. Die ersten beiden Wünsche haben sich erfüllt, der dritte Wunsch war vielleicht doch zu exotisch. Zu meiner Enttäuschung wurde mir versichert, dass es so gut wie keine Kamele mehr gäbe und die Mensch schon seit langem nicht mehr in Jurten, sondern in festen Häusern wohnten. Wir erfuhren aber, dass es am Stadtrand eine „Kamelstation“ gab. Dort könnten Besucher eine kleinen Ausritt auf einem Kamel machen. Die Kamele machten ein sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Sie sahen überdies irgendwie kuschelig aus. Ich hatte mir vorher keine Gedanken gemacht, wie ich nach oben auf ein solches Tier kommen könnte. Stabhochsprung? Kaum. Leiter? Schon eher. Dann aber war alles ganz einfach. Das Kamel knickt einfach vor mir ein und ich konnte es bequem besteigen. Dann schaukelte es ein wenig und los ging. Drei Tge und Nächte durch die Steppe bei sternklarem Himmel… Wenn ich die Augen zumachte, hatte ich für einen Moment dieses starke Erleben. Aber die Altersweisheit riet mir , besser nach ein paar Minuten abzubrechen. Immerhin: zwei dokumentarische Fotos gebt es. Eins mit der Kopfbedeckung eines Dschingis Khan Kriegers, das Schert wild und entschlossen über sich schwingend. Und ein anderes eher ziviles Foto.

Was meinen zweiten Wunsch anging: Besuch einer traditionellen Jurte hatte ich schon fast aufgegeben, als uns jemand sagte, dass es nicht weit entfernt zwei Jurten gäbe, in denen eine Art Heimatmuseum untergebracht sei. Tatsächlich. Vor einer der Jurten hielt ein Reiter. Nicht gerade im Outfit von Dschingis Khan, sondern zivil und bescheiden. Er führte einen kurzen Plausch mit dem Museumsführer. In den beiden Jurten konnte man zum einen viele Gegenstände des täglichen Gebrauchs sehen. Ein sehr stabiles Bett aus Holz, eine Wiege, Handwerks- und Küchengeräte und Kleider. Also ein Blick ins Alltagsleben des Nomadenvolks aus vor-kommunistischer Zeit. Außerdem Pfeil und Bogen, Speere und Lanzen. Was mich am meisten interessierte aber war das Gewand eine Schamanen. Aus Tierfell mit mit vielen Zottel und einer Kopfbedeckung, die das Gesicht verhüllt. Die durfte ich anziehen. Und dann tanzte ich jenen alten Tanz der Schamanen, wie es ihn seit Menschengedenken gibt. Auf einer großen Handtrommel schlug ich selbst den Rhythmus dazu. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre in Verzückung geraten.Wladimir hat das entsprechende Foto dazu gemacht. Ich habe es betitel „Schamanenschüler aus Bienenbüttel in Ekstase“. Aber nur an ausgewählte Adressaten gepostet….

Nun fehlten mir nur noch die Lutheraner. Aber die waren alle auf Arbeit, und wir mussten weiter.

Das Volk der Kalmycken und ihre Geschichte

Die Kalmycken kommen ursprünglich aus der Inneren und Äußeren Mongolei. Sie sind um 1615 zum tibetischen Buddhismus konvertiert und um 1630 hierher in die kaum besiedelte Steppe eingewandert und bildeten ein eigenes Khanat. Die Kalmycken sind das einzige ältere Volk in Europa, das in seiner Mehheit buddjistisch ist. Ein tibetischer Buddhismus mit dem Dalai Lama als höchstem religiösen Anführer. Im Jahre 2005 wurde der neue Tempel in Elista eingeweiht. Der Dalai Lama hat den Tempel viele Male besucht.

Die Kalmyken wurden zu Verbündeten des Zaren und bildeten eine Art Pufferzone zu den muslimischen Völkern an der Südgrenze des Zarenreiches. Dann aber schlossen sie sich den Kosaken-Aufständen in der Zeit von Katharina der Großen an. Nachdem der Aufstand blutig niedergeschlagen war, verloren die Kalmycken alles bisherigen Privilegien und ihre Autonomie. Im Russischen-Napoleonischen Krieg kämpften die Kalmycken auf Seiten des Zaren und etliche von ihnen zogen nach dem Sieg 1815 mit in Paris ein. In der Zeit des Ersten Weltkrieges kämpften viele Kalmycken – ebenso wie die Donkosaken – auf der Seite der Weißen (zaristischen) Armee. Nach ihrem Siegeszug richteten die Bolschewisten ein Massaker unter den Kosaken an . 70% der kosakischen Bevölkerung wurden umgebracht. 150 000 Angehörige der Weißen Armee konnten in letzter Minute über die Krim nach Istanbul fliehen. Darunter auch viele Kalmycken.

Die Diaspora-Kalmycken haben in Belgrad , Sofia, Lyon und Paris eigene buddhistische Tempel errichtet. Viele von ihnen sind später in die USA ausgewandert.

Im Jahr 1920 bot die kommunistische Regierung in Moskau den in der Diaspora lebenden Kalmycken eine Amnestie an. Diejenigen, die zurückkehrten wurden schikaniert und viele von ihnen getötet. 1929 machte die Regierung Kalmyckien zu einem eigenständigen Regirungsbezirk (oblast). In derselben Zeit begann die Zwangskollektivierung und der Zwang, das Wohen in den traditionellen Jurten aufzugeben und statt dessen in festen Häusern zu leben. Beides war für dieses freiheitsliebende Nomadenvolk gleichbedeutend mit der Zerstörung ihrer traditionellen Lebensweise und eine Zerstörung ihrer Kultur. Viele Kalmycken wurden nach Sibirien in Arbeitslager deportiert. In den Jahren 1932/33 starben viele an Hunger (ebenso in der Ukraine). Priester und Mönche wurden erschossen, Tempel und Klöster geschlossen und kalmyckische Literatur verbrannt.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 hofften wahrscheinlich viele Kalmycken, dass es ein Ende der sowjetischen Unterdrückung geben könnte. Zumindest anfangs war es wohl so. Währedn der deutschen Besetzung (Sommer bis Ende 1942) bekamen die Kalmycken ihr enteignetes Land zurück, Tempfel und Klöster wurden wieder geöffnet und jeder konnte seinen Glauben frei ausüben.Etwa 3 000 Kalmycken ließen sich sogar in die Wehrmacht als Verbündete integrieren. Allerdings eine verschwindend kleine Anzahl angesichts der vielen, die für die Rote Armee kämpften.

Am 28. Dezember 1942 wurde das Kalmychische Volk als Ganzes der Kollaboration mit dem Feind angeklagt. Innerhalb von 24 Stunden wurden sie in Viehwaggons verladen und nach Sibirien abtransportiert. Allein während der mehrwöchigen Fahrt – ohne Essensvorräte und ohne Winterkleidung kamen allein 30 – 40% von ihnen um. Ein Völkermord. Auch der Name Kalmyckien wurde ausgelöscht. Im Jahre 1957 wurde eine Rückkehr möglich. Aber die Rückkehrer stellten bald fest, dass das Land, dass sie einmal besaßen inzwischen unter Ukrainern Russen aufgeteilt war.

Nach der kurzen Besatzungszeit haben sich etwa 15.000 Kalmycken den deutschen Truppen auf dem Rückmarsch. Sie landeten schließlich in Österreich. Sie wurden von den Alliierten dort gezwungen, in ihre Heimat zurückzukehren . Dies haben die meisten von ihnen nicht überlebt.

Noch einmal zurück zur Lutherischen Gemeinde in Elista. Die Gemeinde war schon immer klein und arm. Gegründet von deutschen Einwanderern in der Zeit von Katharina der Großen. Es ist dieselbe Zeit, in der auch das Herrnhuter Sarepta gegründet wurde. Im Unterschied zu Sarepta hat sich die Gemeinde jedoch nie entwickeln können. Das Land, die Steppe war unfruchtbar für den Anbau von Getreide oder Früchten, Und die nomadische Bevölkerung erwies sich als nicht besonders interessiert an Martin Luther. Sie hatten Dschingis Khan und den Dalai Lama aus Tibet, der sie – anders als Martin Luther – bis heute anlächelt.

Es ist ein karges Land und hier zu leben ist eine Herausforderung. Aber im Frühjahr erblüht die Steppe in ihrer zarten Schönheit. Ich kann mir vorstellen , dann einmal der kleinen Gemeinde hier als Pastor zu dienen. Es gibt weder Kirche und Gemeindehaus noch eine Unterkunft für mich. Aber ich könnte ja über das russische Internet eine Jurte kaufen (gibt es schon ab etwa 800 €) und irgendwo in der Steppe aufschlagen. Und zur Yoga-Meditation könnte ich rübergehen zu den buddhistischen Kollegen. Als Gegenleistung und wenn sie wollen, könnte ich ihnen natürlich etwas über Martin Luther erzählen….

Bis vor wenigen Jahren war die lutherische Gemeinde in Elista noch offiziell als „Kirche“ registriert. Die neuere russische Gesetzgebung über „Ausländische Agenten“ , soll unter anderem den missionarischen Einfluss der vielen kleinen, US-amerikanischen Missionskirchen in Russland eindämmen, ber auch auch sozial-diakonische Initiativen und deren Geldtransfers kontrollieren. Viele kleine lutherische Gemeinden sind dadurch in große Schwierigkeiten geraten. Bis jetzt konnten sie auch in Privatwohnungen zusammen kommen und ihre Gottesdienste feiern. Das neue Gesetz sagt aber ausdrücklich, dass Wohnungen und Häuser, in denen „dienstliche“ Tätigkeiten verrichtet , also z.B. Gottesdienste gefeiert werden, nicht auch als privater Wohnraum genutzt werden dürfen. Viele kleine Gemeinden können es sich aber finanziell gar nicht leisten, eine Wohnung oder ein Haus nur für den „Dienstgebrauch“ anzumieten. Und schon gar nicht leisten, eine Immobilie zu kaufen. Deshalb hat sich die lutherische Gemeinde in Elista aus dem staatlichen Register austragen lassen. Jetzt existiert sie nur noch als „religiöse Gruppe“ , die nicht registriert werden muss und weniger unter staatlicher Kontrolle steht.

Russland heute

Zum Schluss noch ein paar Gedanken zur Situation in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft. Ich beziehe mich dabei auf ein Interview mit Natalja Akindinowa, von der Higher School of Economics in Moskau. (Süddeutsche Zeitung vom 13, Mai 2019). Russlands Wirtschaft geht es alles andere als gut. Das hängt zum Teil mit den Sanktionen infolge der Krim-Annexion zusammen. Die durchschnittliche Bevölkerung kann sich immer weniger leisten, die Jobs sind oft schlecht bezahlt und die Arbeitsbedingungen bedenklich, die Steuerabgaben steigen, das Renteneintrittsalter ist gestiegen und die dann gezahlten Renten kaum ausreichend, um davon leben zu können. Immer weniger Menschen arbeiten in großen Unternehmen mit gutem und sicheren Gehalt. Viele arbeiten in Kleinbetrieben, sind selbständig oder arbeiten schwarz. Sie sind es vor allem, die spüren, dass die Wirtschaft stagniert.

Die Binnennachfrage ist zu gering. Auf dem internationalen Markt sind russische Produkte selten konkurrenzfähig. Der internationale Bankverkehr unterliegt strengeren Kontrollen. Und Europa und die USA haben höhere Ansprüche, wie Unternehmen geführt werden müssen. Vor allem aber ist es vielleicht das unsichere Rechtssystem in Russland. Rechtsorgange missbrauchen ihre ihre Macht. Strafverfolgung wird benutzt, um Geschäftsstreitigkeiten auszutragen. Das schreckt Investoren ab. Warum bringt das die Regierung bisher nicht in größere Schwierigkeiten. Die Menschen sind mit den allgemeinen Lebensbedingungen unzufrieden, aber mit ihrer Regierung?

In der „Zwischenregierungszeit“ unter Medwedjew als Präsident (2008 -2012) war die Gesellschaft freier. Es gab viele Vorschläge für liberale Reformen und offene Kritik an den Machtstrukturen ohne negativen Folgen für die Kritiker. Man sprach sogar davon, dass eine stärkere politische Opposition dem Land gut täte. Nach Putins Wiederwahl und Inauguration als Präsident gab es größere Demonstrationen. Viele Demonstranten kamen danach ins Gefängnis. Ein deutliches Signal, dass solche Demonstration jetzt nicht ungefährlich sein würden. Zuerst wurden politische Freiheiten unterdrückt und dann auch wirtschaftliche Freiheiten. Es gibt Verhärtungen und Verbote in allen Bereichen. Es ist schwer, den Widerstand der konservativen Bürokraten zu bewältigen.

Putins Umfragewerte sinken und das Vertrauen der Bevölkerung nimmt ab. Und: Proteste brauchen ein hohes Maß an Selbstorganisation, Solidarität und Erfahrung. Das findet sich kaum in Russland. Sicherlich auch, weil es dies noch nie in einem größeren Maße gegeben hat. Weder vor 1917 noch danach. Es fehlt die Bereitschaft der Menschen, sich mit Problemen zu befassen, die nicht den eigenen privaten Bereich betreffen. Und politische Initiativen werden im Keim unterdrückt.

Aber immer noch scheint die Wirtschaft trotz der großen Probleme stabil genug zu sein. Das Land hat keine Schulden. Grundlage dafür sind Öl und Gas. Eine große Rolle spielen auch Großbetriebe, die seit der Sowjetzeit bestehen: im Maschinenbau, der Militärindustrie, der Chemieindustrie , in der Metallverarbeitenden Branche. Oft sind es Monopole mit Staatsaufträgen. Die bedeutendsten Oligarchen in Russland finden Platz an einem Tisch – mit der Regierung.

Wirkliche Reformen müssten wahrscheinlich bei den Rechtsorganen ansetzen. Heute werden Strafverfahren für Geld eröffnet und für Geld geschlossen. So kann man unliebsamen Konkurrenten schaden. Man kann nicht sagen, dass Gerichte und Staatsanwälte ihre Funktionen nicht wahrnehmen. Aber in vielem sind sie korrumpierbar. Das spüren die Menschen, und es lässt sie vorsichtig sein. Lieber nicht den Kopf hinhalten. Besser nicht die Initiative ergreifen oder eigene Verantwortung übernehmen. Das gilt auch für den kirchlichen Bereich.

Sarepta, Elista und Hannover

16. Mai 2019

Vierter

Vierter Brief aus Äthiopien – Kirche und Gesellschaft

Liebe Freunde,

Heute habe ich mich zum Mittagessen mit Firowot, ihrem Neffen und Soboka getroffen. Firowot ist eine der beiden Schwestern, von denen Soboka und ich vor zehn Jahren schon ein Grundstück am Yerer Mountain geschenkt bekommen haben. Darauf wird jetzt das erweiterte Yerer Youth Camp und Guesthouse entstehen. Der Neffe lebt in den USA. Kurz bevor er in Äthiopien sein Studium beginnen wollte, gewann der Bruder seiner Mutter in der US-amerikanischen Lotterie, durch die Menschen in aller Welt „das große Los ziehen“ können, umn in die USA legal einzuwandern. Dieses grosse Los gewann Firowots Schwager. Das Los ermöglichte ihm, auch seine Familie mit einreisen zu lassen. Aber er war unverheiratet. Also gab er bei der amerikanischen Botschaft in Addis seine beiden Neffen als eigene Kinder aus. Das ging durch und die Neffen wanderten mit dem Onkel nach Amerika aus. Später kam die Mutter der beiden jungen Männer nach. Vierter weiterlesen

Vierter Brief ais Äthiopien 2018 – Kirche und Gesellschaft

Vierter Brief aus Äthiopien – Kirche und Gesellschaft

Liebe Freunde,

Heute habe ich mich zum Mittagessen mit Firowot, ihrem Neffen und Soboka getroffen. Firowot ist eine der beiden Schwestern, von denen Soboka und ich vor zehn Jahren schon ein Grundstück am Yerer Mountain geschenkt bekommen haben. Darauf wird jetzt das erweiterte Yerer Youth Camp und Guesthouse entstehen. Der Neffe lebt in den USA. Kurz bevor er in Äthiopien sein Studium beginnen wollte, gewann der Bruder seiner Mutter in der US-amerikanischen Lotterie, durch die Menschen in aller Welt „das große Los ziehen“ können, umn in die USA legal einzuwandern. Dieses grßse Los gewann Firowots Schwager. Das Los ermöglichte ihm, auch seine Familie mit einreisen zu lassen. Aber er war unverheiratet. Also gab er bei der amerikanischen Botschaft in Addis seine beiden Neffen als eigene Kinder aus. Das ging durch und die Neffen wanderten mit dem Onkel nach Amerika aus. Später kam die Mutter der beiden jungen Männer nach.

Als Firowots Neffe jetzt Yerer Mountain besucht, mit eigenen Augen die wunderschöne Landschaft sieht und von seiner Tante die mit diesem Ort verknüpfte Familiengeschichte erzählt bekommt, ist er sehr angerührt. Kaiser Haile Selassie hatte seinem Großvater ein großes Stück Land geschenkt , das mehrere Dörfer mit einschloss und bis zum Fuß des Yerer reichte. Hier baute er eine grosse Hütte. Sie steht noch heute. In unserem Gespräch beim Mittagessen, kommt der junge Mann aus Amerika auf die Idee, in Erinnerung an seinen Großvater die alte Hütte zu einem Museum zu machen, die heruntergekommenen Stallungen neu herzurichten und – in Verbindung mit dem Yerer Youth Camp – ein Angebot für Gäste zu machen: Leben auf dem Land, Reiterferien, Schafe und Kühe hüten. Yerer Guest Farm! Für seine Tante Firowot plant er, eine neue Hütte zu bauen im traditionellen Baustil eines Tokul – entsprechend der Vorlage des Toklul, den wir gerade bauen wollen…. Isn´t that something!

Am späteren Nachmittag habe ich Pastor Gematchu zu Hause besucht. Er zählt zu den ersten einheimischen Pastoren, die noch von deutschen oder schwedischen Missionate damals unterrichtet und später ordiniert wurden. Er war Synodenpräsident im Westen, in Wolega und hat die kommunistische Zeit als junger Pastor miterlebt. Jetzt ist er neunzig Jahre alt geworden. Er geht regelmäßig in den Gottesdienst der Gemeinde Kotobe, die mein Freund und Kollege Pastor Soboka gegründet hat. Mitten in der kommunistischen Zeit, als die evangelischen Pastoren verfolgt und die kirchlichen Gebäude enteignet wurden.

Buchstäblich aus dem Nichts und – wie er es sagen würde: mit Gottes Hilfe und durch die Wirkung des Heiligen Geistes – ist eine große, lebendige Gemeinde enststanden, aus der elf weitere, neue Gemeinden in der größeren Umgebung entstanden sind. Durch Gebet und Verkündigung des Wortes Gottes. Und ich würde ergänzen: durch den unerrmütlichen persönlichen Einsatz und durch die einladende und gewinnende Art, wie Soboka auf die Menschen zugeht. Eine große und segensreiche Arbeit!

Wenn ich in Kotobe bin, treffe ich den alten Pastor Gemetchu immer im Gottesdienst. Geduldig hält er die langen Gottesdienste aus. Auch die lautstarken Prediger. Noch bin ich nicht ganz so schwerhörig wie er…. Bei meinem Besuch bei ihm zu Hause, haben wir uns neben einander gesetzt und obwohl weder er noch ich unsere Hörgeräte benutzt haben, war es ein gutes Gespräch. Ich habe immer nur kurze Fragen gestellt und er hat dann ausführlich aus seinem Leben erzählt. Als ich mich verabschiedete, habe ich ihn um seinen Segen für mich gebeten. Er hat mir die Hände auf den Kopf gelegt und hat mich gesegnet…. Was für ein wunderbarer Augenblick! Gott weiß, ob wir uns in diesem Leben wiedersehen werden.

Am Abend habe ich selbst Besuch bekommen von dem neuen Pastor in Kotobe, der zuständig ist für die elf Gemeinden des neune Kirchenkreises (parish).Wir hatten ein interessantes Gespräch über die aktuelle Situation der Mekane Yesus Kirche. Vor zwanzig Jahren, als ich das erste Mal in Äthiopien war, hatt die Mekane Yesus Kirche etwa dreieinhalb Millionen Mitglieder. Jetzt sind es neun Millionen! Jedes Jahr wächst die Kirche vermutlich um etwa eine halbe Million Mitglieder. Genau weiß man es nicht, weil an den Rändern die Mitgliedschaft oft unklar ist. Viele sind gleichzeitig noch in nder Orthodoxen Kirche geblieben und andere besuchen auch noch die Gottedienste der Pfingstkirche.

Viele Gemeinden der Mekane Yesus Kirche haben sich in den letzten Jahren rapide zu charistmatisch-fundamentalistischen Gemeinden entwickelt, die kaum noch von Pgingstgemeinden zu unterscheiden sind. Viele Gmeindeglieder sind begeistert von den autoritär-fundamentalistischen sogenannten TV-Churches in den USA mit ihren schrillen religiösen Anführern und dem Wunderheilungs-Spektakel in den TV-Show-Gottesdiensten. Die entsprechenden Spendenkonten werden immer wieder eingeblendet. Hohe Summen an Spenden fließen auf diese Konten – und meistens ohne grössere Umwege in die Tasche der religiösen „Showmaster“.

Den Anfang und Anstoß zu diesen gottesdienstlichen Fernseh- und Massenveranstaltungen hat der berühmte Billy Graham gegeben, der kürzlich verstorben ist. Die etablierten alten Kirchen in den USA haben kaum noch etwas dagegen zu setzen.

Ich sehe, daß sich die Dinge in den afrikanischen Kirchen ähnlich entwickleln. Die alten „Missionskirchen“, die einmal das Evangelium nach Afrika gebracht haben verlieren rasant an Bedeutung. Und inzwischen gibt es die umgekehrte Entwicklung: die afrikanischen Kirchen haben begonnen, die Länder im Norden zu missionieren, aus denen einmal die Missionaren kamen, die aber inzwischen weitgehend vom Glauben abgefallen sind. So jedenfalls das Bild, das viele afrikanische Christen von den Kirchen Europas haben.

Ich habe in unserem Gespräch erwähnt, dass viele alte Missionare, die jetzt im Ruhestand in Deutschland leben, auf die Entwicklung der Mekane Yesus Kirche mit Enttäuschung und Trauer reagieren. Und ich habe auch gesagt, dass ich selbst es wahrscheinlich nicht riskieren würde, mit einer deutschen Reisegruppe einen der Gottesdienste in der Mekane Yesus Kirche zu besuchen. Viele der Besucher würden aus meiner Sicht entweder in Ohnmacht fallen oder schreiend das Weite suchen. Darauf mein Gesprächspartner: Pastor Soboka und die Gemeinde in Kotobe gilt in den Augen als sehr konservativ. Da bin ich doch gerne konservativ!

Am Ende unseres Gespräches hat mich mein Gesprächspartner gefragt, was ich denn der Mekane Yesus Kirche für einen Rat geben würde. (Diese Frage oder Bitte um den Rat einer älteren Respektsperson ist typisch für die afrikanische Kultur). Ich habe geantwortet, daß ich der Mekane Yesus Kirche zu mehr Demut rate.

Wenn Pastor Soboka in etwa anderthalb Jahren in den Ruhestand geht, wird vermutlich vieles , was er in seiner Gemeinde aufgebaut keinen langen Bestand haben: die internationale, ökumenische Weite, das Interesse an fundierter, wissenschaftlicher Theologie, der reformatorische Freiheitsgedanke und das Interesse und die Freude dem Anderen und Fremdem zu begegnen. Tatsächlich habe ich die Befürchtung, dass die lutherisch-presbyteriale Mekane Yesus Kirche von der charismatisch-fundamentalistischen Pfingstkirche „geschluckt“ wird. Und viele Gemeinden der Mekane Yesus Kirche werden dies nicht einmal merken…

Gott sei Dank gibt es noch den Yerer als Rückzugsort. Für Soboka und für mich. Der Yerer und das, was dort als lebendiger Ort der Begegnung entstanden ist wird hoffentlich Bestand haben. Als Ort des Friedens mit der Möglichkeit, zu Atem und zur Besinnung zu kommen auf das, was wirklich wichtig ist und trägt.

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Dritter Brief aus Äthiopien 2018 – Groß rauskommen

Dritter Brief aus Äthiopien – Groß rauskommen

Liebe Freunde,

vor der Kirche in Kotobe habe ich zwei Nuer getroffen. Einen von beiden kannte ich schon vom letzten Jahr. Er ist Pastor der presbyterianischen Gemeinde der Nuer, die in der Kirche in Kotobe nachmitttags ihre Gottesdienste feiern dürfen. Die Gemeinde zählt etwa zweihundert Mitglieder. Sie sind alle vor den Bürgerkriegswirren im Südsudan geflohen. Äthiopien hat viele von ihnen aufgenommen. Und nicht nur Nuer, auch geflüchtete Menschen aus Somalia und Eritrea. Vermutlich hat Äthiopien viel mehr geflüchtete Menschen aufgenommen als Deutschland. Nur niemand in der Welt spricht darüber.

Der Südsudan ist der jüngste Staat der Welt. Zwei Jahre nach seiner Gründung im Jahr 2011 versinkt der junge Staat im Bürgerkrieg, der immer noch andauert. Vierzig hochrangige Militärs und Gouverneure sind wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Vier der zwölf Millionen Südsudanesen sind aus dem ölreichen Land vor der Gewalt gefohen. Zehntausende sind getötet. Die UN fordern seit l,angem schon die Einsetzung eines internationalen Gerichtshofs unter Beteiligung der Afrikanischen Union (AU). Länder wie der Südsudan sind Anlaß, an Afrika zu verzweifeln. Und dann begegnen einem Menschen, die sich schon vor Beginn ihres Gottesdienstes draußen versammeln und singen.

Die Nuer sind echt lange, tiefschwarze, beeindruckende Zeitgenossen. Als ich den Nuer-Pastor und dem Evangelisten der Nuer-Gemeinde wiederbegegne, muß ich mir im Gespräch doch ziemlich den Hals verrenken. Ich schlage vor, dass wir uns vielleicht besser im Sitzen unterhalten. Im Laufe des Gespräches muß ich immer wieder auf die „Schmucknarben“ im Gesicht der Männer sehen. Eine in der Kultur der Nuer verankerte Ausdrucksform von Zugehörigkeit. Ich sage: I like your tatoos. Im selben Moment bekomme ich einen Schreck über das, was ich gerade gesagt habe und schäme mich für meine kuulturelle Inkompetenz.

Der Nuer-Pastor fragt mich, ob ich nicht für einige Kinder seiner geflüchteten Gemeindglieder Stipendien organisieren kann. Ich sage ihm zu, seine Bitte an unsere äthiopischen Partner, die Bright Light Commission weiterzugeben. Vielleicht können wenigstens zwei Kinder der Flüchtlinge mit in unser Hilfsprogramm übernommen werden. Aber das will ich nicht entscheiden. Am Schluß unseres Gespräches habe ich jemanden gebeten, noch ein Foto von uns zu machen. Der das Foto machte, mußte sehr weit zurück gehen, um uns alle drei aufs Bild zu bekommen. Er hat sich schließlich entschieden, ein Brustbild von uns Dreien zu machen. Später sehe ich mir das Foto an: Ich sehe zwei lang aufgeschossene schwarze Männer und einen kleinen, dicklichen weißen Mann. Der sehr weiße Kopf des weißen Mannes befindet sich exakt auf Bauchhöhe der beiden schwarzen Männer. Lässig legen diese ihre Arme über die Schulter des weißen Mannes. Dabei blickensie unverwandt und doch gemütvoll in die Kamera. Der kleine weiße Mann dagegen scheint zu ahnen, was er bald zu sehen bekommen wird. Mir gefällt das Foto irgendwie. Es könnte die Überschrift haben: Gernegroß! Ein Foto jedenfalls, das ich mir (im Sinne der Realitätsüberprüfung) ansehen sollte,wenn ich mich gerade für ziemlich groß halte…

Am Abend habe ich mich mit einem früheren Mitarbeiter der Schweizer Hilfsorganisation SELAM in meinem Hotel getroffen. Ich habe den beglückkenden Eindruck, endlich den Mann getroffen zu haben, der in der Lage ist, das von mir seit vielen Jahren verfolgte Projekt einer Landwirtschaftsschule kombiniert mit einer Lehrwerkstatt für Landmaschinenreparatur und Landmaschinenhandel zu verwirklichen. Endlich jemand, der sich auskennt mit den notwendigen formla-bürokratischen Schritten und darüber hinaus die erforderliche technische und wirtschaftliche Kompetenz hat! Allerdings braucht er ein Startrkapital von etwa dreißigtausend Euro….Im nächsten Leben erbe ich hoffentlich eine Schraubenfabirk (oder Ähnliches), die vollautomatisch produziert und Gewinn einfährt, mit dem ich dann sinnvolle Projekte verwirklichen kann….

Jetzt gehe ich erstmal schlafe und träume von den millionen Schrauben und Schräubchen, wie sie in kleine und grössere Behälter fallen und wie ich am Ende jeden Monats zur Bank gehe, und den Gewinn kontrolliere. Ich sehe mich die eingegangenen Geldscheine zähle – immer wieder von vorne. Ich kann es nicht glauben…

Gute Nacht und herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Nowosaratowka und Nowgorod 2017

Nowosaratowka und Nowgorod 2017

Bericht von einem Seelsorgekurs in Nowosaratowka/ St. Petersburg und einem Ausflug nach Nowgorod im Oktober 2017

Ich bin wieder einmal in Russland. In St. Petersburg leite ich ein Seelsorgeseminar für die „Evangelisch-Lutherische Kirche im Europäischen Russland (ELKR). Am Stadtrand von St. Petersburg, direkt an der Newa gelegen hat die Kirche eine Aus- und Fortbildungszentrum. Es befindet sich auf einem Gelände, das schon zur Zarenzeit der lutherischen Kirche gehörte und das der Kirche Anfang der 90er Jahre vom Russischen Staat wieder zurückgegeben worden ist. Die lutherische Kirche, die hier einmal stand , hat eine schöne klassizistische Fassade mit Eingangssäulen, Blick zur Newa. Aber die Kirche und das damit verbundene sehr grosse Gemeindehaus ist ein „Rubelgrab“, weil das Gebäude hohe, grosse Räume hat, aber keinerlei Isolation und uralte Fenster.

Als Anfang der 90er Jahre die Lutherische Kirche – und natürlich auch die orthodoxe Kirche – von Unterdrückung befreit, wieder frei ihren Dienst ausüben konnten, errichtete man hier auf diesem früheren Kirchengelände ain Aus- und Fortbildungszentrum für die ganze lutherische Kirche in Russland – von der Ukraine(!) bis nach Wladiwostok. Inzwischen haben viele junge russische Pastoren der lutherische Kirche hier ihre theologische Ausbildung absolviert. Die Ausbildung hat Bachelor-Niveau und hat nur eine kirchen-interne Anerkennung. Aber es ist ein theologisches Niveau, das jedenfalls über das Nivaeu einer Bibelschule hinausreicht und eine einheitliche theologische Ausbildung der Pastoren sicherstellt.

Als ich mit dem Taxi vom Flughafen auf dem Gelände des Seminars in Nowosaratowka ankomme, ist alles menschenleer. Jemad öffnet mir die Eingangstür zum Seminargebäude. Die Außentür ist über einen Magneten zu öffnen, der den Türsummer und die Freigabe des Schlosses auslöst. Ich quetsche mich durch den engen Eingangsbereich und klopfe an die Tür „Hausmeister“. Der alte Wächter liegt mehr, als dass er sitzt in einem abgeschabten Sessel, der Fernseher läuft, der winzige Raum ist warm, der Mann schläft. Er sieht mich mit einem Auge an und reicht mir wortlos meine Schlüsselbund mit Zimmerschlüssel und Magneten für die Aussentür.

Jemand klopft an die Tür und Pawel, ein Kursteilnehmer aus Moskau betritt das Wächterzimmer. Ich kenne Pawel aus einem vorangegangen Kurs. Pawel spricht recht gut Deutsch. Mit seiner Hilfe beginnt ein Gespräch. Pawel und ich stehen. Ich stütze mich auf meinen Koffer. Der Wächter ist plötzlich hellwach. Er beginnt zu erzählen. Davon, dass er beruflich als Ingenieur in Estland gearbeitet und dort lange Zeit gelebt habe. Sein Sohn lebe in St. Petersburg. Er sei Professor an der Universität. Er selbst müpsse sich noch im hohen Alter Geld zur Pension dazu verdienen. Hier seien die Menschen nett zu ihm und viel zu tun gäbe es nicht. So vergeht die Zeit. Kak magu, tak krutschuss! – man tut, was man kann. Seine Pension als Ingenieur würde jedenfalls nicht zum Leben und zum Sterben schon gar nicht reichen. Und seinem Sohn und seiner Familie wolle er nicht auf der Tasche liegen.

Mein Zimmer ist eiskalt. Die Heizung sei entweder kaputt oder würde bei diesen Temeparturen noch nicht angestellt. Das Thermometer zeigt 8 Grad – draussen, wie drinnen. Wenn ich nicht Vorsorge treffe, werde ich mir die besten Teile abfrieren. Für die Nacht hole ich mir aus anderen Zimmer,n die noch nicht von Kursteilnehmern belegt sind, so viele Decken, wie möglich. Ein Deckengebirge türmt sich über mich. Ich werde bestimmt einen Albtraum haben. Aber nein, ich träume von ganz anderen Dingen…. Am nächsten Tag bekomme ich einen elekrtrischen Heizstrahler mit der Empfehlung, ihn Tag und Nacht laufen zu lassen, sonst würde das Zimmer ja nie warm werden. Ich halte mich an den Rat.

Hier habe ich vor fünf Jahren das erste Mal und auch danach Seelsorgefortbildungen angeboten. Jetzt geht es darum, der Seelsorge innerhalb der kirchlichen Arbeit mehr Bedeutung zu verschaffen. Das Bedürfnis der Menschen in der Gemeinden nach Seelsorge ist groß. Das bisherige Angebot jedoch sehr „handgestrickt“. Das heißt, jeder Pastor und Prediger macht Seelsorge, so gut er kann – aber eben ohne jede Ausbildung, die ihn für die Seelsorge qualifizieren könnte. Das soll sich ändern. Die Idee ist, fortlaufend an verschiedenen Orten Seelsorgefortbildungen durchzuführen. Und der Seelsorge in der Ausbildung der Pastoren einen qualifizierten Platz zu geben. (Bezogen auf die kirchliche Situation in Deutschland würden wir von „Mitwirkung in der Vikarsausbildung“ sprechen).

Außerdem ist daran gedacht – ähnlich wie in den U.S.A. Und Deutschland – , eine Organisation zu gründen, die eine fortlaufende qualifizierte Seelsorgeausbildung sicher stellen kann. Gedacht ist an eine Russische Gesellschaft für Seelsorge, Beratung und Supervision.

Der Kurs, den ich hier seit letzter Woche leite, soll als Pilotprojekt zum ersten Mal ein Weiterbildungs-Curriculum anbieten. Das Curriculum sieht drei Blöcke von jeweils 10 Tagen vor. Der erste Block soll Basiskenntnisse vermitteln und die beiden folgenden Blöcke sollen Aufbaukurse sein, die mit einem Zetrifikat abschließen. Danach soll es die Möglichkeit geben, an einem Kurs teilzunehmen, in dem die künftigen Kursleiter und Kursleiterinnen ausgebildet werden, um eigenständig Seelsorgekurse für die russische lutherische Kirche durchführen zu können.

Im jetzigen, ersten Kursblock gibt es 12 Teilnehmende. Sie sind engagiert, wissbegierig und bereit, die neuen Erkenntnisse möglichst schnell an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen umzusetzen. Mal sehen, wie es weitergeht….

Valaam – ein verhinderter Besuch der Klosterinsel

Eigentlich hatte ich geplant, mit einem Ausflugsschiff, das von St. Petersburg ablegt, zur Insel Valaam im Ladogasee zu fahren. Ein berühmtes altes orthodoxes Kloster. Nach der Revolution 1917 wurde es geschlossen und die Gebäude als Lagerräume genutzt. Einige der Mönche wurden umgebracht, die anderen flohen über die Grenze nach Finnland und gründeten dort ein neues Kloster: Neu-Valaam.

Im Sommer 1941 wurde die Insel Valaam beim Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion besetzt Nach der Befreiung Leningrads 1944 wurden die Räume des Klosters Valaam wieder von russischem Militär genutzt. Erst nach 1991 sorgte Putin dafür, dass das Kloster mit allen seinen Gebäuden der othodoxen Kirche zurück gegeben wurde. Jetzt leben hier wieder viele Mönche, und das Kloster Valaam hat für die Russisch-othodoxe Kirche eine ähnliche Bedeutung bekommen wie die Athos-Klöster in Nordgriechenland. Die Ausflugsschiffe fahren die Nacht durch, sodass man einen vollen Tag für den Aufenthalt im Kloster hat. Was ich nicht wußte: Ab Mitte Oktober fahren keine Ausflugsschiffe mehr….

Das habe ich aber erst am Tag nach meiner Ankunft in St. Petersburg von Bradn gehört. Bradn hat vor zehn Jahren einmal einen Seelsorgekurs in Omsk/ Sibirien bei mir gemacht. Er kommt aus Montana (USA), hat in St. Petersburg Russisch studiert, sich in eine Russin verliebt und sie geheiratet. Jetzt arbeitet er für die russische lutherische Kirche als Weiterbildner. Mit ihm zusammen habe ich den jetzigen Seelsorgekurs organisiert. Ich hatte mir extra zwei Tage vor Kursbeginn frei gehalten für den Ausflug nach Valaam. Und nun das. Wir sitzen mitten im Zentrum von St. Petersburg und trinken im ersten Stock des Singer-Hauses – einem prächtigen Bau vom Ende des 19. Jahrhunderts – einen Kaffee.

Nowgorod

Bradn meint, vielleicht sei Nowgorod eine schöne Alternative. Dort sei er einmal für ein paar Jahre Pastor gewesen. Die alte Stadt würde mit bestimmt gefallen. Nowgorod! Ich erinnerte , dass Nowgorod ein Juwel unter den alten Städten Russlands ist. `Patschemu njet?‘ – warum nicht Nowgorod? Ich hatte in meinen kleinen Stadt-Rucksack schon meine Übernachtungs-Utensielien eingepackt, weil ich dachte, dass am Abend das Schiff nach Valaam fahren würde. Also reisefertig bin ich. Wir fahren mit dem Stadtbus ein paar Stationen den Newski-Prospekt rauf und steigen am Moskauer Bahnhof aus. Mein Zug geht in zwei Stunden! Allerdings ein Bumnmelzug. Fahrtdauer: vier Stunden. Also gut. Bradn bestellt telefonisch ein Hotel in Zentrumsnähe für mich und bittet den Pastor der lutherischen Gemeinde in Nowgorod, mich vom Bahnhof abzuholen und in mein Hotel zu fahren. Und los geht’s.

Ich komme gut in Nowgorod an. Spät abeds werde ich von Igor abgeholt. Er ist Pastor in Nowogorod, Auch er hatte schon früher einmal einen Kurs bei mir gemacht. Ich komme mir ein bisschen vor wie der Apostel Paulus, der ja auch überall seine connections hatte. Das Hotel hat verblichenen sozialistischen Charme. Und vor allem: die Heizung funktioniert! Es ist heiß im Zimmer. Die Heizung läßt sich nicht regulieren. Ich schlafe bei offenem Fenster und mit voller Heizung. Geht auch.

Am nächsten Morgen besuche ich Nowgorod – diese zauberhafte alte Stadt am Ilmensee. Von meinem Hotel ist es nur eine viertel Stunde Fußweg bis zum Kreml. Ich breche früh auf, um den Tag zu nutzen für die Stadtbesichtigung. Ich weiß inzwischen, dass Nowgorod ein Kleinod der Geschichte Russlands ist und dass man eigentlich mehrere Tage bräuchte, um einen tieferen Eindruck von der Stadt zu bekommen. Auch in dem von keiner Stadtmauer umgebenen Teil der Altstadt von Nowgorod, in der sich mein Hotel befindet, gibt es viele alte und berühmte Kirchen und Klöster. Einige davon besuche ich, und bin sehr beeindruckt.

Besonders hat mich eine kleine, unscheinbare und etwas eingerückt von der grossen Strasse gelegene Kirche angesprochen. Ich sehe, wie mehrere Menschen in diese Kirche zum Gottesdienst gehen. Auch jüngere Menschen. Um in die Kirche zu gelangen, muß man über einen verwilderten Platz gehen und dann ein parr Stufen auf einer kleinen Holzstiege hochsteigen. Ich beobachte eine Weile, wie Menschen kommen und die Holzstiege hochgehen. Oben steht ein Mensch, der um Almosen bittet. Plötzlich bin ich mir unsicher, ob es sich wirklich um eine Kirche handelt. Auch Männer mit Aktentasche gehen diese Holzstige hoch. Ich bin neugierig, gehe über das verwilderte Grundstück und auch die Stiege hoch, an dem Menschen vorbei, der um Almosen bittet, öffne eine Holztür – und befinde mich in einem sehr kleinen Vorraum einer Kirche, in der – wie üblich – hinter einem Tresen Kerzen und Devotionalien verkauft werden.

Der Kirchraum ist mit Gläubigen gefüllt. Ich höre einen Chor im Wechselgesang mit dem alten Priester, der vor dem Altar und der Wand zum Allerheiligsten agiert. Ich schaue um die Ecke und sehe vier ältere Frauen und einen jungen Mann: der Chor. Sie singen mit Inbrunst. Vor mir viele brennende Kerzen. Eine alte Frau zündet eine Kerze in dem Kerzenhalter an und steckt die anderen brennenden Kerzen um, damit sie gut brennen können. Es ist warm in dem kleinen Raum. Eine familiäre, vertraute Atmosphäre. Wie in einem Wohnzimmer, denke ich.

Ein Fußweg führt durch einen kleinen Park. Um mich herum hohe Bäume mit Herbstlaub. Auch auf dem Boden. Vor mir sehe ich schon die rote Kremelmauer auf der anderen Seite des Wolchow. Und hinter der Mauer die goldenen und silber glänzenden Kuppel der St. Sophienkirche und die Backsteintürme der Stadtmauer. Ich gehe an einem großen Gebäude vorbei, das vielleicht einmal das Palais eines wohlhabenen Bürgers gewesen ist. Auch in dieses Gebäude strömen Menschen. Offenbar Eltern mit ihren Kindern. Eine Veranstaltung? Ich betrete das Gebäude und befinde mich in einer Eingangshalle, die mit Eltern und Kindern gefüllt ist. es gibt eine Garderobe. Davor Bänke.

Eine Frau kommt auf mich zu und fragt, wer ich bin und was ich möchte. Mir ist klar, dass ich als Fremder hier auffalle. Ich sage, dass ich aus Deutschland bin und and diesem Tag die Stadt kennen lernen möchte. Eine zweite Frau kommt auf mich zu. Sie stellt sich als Leiterin dieser Musikschule vor. Heute Morgen wird es eine Vorführung der Kinder geben: Traditioneller russischer Gesang und Tanz. Erst jetzt nehme ich wahr, dass die Kinder um mich herum in traditionellen russischen Kostümen gekleidet sind. Ein farbenprächtiges Bild in den landes-typischen Farben Rot und Blau. Die Leiterin der Musikschule bitte mich als Gast in den Probenraum: Einsingen! Was für ein hinreissendes Bild: die Kinder und Jugendlichen in der traditionellen Kleidung.

Die Musiklehrerin sitzt am Klavier und gibt Anweisungen. Ich bin gebeten worden, an einem Tisch im Probenraum Platz zu nehmen. Mir wird Tee und Gebäck gereicht. Ich nehme das für mich völlig unerwartete Geschehen in mich auf – und bin zu Tränen gerührt. Dann beginnt die Vorführung. Es gibt tatsächlich eine kleine Bühne und eine erhöhte Zuhörer-Empore. Ich werde in die erste Reihe gebeten. Neben mich setzt sich eine hinreissende ältere Dame (wahrscheinlich in meinem Alter). Sie ist offenbar gebeten worden, sich um den Gast zu kümmern und mit ihm Konversation zu machen. Auf Englisch. Wie sich herausstellt: sie ist pensionierte Lehrerin. Englisch und Musik. Sie ist schon ein Leben lang mit der Musikschule verbunden. Kennt alles und jeden.

Dann beginnt die Vorführung. Ein Zauber umgibt mich und nimmt mich mit hineinen in Gesang und Tanz und Märchenwelt. Die Kinder sind hinreissend! Und ihre Eltern und Großeltern vor Stolz und Freude kaum zu bremsen. Ich muss mich losreissen aus dieser wundervollen Atmosphäre: den größten Teil der Stadt habe ich ja noch gar nicht gesehen! Aber dieses Erlebnis steht in einem keinen Reiseführer!

Bis heute ist die Altstadt von Nowgorod mit einer kompletten Stadtmauer umgeben – ähnlich wie Visby auf Gotland. Ich bin begeistert! Ich wußte, dass Nowgorod eine der ältesten Städte Russlands ist. Ich hatte von den Warägern und den Rus gehört. Aber erst beim Besuch in Nowgorod habe ich einen tieferen Einblick in die Geschichte und Bedeutung dieser Stadt bekommen.

In Nowgorod spielt die Gründungsgeschichte Rußlands. In der Mitte des 9. Jahrhunderts entdecken die schwedischen Waräger unter Rurik einen neuen Handelsweg nach Asien: über das Baltikum, den Ladoga-See und die Flüsse Newa und Wolchow bis zum Ilmensee und dann weiter über die Wolga bis zum Schwazen Meer. Dieser Handelsweg wurde über eintausend Jahre benutzt! Die schwedischen Rus errichten eine Handelsniederlassung am Ilmensee und am Fluss Wolchow. Aus ihr entsteht schleißlich ein eigenes Fürstentum: das Nowgoroder Fürstentum, das über Jahrhunderte bestehen bleibt.

In der Mitte des 11. Jahrhunderts entscheidet sich der Nowgoroder Metropolit gegen die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche und für die -byzantinisch-orthodoxe Kirche. Nowgorod wird – neben Kiew – zu einem religiöses Zentrum. Bis heute sind viele der Kirchen mit ihren silber- und gold-glänzenden Kuppeln erhalten.

Nowgorod ist auch das älteste Bildungszentrum Russlands. Bereits zu Anfang des 11. Jahrhunderts wurde hier eine Schule. Diese Schule trug wesentlich zur Alphabetisierung der Bevölkerung bei.

Nowogorod wird zur Hansezeit eine wichtige Handelsniederlassung. Im Jahre 1192 gründet die Hanse in Nowgorod ein eigenes Kontor – den Peterhof. Mit eigener Kirche – der Peterkirche- , einer Brauerei und einer Bäckerei, einem Spital, einem Bad, einem Gerichtsgebäude und Gefängnis. Die Hanse hat auf ihrem „Hof“ eigene Gerichtsbarkeit. Die Händler der Hanse transportieren Rohprodukte nach Westeuropa (Pelze, Wachs, Honig, Holz) und Fertigprodukte nach Nowgorod (Metall, Waffen, Tuche, Glas sowie Wein, Bier, Salz und Heringe).

Im Jahre 1240 schlägt das von Alexander Newskj angeführte Nowgoroder Volksheer am Ufer der Newa das schwedische Heer unter Birger Jarl und zwei Jahre später das Heer der Deutschen Kreuzritter am Peipussee und wenige Jahre später erneut in der Schlacht bei Wesenberg.

Mitte des 15. Jahrhunderts schließen sich die Fürstentümer Nowogorod und Moskau (gegen Litauen) zusammen und legen den Grundstein für das zukünfige Russland. Die Nowgoroder prägen eigene Münzen. Auf ihnen war ein Reiter mit Speer abgebildet. Daher das Wort „Kopeke“, denn Speer heisst auf Russisch kopjo.

Was ich auch nicht wußte, aber bei meinem Gang durch die Stadt auf Schritt und Tritt begriff: Im 2. Weltkrieg war Nowgorod von August 1941 bis Januar 1944 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Nach der Einkesselung Leningrads versuchten im März 1942 die sowjetischen Truppen einen befreienden Durchbruch. Es kam südlich von Leningrad zu einer der verlustreichsten Schlachten des sogenannten „Rußlandfeldzugs“. Die Schlacht kostete auf beiden Seiten hunderttausend Menschen Leben und Gesundheit.

Bis zu meinem Besuch hatte ich ein eher romatisches Bild von Nowgorod: alte russische Stadt mit vielen Kirchen und Klöstern. Die Schrecken des Krieges in dieser Stadt sind mir erst jetzt bewußt geworden.

Mit dem Taxi lasse ich mich an die Stelle fahren, wo der Wolchow aus dem Ilmensee fließt. Eine breite, mit Seezeichen beschilderte Wasserstrasse. Hier also waren die Koggen der Hanse durchgesegelt….

Am nächsten Tag besuche ich den Sonntags-Gottesdienst in der Lutherischen Kirche. Ein unscheinbares kleines Gebäude, aber Nahe der Altstadt gelegen. Igar hält die Predigt. Leider muß ich gleich danach zu meinem Zug zurück nach St. Petersburg. Zum Abendbrot soll sich das erste Mal der neue Kurs treffen! Als ich mir am Schalter eine Fahrkarte kaufen will, werde ich angesprochen, ob ich nicht besser mit einem privaten Kleinbus nach St. Petersburg fahren möchte. Geht doppelt so schnell und ist genau so billig wie der Zug. Das leuchtet mir ein. In einem ordentlichen VW-Bus fahren wir mit durchgehend hoher Geschwindigkeit auf der vierspurigen Strasse nach St. Petersburg. Es gibt kaum Verkehr.

Meine Gedanken gehen zurück an die Waräger und hanseatischen Kaufleute, die hier entlang zogen. Aber auch an die Wolchow-Front und das Elend und die Schrecken des Krieges.

Nach zwei Stunden sind wir an einer südlichen Metro-Station angekommen. Alle Passagiere steigen aus und nehmen die Metro zur Weiterfahrt. Das mache auch ich und bin eine Stunde später zurück im Seminar in Nowosaratowka.

Inzwischen ist mein Zimmer so warm, dass ich beim Betreten das Fenster aufreiße. In meiner Abwesenheit ist hier ja Tag und Nacht der Heizstrahler gelaufen…. Was für eine Energieverschwendung! Es bleibt bei einem schwachen Versuch, mich selbst zu rechtfertigen: die Energiekosten sind in Rußland billig. Man hat doch genügend Gas und Öl….

Der Seelsorgekurs

Und dann beginnt unser Kurs! Es sind 12 KursteilnehmerInnen: 8 Frauen und 4 Männer. 1 ordinierte, alte Pastorin, ein Pastor, der eine Gemeinde auf der Krim hat, ein Superintendent aus Wolgograd und ein weiterer Superintendent aus Saratow – dem alten Zentrum der Wolgadeutschen. Zwei Laien-Predigerinnen kommen aus dem Ural. Eine von ihnen war im ersten Beruf Steinmetzin. Drei Ehefrauen sind mit dabei. Eine von ihnen mit Mann, drei Monate alter Tochter und Babuschka fürs Kind. Alle wohnen in einem genau so kleinen Zimmer wie ich wohne – nur bin ich in meinem Zimmer allein!

Nebenan haben sich Sergeij, der Kollege von der Krim und Pawel aus Moskau im Doppelstock-Bett eingerichtet. Pawel macht schon das dritte Seminar bei mir mit. Er zählt zu meinen Bewunderern. In der mir angeborenen Bescheidenheit beschreibt dies wahrscheinlich seine vorherrschende Motivation, am Seminar teilzunehmen. Pawel ist freundlich, liebenswürdigkeit, wißbegierig und wenn er zu einem Redebeitrag in der Gruppe anhebt, verdrehen alle die Augen: Pawel redet so lang wie das jüdische Exil, und je länger er redet, desto leidenschaftlicher. Wenn ich aber sage: „Pawel, gut so, glaube ich!“ hört er sofort auf. Ein bißchen unheimlich – aber Gott-sei-Dank wirkungsvoll.

Einer der beiden Pröpste, Vladimir ist gleichzeitig auch Stellvertretender Bischof der Europäischen Russischen Kirche und Stellvertretender Erzbischof der Lutherischen Gesamtkirche. Es wird sich am Ende des Kurses herausstellen, dass er „unser Mann in Havanna“ ist – nämlich für das strategische Vorgehen, um eine „Russische Gesellschaft für Seelsorge und Beratung“ zu gründen. Oder zumindest einen entsprechenden Verein. Oder zumindest einen entsprechenden Arbeitskreis…. (Die Bäume wachsen nicht in den Himmel.!) Aber die Gründung des Arbeitskreises ist uns tatsächlich am Ende gelungen.

Oleg, Propst von Wolgograd ist zum Leiter des Arbeitskreies gewählt worden. Das Amt des Propsten macht schon mal etwas her. Tatjana, seine Frau ist Schriftführerin. (Sie wird schon eine Stunde nach der Gründungsversammlung eiun schriftliches Protokoll der Sitzung vorlegen!). Im Übrigen ist sie aus meiner Sicht diejenige in der Gruppe, die immer am schnellsten begreift, worum es gerade geht. Sie hat Agrarökonomie/ Agrarökologie studiert und ist fast fertig mit ihrer Promotion.

Aber irgendwie ist die Berufung zum christlichen Glauben und die Heirat mit einem Pastor dazwischen gekommen Mit ihm hat sie zwei Kinder. Zur Zeit scheint sie mir sehr weit weg zu sein von der Fortsetzung wissenschaftlicher Arbeit. Sie ist Hausfrau, kümmert sich um die Kinder und den Mann und ist ehrenamtlich in der Gemeinde ihres Mannes engagiert. Oleg ist Pastor in Sarepta (am Stadtrand von Wolgograd).

Sarepta

Im Jahr 1765 erreichen die ersten deutschen Siedler aus der Oberlausitz diese Gegegend an der Wolge. Die Zarin Katharina II. weist ihnen sechs tausend ha Land zu. Wegen des salzhaltigen Bodens ist es landwirtschaftlich jedoch unbrauchbar. Die Siedlung ist eine Nachbildung von Herrnhut, einem Zentrum des deutschen Pietismus. Die Siedler beginnen einen regen Handel und betreiben eine erfolgreiche Iundustrieentwicklung ( Baumwoll- und Tabakverarbeitung). Sie gründen unter anderem eine Senf-Fabrik, die Senf und Senföl auch an den Zarenhof liefert. Die etwa dreißigtausend Wolgadeutschen werden während des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion auf Befehl Stalins nach Kasachstan, Kirgisien, Sibirien und in den russischen fernen Osten deportiert.

Oleg ist als Kind von „Wolgadeutschen“ in Kasachstan geboren. Viele seiner Verwandten sind nach der Perestroika (1990) nach Deutschland ausgewandert. Seine Eltern sind in das alte Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen zurückkehrt und Oleg ist jetzt in dem geschichtlich bedeutendenen Ort Sarepta Pastor und Propst in der Propstei Wolgograd.

Sergeij ist ursprünglich einmal Sportlehrer und Boxer gewesen. Er ist in Belgorod geboren. Zwischen Belgorod und Charkow hat mein Vater im August und September 1943 als Soldat gekämpft. Er hat darüber Tagebuch geschrieben. Am 8. September 1943 ist er südlich von Charkow gefallen. Heute grenzt dieses Gebiet an die seit 2014 umkämpfte Ostukraine. Die Begegnung mit Segeij im Kurs hat die Erinnerung an meinen Vater geweckt. Und irgendwie fühle ich mich gerade dadurch mit ihm verbunden.

Krim

Sergeij hat sich von seinem Bischof auf die – von Russland annektierte Krim – „schicken lassen“. Segeij: „Es hat sich niemand sonst gefunden.“ Sergeij ist erst seit Anfang des Jahres als Pastor in einer der fünf lutherischen Gemeinden, die es auf der Krim gibt, tätig. Die Gemeinde ist zerstritten. Aus Gründen, die nicht nur mit dem Ukraine-Russland-Konflikt zu tun haben. Auch innerhalb der Gemeinde gibt es Konkurrenzen und Intrigen. Sergeij sagt: „Hier kann ich nicht mit meiner Frau und unserer kleinen Tochter leben! Ich muss hier weg!“

Mich erinnert dies an meine eigenen Erlebnisse auf der Krim. Auf der Suche nach dem Grab meines Vaters bin ich im Somnmer 2001 zusammen mit meiner Tochter Anna Lena von Charkow mit dem Zug auf die Krim nach Jalta gefahren. In Jalta hatten wir Kontakt mit einer deutschen lutherischen Gemeinde. Wir waren bei einer Frau aus der Gemeinde zu Hause untergebracht. Gleich am ersten Tag erfuhr ich von Konflikten innerhalb der Gemeinde. Von Konkurrenzen und Intrigen – genauso, wie es Sergeij beschrieb. Ich erzähle ihm von meinen damligen Eindrücken, und er antwortet: „In der Gemeinde in Jalta hat sich seit damals nichts verändert!“

Die lutherische Kirche in der Ukraine nennt sich bis heute „Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine“. Es gab viele Diskussionen wegen des Zusatzes „Deutsch“. Aber bis heute keine Entscheidung. Die im und nach dem Krieg völlig zerstörte deutsche lutherische Kirche in Odessa wurde mit Hilfe von deutschen Spendengeldern sehr schön wieder aufgebaut. Auch das Gemeinde- und Pfarrhaus ist saniert und modernisiert worden. Mit mehreren Gästezimmern. Odessa ist der Sitz des lutherischen Bischofs. Dieser Bischof wird von Teilen der Kirche der Korruption und der Selbstherrlichkeit im Amt beschuldigt….

Ein zerrissnes Land. Eine zerrissene Kirche. Zerrissene Gemeinden und Familien. Man könnte denken, das alles irgendwie zusammenhängt. Auf jeden Fall entspricht die Destruktion und Selbst-Destruktion der Logik des Kreml, das Nachbarland so weit wie möglich zu destabilisieren. Offensichtlich ist nur die völkerrechts-widerige Annexion der Krim und die Unterstützung der Freischärler in der Ostukraine. Aber es gibt viele Ebenen der Destruktion, die sich wie ein Krebsgeschwür. ausbreitet Aus der Ost-Ukraine sind fast eine Million Menschen nach Russland geflüchtet und fmehrere Hundertausend als Binnen-Flüchtlinge in die westlichen Teile der Ukraine. Tausende sind in der Ostukraine geblieben und kämpfen täglich ums Überleben.

Die Lutherische Kirche im Europäischen Russland – zu der nach der Annexion irgendiwe oder nicht jetzt auch die lutherischen Gemneinden auf der Krim gehören – hat Anfang des Jahres eine Pastorenkonferenz in eben der Stadt abgehalten, in der Sergeij Pastor ist. Eine Entscheidung des Bischofs. Viele in der Kirche sagen: eine kluge Entscheidung, sich als lutherische Kirche nicht gegen die Putin-Regierung zu stellen. Aber einige Pastoren sind bewußt nicht mit auf die Konferenz gefahren….

Ende gut,alles gut

Ich könnte jetzt noch viel von den anderen KursteilnehmerInnen erzählen. Es würde zu viel werden. Oft sind es bewegende persönliche Geschichten und vieles von dem, was sie aus ihren Gemeinden erzählen, zeichnet ein vielfältiges Bild von der aktuellen Situation der lutherischen Kirche im Europäischen Russland. Ich bin sehr dankabr dafür, dass ich so viel Einblick gewinnen kann.

Der erste Kursteil ist jetzt erfolgreich beendet. Für mich war es eine einzige große Anstrengung, da ich den Kurs alleine geleitet habe. Ich habe den Kurs auf Deutsch (mit Dolmetscherin) und andere Teile des Kurses auf Englisch (mit Dolmetscher) geleitet. Mein Russisch ist weit davon entfernt, einen Kurs ohne Übersetzung zu leiten. Das ständige Übersetzen innnerhalb des Gruppengeschehens ist für alle Beteiligten anstrengend. Auch für die Dolmetscher und die Gruppe. Wir haben alles gut hingekriegt. Alle in der Gruppe sind am Ende sehr zufrieden. Ich bin erschöpft und froh.

Wir haben diesen Kursteil am Nachmittag mit einem Abendmahls-Gottesdienst und dem feierlichen Überreichen (das muß hier so sein!) der Teilnahme-Bescheinigungen gut beendet. Gott sei Dank!

Im Juni 2018 findet dann der zweite Kursteil statt – ebenfalls in St. Petersburg. Dann gibt es hier die berühmten „Weißen Nächte“…

Nowosaratowka bei St. Petersburg, im Oktober 2017

Nowosaratowka 2016

Nowosaratowka 2016

Bericht von einer Reise nach St. Petersburg und einem Seminar mit Pastoren und kirchlichen Mitarbeitern der lutherischen Kirche in Russland im März 2016

St. Petersburg! Nun bin ich schon öfter in dieser schönen und faszinierenden Stadt an der Newa gewesen – und immer wieder von neuem beeindruckt und bezaubert. Bei jedem Wiedersehen entdecke ich Neues. Vor zwei Jahren war es Zarskoje Selo mit dem prachtvollen Katharinenpalast und die Wassiljewskij-Insel wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts vierzigtausend Deutsche gelebt haben. Letztes Jahr war es das Alexander-Newskij-Kloster mit dem Tichwiner- und Lazarusfriedhof, wo die Gräber von Dostojewskij, Tschaikowskij, Rimskij-Korsakow und anderen Petersburger Berühmtheiten zu finden sind.

Dieses Mal habe ich die Petrograder Seite der Stadt für mich entdeckt. Den ältesten Teil von St. Petersburg. Hier errichtete Zar Peter der Große sein kleines Wohnhaus aus Holz – unweit der Peter-Paul-Festung. Wenn man durch die Straßen dieses Stadtteils schlendert hat man eher den Eindruck, in Paris, Wien oder Berlin der Jahrhundertwende zu sein.

Hier findet man die älteste Moschee Russlands und die ersten russischen Filmstudios aus dem Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Hier wohnte Maxim Gorkij und nach seiner Rückkehr aus dem Exil eilte Lenin vom Finnischen Bahnhof hierher, um vom Balkon der Villa Kschessinskaja seine Begrüßungsrede an das Volk zu richten. Es war ein taktisches Manöver der Obersten deutschen Heeresleitung, Lenin von seinem Züricher Exil im verplombten Zug zehn Tage über Sassnitz, Stockolm und Finnland nach Russland einreisen zu lassen, um einen Separatfrieden mit Deutschland zu bewirken.

Hier wohnt auch mein Kollege Bradn. Ihn hat es aus Montana nach St. Petersburg verschlagen, wo er seine russische Frau kennenlernte. Hier lebt er mit ihr und den drei Kindern seit vielen Jahren schon. Sie haben kürzlich in Petrograd eine geräumige Kommunalka gekauft. Nach der Revolution gingen die Stadtvillen des Adels und Großbürgertums in staatlichen Besitz. In den großen herrschaftlichen Häuser wurden viele Familien untergebracht. Die Häuser wurden nicht zu diesem Zweck umgebaut, sondern so an das Volk übergeben wie man sie vorfand. In der Praxis bedeutete es, dass viele Familien sich ein WC und ein Küche teilen mussten. Die Häuser verfielen, weil notwendige Reparaturen nicht erfolgten. Beschwerden über die oft unerträgliche Wohnsituation wurden ideologisch beantwortet, indem das beengte Zusammenleben als sozialistische Errungenschaft gefeiert wurde.

Noch heute gibt es viele Kommunalkas in St. Petersburg. Zum Teil sind es billige, aber herunter gekommene Mietwohnungen. Zum Teil werden die Wohnungen von der Stadt verkauft. In den letzten Jahren sind viele solcher Wohnungen günstig aufgegekauft, mit viel Geld modernisiert und mit Gewinn weiter verkauft worden. Eine Gentrifizierung wie im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Ich habe mich auf der Petrograder Seite der Stadt wie nirgendwo sonst wgleich sehr wohlgefühlt. Wenn ich in St. Petersburg leben würde, dann hier! Bradn ist einer der Dozenten am Theologischen Seminar in Nowosaratowka. Wir können und schätzen uns schon seit einigen Jahren.

Die russische lutherische Kirch und ihr Ausbildungszentrum in Nowosaratowka

Nach den großen Veränderungen Anfang der 90er Jahre, in deren Folge sich die Sowjetunion auflöste und das „neue Russland“ wie Phönix aus der Tasche hervorging brach auch für die Kirche in Russland eine neue Zeit an. Die Russisch-Orthodoxe Kirche wurde – wie zur Zarenzeit – in dem für die Gesellschaft insgesamt und für viele Menschen existenz-bedrohlichen Chaos unter Gorbatschow und Jelzin zu einem dringend benötigten Stabilisierungs-Faktor. Die orthodoxe Kirche wurde und wird systematisch gefördert – und benutzt.

Für die in der ganzen Sowjetunion verstreuten kleinen lutherischen Gemeinden und Hauskreise war der politische Umbruch eine Zeit der Befreiung. In den ersten zehn Jahren nach diesem Umbruch sammelten sich plötzlich lutherische Gemeinden, die es zuvor so nicht gab oder sich als Gemeinden gar nicht öffentlich zeigen konnten. Diese neuen Gemeinden blühten für eine kurze Zeit auf – und sie welkten ebenso schnell wieder dahin, als der große Aderlass begann und mehr als eine Million sogenannte Russlanddeutsche das Land verließen. Vor allem in Richtung „alte Heimat“: nach Deutschland.

In diesen Jahren organisierte sich die Evangelisch-Lutherische Kirche Russlands und anderer Staaten (ELKRAS). (Die lutherischen Kirchen in Kasachstan und der Ukraine gehörten damals noch dazu). Als Gliedkirche entstand die Evangelisch-Lutherische im Europäischen Russland (ELKER) mit Sitz in Moskau und die Evangelisch-Lutherische Kirche Ural-Sibirien-Russischer Ferner Osten (ELKUSFO) mit Sitz in Omsk.

Von Beginn an war die so organisierte lutherische Kirche ein Dach für Gemeinden mit unterschiedlicher Geschichte und unterschiedlich geprägter Frömmigkeit. Gemeinsam war allen die pietistisch-fundamentalistische Grundüberzeugung. Dazu kamen anderen lutherische Kirchen wie die Ingermannländische Kirche, die starke Verbindungen nach Finnland hat und wie auch die lutherische Kirche dort hoch-kirchlich geprägt ist.

Niemand weiß, wie viele Mitglieder die ELKRAS und ihre Gliedkirchen hat. Manche vermuten, dass es sich um zehntausend Mitglieder handelt. Andere sagen, dass es weit mehr sind.

In dieser Zeit entstand als Initiative der Gesamtkirche am Stadtrand von St. Petersburg ein Theologisches Seminar, das der theologischen und kirchlichen Aus- und Fortbildung dienen sollte. Hier in Nowosaratowka gab es bis zum Beginn der Bolschewistischen Zeit eine lutherische, deutsch-sprachige Gemeinde: Kirche und Gemeindehaus lagen direkt an der Newa . Auf altem „lutherischen Boden“ entstand nach der Perestroika das Theologische Seminar. Das vorhandene, große Gebäude konnte für das Seminar genutzt werden. Später kamen weitere, neue Gebäude hinzu.

Über mehr als zwanzig Jahre hindurch wurde hier der theologische und kirchliche Nachwuchs ausgebildet. Inzwischen gibt es nur noch wenige Pastoren, die aus Deutschland entsandt wurden. Die Gemeinden haben weitgehend ihre deutsche Prägung verloren. Junge, in Russland geborene Pastoren leiten die Gemeinden, die sich nicht mehr als deutsch-sprachige „Inseln“ im weiten Russland begreifen, sondern als lutherische Gemeinden im weiten Russland.

Fortbildung für Pastoren und kirchliche Mitarbeiter in der russischen lutherischen Kirche – unser Seminar

Gemeinsam mit meiner Kollegin, Pastorin Karin Ludwig-Brauer habe ich hier in den letzten Jahren mehrere Seelsorge-Seminare angeboten. Im aktuellen Seminar ging es um das Thema „Predigt“. Außer uns gab es zwei Dozenten und 15 Teilnehmende aus der Gesamtkirche. Unsere Aufgabe als Referenten bestand darin, Predigten zu besprechen mit dem Schwerpunkt: Wie authentisch wird gepredigt, wie kommt das Gesagte beim Hörer an und wie wird der biblische Text an die Hörer vermittelt.

Unsere russischen Kollegen haben auf dieser Fortbildung einen interessanten Input gegeben. Sie haben an die Teilnehmenden den Text einer Rede des russischen Landwirtschaftsministers verteilt und darum gebeten, dass sie aus dieser Rede in sprachlicher Hinsicht eine „Predigt“ machen. Also einschjägiges „religiöses Vokabular“ in dieser politischen Rede verwenden. Das ist offenbar sehr spannend gewesen.

Wir haben die Teilnehmenden gebeten, ein bekanntes Gedicht von Puschkin als Tier vorzutragen. Also: als Katze, als Giraffe, als Schlange, als Igel usw. Und während des Gedicht-Vortrags sich körperlich so zu bewegen, als seien sie dieses Tier. Es wurde zu einem Höhepunkt unseres Seminars! Die Teilnehmenden sind auf so geniale und überzeugende Weise in ihre jeweiligen Tier-Rollen geschlüpft als ginge es um die Präsentation der Abschlussklasse einer Hochschule für Schauspiel und Musik.

Wir haben uns gebogen vor Lachen, und es stockte uns der Atem vor Bewunderung. Gleichzeitig war der Inhalt des von einem Teilnehmer (!) ausgewählten Gedichtes auch nach fast zweihundert Jahren so aktuell, dass es einem wiederum den Atem verschlug. (Gedicht siehe Anhang).

Das Puschkin-Gedicht aus dem Jahr 1823 ist ein bitteres Gedicht: „… Weidet nur weiter, ihr friedlichen Völker! … Wozu den Herden die Gaben der Freiheit?/ Sie sind da, um geschlachtet oder geschoren zu werden./ Ihr Erbteil ist von Geschlecht zu Geschlecht/ das Joch mit den Schellen und die Peitsche.“ Puschkin stand den Dekabristen nahe. Die Dekabristen (nach dem Monat dekabr = Dezember) , junge Offiziere, verweigern 1825 dem neuen Zaren Nikolaj I. den Treueeid. Sie fordern die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Autokratie. Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. Die Anführer hingerichtet. Viele der Offiziere werden zur Zwangsarbeit nach Sibirien (Irkutsk) geschickt. Zwölf Jahre später stirbt Puschkin im Duell.

Einer der Seminarteilnehmer hatte für uns dieses Gedicht ausgesucht. Wir waren darüber genau so überrascht wie die Gruppe. Das Gruppengespräch über das Thema: „Politisch predigen?“ nahm natürlich Bezug auf das Puschkin-Gedicht. Ein Pastor aus einer Gemeinde in Sibirien sagte: „Wir sind uns darin einig, dass politische Äußerungen – welcher Art auch immer – bei uns in der Gemeinde tabu sind“.

Wir helfen in Not, aber wir wir führen keine politischen Gespräche. Bei uns gibt es mehrere hundert russische Flüchtlinge aus der (Ost)Ukraine. Sie bekommen vom Statt nur über drei Monate finanzielle Unterstützung. Dann müssen sie selbst sehen. Wir als Gemeinde versorgen sie mit Kleidung und Nahrung und anderen Hilfen.“ Ein anderer Pastor aus dem Wolgagebiet, das bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts eine überwiegend deutsche Bevölkerung hatte (aufgrund der Ansiedlungspolitik Katharina I.), die jedoch von Stalin zwangsweise umgesiedelt wurde – nach Sibirien, Kasachstan, Kirgisien, in den Altai und anderswohin: „ Wir haben einen Probst, der sich leider immer wieder politisch äußert. Das gefährdet doch unsere Gemeinden. Und ich versuche dann, die Menschen zu besänftigen, damit wieder Harmonie in die Gemeinden einkehrt.“ Und wiederum ein anderer Pastor: „ Wenn wir als evangelische Gemeinden nicht den Mund aufmachen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Situation, die wir haben, dann sind wir auch nicht besser als die Orthodoxen, die sich den Herrschenden schon immer unkritisch angedient haben. Wo Unrecht ist, müssen wir das als Christen benennen!“

Im Gruppengespräch wurde auch auf das augenblickliche Dilemma hingewiesen, in dem sich die Lutherische Kirche in Russland befindet. Die lutherische Kirchenleitung pflegt ein enges, geschwisterliches Verhältnis zu den lutherischen Gemeinden in der Ostukraine und der Krim. Noch vor wenigen Jahren lebte man unter einem gemeinsamen kirchlichen Dach. Es soll nicht sein, dass die veränderten politischen Verhältnisse das geschwisterliche Band zerreißt, dass bisher alle verbunden hat. In Begegnungen und gemeinsamen Verlautbarungen wurde immer wieder von allen betroffenen lutherischen Kirchen das Verbindende betont, nämlich das Wort Gottes, das ausgerichtet ist auf ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker.

Die lutherische Kirche in Russland wird von der Orthodoxen Kirche noch nie als gleichwertige Kirche und meistens nicht einmal als Kirche wahrgenommen. Seit mehr als 150 Jahren gibt es die Lutherische Kirche in Russland. Sie ist – wenn man so will – die zweit-älteste christliche Kirche in Russland. Vor den Baptisten und anderen evangelische Gemeinschaften. Völlig unerwartet gibt es Kontaktangebote des orthodoxen Patriarchen an die lutherische Kirche. Und jeder versteht, was dies bedeutet: Entweder ihr vertretet mit uns die nationalen russischen Interessen (und profitiert davon) oder ihr werdet behandelt wie andere „ausländische Agenten“ auch.

In informellen Gesprächen außerhalb des Seminars habe ich die Frage aufgeworfen, wo die lutherische Kirche wohl in zehn oder zwanzig Jahren sein wird. Unsere russischen Gesprächspartner haben sich nicht in der Lage gesehen, so weit voraus zu denken. Und wenn sie es taten, dann eher skeptisch und wenig hoffnungsvoll.

Für das nächste Jahr haben wir ein gemeinsames neues Seminar in Nowosaratowka oder anderswo in Russland geplant. „ Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber Gott lenkt seinen Schritt…“ Mit Dankbarkeit blicke ich zurück auf alle Begegnungen und Erfahrungen in dieser Zeit und bitte um Gottes Segen für all unser Tun Lassen.

Hannover und Bienenbüttel, März 2016

Kurt Jürgen Schmidt

Strastwutje Sibir! – Krasnojarsk 2014

Strastwutje Sibir! – Krasnojarsk 2014

Moskau zuerst

Im Oktober 2014 bin mal wieder unterwegs in Sibirien. Gemeinsam mit meiner Kollegin und alten Freundin Karin habe ich in Moskau in der Lutherischen Gemeinde ein Seminar zum Thema „Krisenintervention im Kontext der Gemeinde“ gehalten. Mein Eindruck war, dass die Teilnehmenden alle Ideen wie ein Schwamm aufgesogen haben. Und Probleme gibt es offenbar genug… Moskau zuerst. Ähnlich wie Paris im zentralistisch strukturierten Frankreich so auch Moskau in Russland: alle Wege führen über Moskau. Jedenfalls die Luftwege. Wieder einmal hat mich diese Stadt beeindruckt. Ihre Größe. Ihre Geschichte. Und ihr westliches Gesicht. Im Zentrum gibt es genauso viele Schickimicki-Läden wie in Hamburg oder München. Für mich auffallend: auf den Straßen und Plätzen, in den Fußgängertunnel oder U-Bahnstationen: nirgendwo auch nur ein Fitzelchen Unrat. Alles wie geleckt. Als wäre es gerade zurecht gemacht für den Besuch des Zaren. Aber nein: es ist immer so. Wenn ich da an Hannover denke – ach du meine Güte!

Und dann diese sehr angenehme Höflichkeit in den Restaurants. Gewöhnungsbedürftig für uns ist allerdings, dass die Bedienung einem den kaum geleerten Teller wegnimmt, kaum dass man fertig essen konnte. Zeitweise hatte ich den Eindruck, es sei vielleicht eine Art Sport unter der Bedienung, wer dem Kunden just in dem Mund den Teller wegräumt, wenn von ihm der letzte Bissen runter geschluckt wurde.

In der lutherischen Gemeinde in Moskau trafen wir den Pastor einer kleinen lutherischen Gemeinde an der Grenze zur Ukraine. Er erzählte davon, wie seine Gemeindeglieder geschlossen aus einer Siedlung der Wolgadeutschen zur Arbeit in den Fabriken der Stadt transportiert wurden. Geächtet und isoliert von den russischen Bewohnern, die in ihnen „Hitler-Faschisten sahen. Feinde. Kriegsverbrecher. Erstaunlicherweise hat sich seit den 90er Jahren in diesem Umfeld eine kleine lutherische Gemeinde gründen können

In unserem Gespräch stellt sich heraus, dass die Gemeinde nicht weit entfernt liegt von der Stadt KURSK. KURSK – wie zuvor STALINGRAD – symbolisiert die kriegsentscheidende Wende im Krieg zwischen Deutschland und Russland. Nicht weit entfernt liegt CHARKOW/ CHARKIV (ukrainisch)– ein Ort, der im aktuellen ukrainisch-russischen Konflikt immer wieder erwähnt wird und ein Ort, der für mich seit frühester Kindheit so bedeutungsvoll ist. Die Erde ist hier über viele Kilometer blutgetränkt und Hunderttausende liegen noch in dieser Erde.

Dieser Pastor plant, eine Friedens- Kapelle außerhalb der Stadt zu bauen und diese Kapelle zu einem

Ort der Versöhnung werden zu lassen für Deutsche und Russen. Ich habe gesagt, dass ich unbedingt daran interessiert bin, seine Gemeinde und diesen Ort eines Tages zu besuchen. Im Gespräch mit ihm erwähne ich, dass mein Vater in der Nähe von CHARKOW gefallen ist und dass er die Panzerschlacht am Kursk er Bogen und die Schlacht um Charkow mitgemacht hat. Ich erzähle, dass eine der letzten Tagebuch-Eintragungen meines Vaters lautet: „Als letzter deutscher Offizier das brennende Charkow verlassen“.

Charkow, die Stadt, die im Krieg viermal den Besitzer wechselte bis nichts mehr übrig geblieben war von ihr. Und ich erzähle von der letzten Tagesbucheintragung meines Vaters, drei Tage bevor er fiel: „Wir Deutschen haben uns versündigt an den russischen Menschen und wir werden dafür bestraft werden.“ Ich erzähle ihm auch davon, wie ich mich auf die Suche nach dem Grab meines Vaters begeben habe – und es tatsächlich fand. Und wie ich dabei einen inneren Frieden gefunden habe, nach dem ich mich ohne es zu wissen vielleicht schon immer gesehnt hatte.

In Gesprächen mit politisch wachen, regierungskritischen Menschen hören wir oft, dass in Russland nur sehr zögerlich der Weg in eine Bürgergesellschaft beschritten wird. Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten der russischen Verfassung sprechen viele Anzeichen dafür, dass dieser Weg offenbar verlassen werden soll. Es hat jedenfalls den Anschein, dass die Verwirklichung der Grundprinzipien der eigenen Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention immer bedeutungsloser wird.

Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) – insbesondere diejenigen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen – werden mit andauernden behördlichen Überprüfungen schikaniert und das im November 2012 in Kraft getretene „Agentengesetz“ wird jetzt konsequent umgesetzt. Die Formulierung „Organisationen, die die Tätigkeit eines ausländischen Agenden erfüllen“ lässt Spielraum für staatliche Willkür. Es geht offenbar um lückenlose Kontrolle des öffentlichen Raums.

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew, dessen Vater Stalins Dolmetscher war und der selbst als „unberechenbarer Intellektueller“ in seinem Land bezeichnet wird, weil er mal für und mal gegen Putin ist hat mit seinem neuen „Die Akimuden“ eine literarische Satire auf Russland geschrieben. Eine Mischung aus Historien- und Science-Fiction-Roman: Die Toten werden wieder lebendig, übernehmen die Macht und sehen sich als Retter Russlands.

Jerofejew will zeigen, dass Russland „ein Land der Toten ist“ Während der kommunistischen Revolution gab es Massenerschießungen und Massengräber. Viele Leichen verwesten auf den Feldern. Man brachte Menschen willkürlich und oft aus Habsucht oder Neid um und keineswegs nur aufgrund politischer Überzeugung. Aber, so Jerofejew, die Fähigkeit zur Besinnung auf die eigene Geschichte und zur kritischen politischen Analyse seien in Russland nie weit verbreitet gewesen. Wenn es den Menschen schlecht geht, werden die Umstände dafür verantwortlich gemacht und nicht die handelnden Personen. So wurde der Zar mit all seinem Prunk und seiner Volksferne eingetauscht gegen „die Partei“, der Kommunismus gegen den ungebremsten Kapitalismus und jetzt möchten viele den Putinismus wiederum gegen etwas Besseres tauschen. Aber gegen was?

„Inzwischen kennen wir uns besser aus mit Mobiltelefonen als mit dem Sinn unseres Lebens“. Der Westen wird von vielen Menschen in Russland als agnostischer Sumpf erlebt. Ohne Glauben an irgend wen und irgend was. In Russland scheint es das Gegenteil zu sein. Jeder kritische Gedanke versinkt in Metaphysik und Mysterium. Das führte ganz unerwartet zu einer prachtvollen Auferstehung der bereits tot geglaubten orthodoxen Kirche. In ihren Gottesdiensten geht es immer schon darum, dem Himmel näher zu sein als der Erde. Das religiöse Erleben des Unbegreiflichen gilt mehr als der kritische Verstand.

In einem seiner Bücher schreibt Jerofejew, man müssen den Russen die Demokratie so streng verordnen, wie einst Katharina die Große den russischen Bauern die ungeliebte Kartoffel verordnet hat. Jerofejew: „Alexander Puschkin hat im 19. Jahrhundert gesagt, der einzige Europäer in Russland sei die Regierung. Das gilt bis heute…. Putin ist wahrscheinlich liberaler als 80% der Bevölkerung…. Wenn der ganze Westen Putin als Diktator oder als Halbdiktator ansieht, er aber liberaler als als 80% der Russen ist, dann sind wir in einer verzweifelten Lage.“ Putin könne sich selbst nicht so richtig entscheiden, wer er sein will, und das ganze Land schwankt mit ihm hin und her.

Jerofejew: „Es gibt viele verschiedene Russlands: das nationalistische, das kommunistische und auch das religiöse… Vor dem Erstarken der orthodoxen Kirche sollten wir uns am meisten in Acht nehmen…“. Gehört Russland zu Europa? Das Gesicht des Westens ist geprägt durch den Wunsch nach vollkommener Sicherheit. Dafür steht der Brüsseler Verordnungswahn. Was Russland von diesem Westen unterscheidet: Das Chaos, die Bereitschaft, auch starke Gefühle auszuleben und vor Tragödien nicht zurück zurückzuschrecken, sondern ein tragisches Ende geradezu heraufzubeschwören.

Im heutigen Russland sind die berühmtesten Dissidenten drei junge Frauen von Pussy Riot. Die russischen Frauen hätten die Nase von von den Männern, die nur dominieren und saufen wollen. Die Frauen in Russland seien interessanter als die Männer. Deshalb wollen viele moderne russischen Frauen auch lieber andere Frauen als Partner. Die Frauen von Pussy Riot trafen mir ihrer Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale auf den Punkt.

Zur Feier des Sieges über Napoleon hatte Zar Alexander I. 1839 den Bau der prunkvollen Kathedrale in Auftrag gegeben. Allein die goldenen Kuppeln waren mit 400 kg Gold verziert. Als Stalin an die Macht kam, duldete er keine anderen Götter neben sich, und da die Kathedrale in Sichtweite des Kreml lag, ließ er sie kurzerhand sprengen.

Ab 1993 wurde an dieser Stelle mit dem Neubau einer Kathedrale begonnen, die wie keine sonst die Symbiose von Staat und orthodoxer Kirche repräsentiert. Das Innere ist mit 100 Tonnen Blattgold verziert. Hier ist die Skulptur der Krönung des kleinen Hirtenjungen David zum König zu sehen. Er hatte Goliath niedergestreckt. Und gegenüber befindet sich, in gleicher Größe, die Krönung eines frühen Zaren durch seine Soldaten. Pussy Riot traf den Nerv der „heiligen Allianz“ von Thron und Altar als die protestierenden Frauen vor dem Altar ihre Brüste entblößten und die „nackte Wahrheit“ zeigten.

Spät abends auf dem Roten Platz. Alle Gebäude und Mauern ringsum illuminiert. Die Zwiebeltürme, die lange Fassade des Kaufhaus GUM, das Lenin-Mausoleum. (Kommt der Ausdruck „mausetot“ eigentlich daher?). Wie aus dem Märchenbuch….Moskau unterirdisch zu erleben ist allein schon eine Reise wert. Die U-Bahnstationen in ihrem stalinistischen Prunk. Und das zeitlich parallel zur Vorstellung von wahrer und schöner Kunst in Nazi-Deutschland. Diktaturen sind offenbar bis ins Detail alle gleich. Aber genug erzählt von Moskau, denn Moskau war ja nur Zwischenstation.

Unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn

Es folgen (fast) vier Tage und Nächte mit TRANSSIB über den Ural und das westliche Sibirien bis in die geografische Mitte Russlands: nach Krasnojarsk. Wieder in der TRANSSIB. Ich genieße es ganz unmittelbar so zu reisen. So gemächlich. So laut wie es sich für eine Eisenbahn gehört. Rums, rums, rums antworten die Räder bei jedem neuen Stück Gleis. Und draußen zieht die wohltuend gleichförmige, unspektakuläre weite Landschaft vorüber. Einladung zu meditativem Nachdenken. Eine Form der klassischen philosophischen peregrinatio .

Aber wenn man gedacht hat, dies sei eine gute Gelegenheit sei, endlich den Roman zu lesen, den man schon so lange lesen wollte, der hat sich vielleicht getäuscht. Es ist so ähnlich wie beim Segeln: über lange Zeit kann das ein ziemlich gleichförmiges und in gewisser Weise lang-weiliges Geschehen sein. Aber zum Bücherlesen bin ich da auch niemals gekommen. Irgendetwas gibt es immer zu beobachten: die Mitreisenden, die Wagen-Schaffnerin, die Frauen die den Reisenden Nüsse und Wurstwaren und getrockneten Fisch anbieten.

Man sollte für den notwendigen Gang auf die Zugtoilette den Zugfahrplan im Blick behalten. Eine halbe Stunde vor einer Station und eine halbe Stunde nach Abfahrt aus einer Station bleiben die Zugtoiletten geschlossen. Warum? Da, gospadin. War schon immer so. Und in der Not gibt es keine wirklichen Alternativen Allenfalls zwischen den Waggons. Man verlässt seinen Wagen und steht plötzlich im Freien. Der Übergang zwischen den Waggons ist gewöhnungsbedürftig.

Die Wagen machen während der Fahrt unterschiedliche Bewegungen Während man mit einem Fuß noch auf der Plattform des einen Wagens steht und gerade den anderen Fuß auf die Plattform des anderen Wagens setzen will, merkt man, dass die Wagen während der Fahrt unterschiedliche Bewegungen machen. Ich komme mir vor wie auf dem Kinderspielplatz auf einer dieser Seilbrücken. Die Kinder rennen wie Nichts darüber. Mit gut koordinierter Körperbewegung. Aber alte Knochen wollen doch lieber stabilen Boden. Hinzu kommt, dass die Plattform zwichen den Wagen im Winter ziemlich zugeschneit ist…

In der TRANSSIB gibt es oft interessante Begegnungen. Im Speisewagen kamen wir mit einer Geigerin aus den Niederlanden ins Gespräch. Tanja. Sie war auf dem Weg von Amsterdam nach Peking. Mit der TRANSSIB wegen ihrer Flugangst. Sie leitet ein kleines Orchester, das eine Tournee durch China geplant hat. Alle anderen Mitglieder des Orchesters fliegen nach Peking. Im Gespräch haben wir festgestellt, dass wir gemeinsame Bekannte haben – aus meinem Dorf! Tanja war einmal befreundet mit dem jüngsten Sohn des damaligen Dorfpfarrers.

Meine Mutter hatte viele Jahre unter seiner Leitung im Kirchenchor gesungen. Und bei der Trauung meiner Tochter hat er mit einem Streichquartett musiziert. Über die Musik hatte auch Tanja Kontakt mit der Familie. Nun soll ich versuchen, den Kontakt zur alten Jugendliebe wieder herzustellen…

In unserem Vierer-Abteil begegneten wir auch Sergej. Er kümmerte sich sehr um uns. Zeigte uns, wie man die Betten ordentlich bezieht und wo das Reisegepäck am besten zu verstauen ist. Sergej bewegte sich in dem engen Zugabteil sehr gelenkig. Geradezu akrobatisch. Wir dachten schon, dass er irgend etwas mit Zirkus zu tun haben könnte. Aber dann stellte sich heraus, dass Sergej Schauspieler ist und gerade von einem Engagement in Moskau kam und jetzt zurück nach Hause fuhr.

Sergej macht sowohl klassisches Schauspiel wie auch Puppentheater. Ich bitte ihn, uns doch einmal aus einer seiner Rollen etwas vorzusprechen. Sergej überlegt kurz, ob wir das ernst meinen. Ich nicke ihm vergewissern zu. Als erstes nimmt Sergej nimmt eine Körperhaltung ein, die ihn in Übereinstimmung mit der Rolle bringt, um die es gleich gehen wird. Er gestikuliert und rezitiert leiden-schaftlich. Spannungs-geladene Pausen. Variationen von lautstark und leise. Es geht um eine Figur aus Hendrik Ibsen´s „Das Puppenhaus“. Sergej ist phänomenal! Und wir sind hingerissen. Wo hat man das schon: eine solche Vorführung. In der TRANSSIB. Gerade als der Zug den Ural überquert…

Nachdem Sergej seinen gebührenden Ruhm genossen hat, fragt er uns, was wir so machen. Und als wir ihm sagen, dass wir Psychodramatiker sind, ist Sergej nicht mehr zu halten. Dramatiker! Großartig Er springt auf und bedrängt uns , ebenfalls eine Rolle vorzusprechen. Was tun? ch will Sergej nicht enttäuschen. Also setze auch ich mich in eine konzentrierte Ausgangsposition. Aber wie weiter. Ich sehe aus dem Zugfenster. Verschneite sibirische Landschaft zieht an uns vorüber. Birken. Holzhäuser. Und dann deklamierte ich so dramatisch wie möglich das, was sich vor meinen Augen abspielt: sibirische Landschaft, Birken, Holzhäuser.Und was sich abspielen könnte hinter den beleuchteten Fenstern und in den verschneiten russischen Wäldern. Es könnten dramatische Ereignisse sein….

Als ich fertig bin mit meiner Vor-stellung klatscht Sergej begeistert Beifall. Ich bin ganz verblüfft. Er war offensichtlich angetan von meiner Darbietung und fragt: „Hamlet?“ Das erschreckt mich. Und ich stotterte: „Nein, Richard II.

Eine kriminelle Bande gründen – auf intelligente Weise

Nun sind wir in Krasnojarsk angekommen. Moskau ist 4000 km entfernt. Gleb, unser russischer Kollege empfängt uns am Bahnhof. Gleb hatte vor zwei Jahren einen Kurs in Omsk gemacht, den Karin und ich geleitet haben. Als er Abitur machte war die Zeit der Perestroika unter Gorbatschow und dann herrschte über Jahre das Chaos in Russland. Viele Menschen geraten ins Straucheln und in die Armut. Angesehene Wissenschaftler verkaufen auf der Straße, alles was zu Geld zu machen ist. Und im Kaufhaus GUM gibt es nur noch Gläser mit Gurken aus den Datschen zu kaufen.

In dieser Zeit entschließt sich Gleb, eine kriminelle Bande zu gründen und reich zu werden. Gleb will die Bande so organisieren, dass sie „auf intelligente Weise kriminell“ ist. Gleb weiß nicht, dass gerade in diesem Moment etliche andere dabei sind, auf „intelligente Weise“ zu Reichtum zu kommen. Die Leiter von industriellen und landwirtschaftlichen Kombinaten, die viel Geld, das ihnen nicht gehört in die Hand nehmen und privatwirtschaftlich investieren. In kurzer Zeit bildet sich ein Kreis von wenigen super reichen Wirtschaftsoligarchen, die die Jahre des „alles geht“ für sich nutzen.

Gleb wird von Mitgliedern einer konkurrierenden Bande auf der Straße zusammengeschlagen, mit Füssen getreten und auf die Straße geworfen, wo ein Auto ihn anfährt. Schwer verletzt kommt er in ein Krankenhaus. Er hat Glück, dass er überlebt. Gleb, der radikale Sinnsucher wählt jetzt einen anderen Weg. Ein orthodoxer Priester aus seiner Heimatstadt Uljanowsk – Geburtsstadt von Lenin – bringt ihn auf den Weg des Glaubens. Er rät ihm, zu studieren. Gleb studiert Astrophysik, Kunst und Geschichte. Das Angebot seines Professors, zu promovieren schlägt er aus. Statt dessen studiert er in der einzigen Ausbildungseinrichtung für Pastoren der lutherischen Kirche in Russland evangelische Theologie.

Mit entsprechender Protektion hätte Gleb wahrscheinlich einer der Wirtschaftsoligarchen werden können oder in der Hierarchie der russisch-orthodoxen Kirche aufsteigen oder eine wissenschaftliche Karriere machen können. Gleb entscheidet sich dafür, als Pastor einer kleinen lutherischen Gemeinde nach Sibirien zu gehen.

Lutherische „Kirche“ in Krasnojarsk

Gleb hat uns eingeladen, einen einwöchigen Workshop für Pastoren und kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verschiedener lutherischen Gemeinden in Sibirien anzubieten. An diesem Workshop sollen auch Vertreter anderer christlicher Kirchen der Stadt teilnehmen: aus der orthodoxen Kirche, aus verschiedenen baptistischen und pfingstlerischen Gemeinden und aus der kleinen lutherischen ingermannländischen Gemeinde in Krasnojarsk.

Gleb hat in kurzer Zeit einen „Runden Tisch der Leiter christlicher Gemeinden in Krasnojarsk“ organisiert, der das Zustandekommen dieses ungewöhnlichen Seminars ermöglicht hat. An den meisten anderen Orten in Russland gibt es heftige Konkurrenz der verschiedenen, zum Teil sehr kleinen lutherischen Gemeinden untereinander. Auch zwischen den anderen evangelischen Gemeinden, die sich theologisch und kirchenpolitisch wenig zu sagen haben. Und die mächtige, durch den Staat protegierte orthodoxe Kirche hat insgesamt wenig Neigung, mit Andersgläubigen überhaupt Kontakt zu haben. Sie ist spätestens seit Putin zu einer staatstragenden Größe herangewachsen. Hoch subventioniert durch den Staat. Sie war immer schon ein Instrument der Herrschenden in Russland.

Überall sind neue orthodoxe Kirchen entstanden. Vor allem aber in der kommunistischen Zeit zerstörte Kirchen an derselben Stelle wieder aufgebaut. Mit staatlichen Geldern. In staatlichem Interesse. Ein wesentlicher Beitrag nationale Identität zu stiften. Solange orthodoxe Liturgie als „göttliches Ereignis“ verstanden wird, solange die „weltlichen Dinge“ die Kirche nicht wirklich interessiert und weder bestehende politische Verhältnisse noch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation in Frage gestellt wird – solange ist diese Kirche als verlässlicher Stabilisierungsfaktor gar nicht hoch genug zu schätzen.

Die lutherische Kirche ist zwar die älteste nicht-orthodoxe Kirche in Russland – nämlich seit dem 18. Jahrhundert – , aber sie ist zahlenmäßig verschwindend klein. In ihr hat die pietistisch geprägte brüdergemeindliche Tradition zu Anfang des 18. Jahrhunderts eine besonders starke Bedeutung. Für die deutschen Kolonisten an der Wolga, auf der Krim und anderswo im weiten Russland hatten diese kleinen, frommen Gemeinden und Hauskreise eine große Bedeutung. In Not- und Verfolgungszeiten hatten sie etwas Tröstliches und Vergewisserndes. Anfang der 90er Jahre zeigte sich erst allmählich, wo überall im Land – gewaltsam zerstreut durch Verfolgung, GULAG und Deportation – kleine Gemeinden am Leben geblieben waren.

Mehr als zwei Millionen sogenannte „Russlanddeutsche“, die in diesen Gemeinden ihr Zuhause hatten, sind innerhalb von wenigen Jahren nach Deutschland gezogen, um hier Sicherheit und Heimat zu finden. Die alten Menschen sind oft geblieben. Sie sahen ihre Wurzeln in Russland. Insbesondere in Ehen, in denen es russische Partner gab. In den verbliebenen lutherischen Gemeinden hat es vielfach Interessenkonflikte zwischen „deutschen“ Gemeindegliedern und „russischen“ Gemeindegliedern gegeben. In der ersten Hälfte der 90er Jahre, als die lutherischen Gemeinden wieder „arbeiten“ durften, hatte die deutsch-lutherische Tradition eine maßgebliche Bedeutung. Jetzt geht es darum, ob eine solches rückwärts gewandtes Empfinden für die Kirche zukunftsfähig sein kann.

Der Konflikt wird als „Sprachenkonflikt“ ausgetragen: die deutsch-traditionellen Gemeindeglieder möchten deutsch-muttersprachige Pastoren und Prediger haben. Die findet man aber nicht mehr in Russland. Deshalb hat es etliche pensionierte Pastoren aus Deutschland gekommen, die über einige wenige Jahre, manchmal aber auch über viele Jahre den lutherischen Gemeinden in Russland gedient haben. Zum Beispiel gibt es in Wladiwostok einen ursprünglich Hamburger Pastor, der seit mehr als zwanzig Jahren in Wladiwostok tätig ist und als Superintendent die Gemeinden im Russischen Fernen Osten betreut.

In Omsk, viertgrösste Stadt in Russland, wurde Ende der 90er Jahre ein eindrucksvolles lutherisches Gemeindezentrum gebaut: mit großer Kirche, Versammlungs- und Gruppenräumen und Übernachtungs-Möglichkeiten. Der Gedanke war, dass die verstreuten kleinen Gemeinden im Umkreis von vielleicht hundert oder zweihundert Kilometern hier ihr kirchliches Zentrum haben.

Auch in Krasnojarsk, ebenso wie in Tomsk, Abakan und Nowosibirsk gab es schon seit mehr als einhundert Jahren eine größere deutsch-lutherische Gemeinde – im Vergleich zu den vielen sehr kleinen Gemeinden im weiten Umfeld. Aber in den letzten zwanzig Jahren hat deutsche kirchliche Tradition, Denkweise und Sprache an Bedeutung verloren. Heute wird die lutherische Gemeinde in Krasnojarsk von einem jungen

Pastor geleitet, der ganz mit russischer Sprache und Kultur aufgewachsen ist und die Gemeinde als lutherische russische Gemeinde versteht – und nicht länger als deutsche lutherische Gemeinde in Russland.

Das Seminar in der lutherischen Kirche in Krasnojarsk

Das Seminar wird im Gottesdienstraum des Gemeindehauses der lutherischen Gemeinde stattfinden, in der Gleb Pastor ist. Hier wohnt er mit seiner Frau Nastja. Gleb und alle anderen sprechen allerdings immer von ihrer „Kirche“. Wir sind gespannt, wer wohl zum Seminar kommen wird. Es haben sich etwa fünfzehn Personen interessiert gezeigt, aber nur wenige fest zugesagt. Die Teilnehmenden sollen problematische Fälle aus ihren eigenen Gemeinden einbringen, die dann in der Gruppe bearbeitet werden. Außerdem soll es zu verschiedenen Themen wie z.B. Suizidgefährdung, Suchtproblematik, Depression, psychische Erkrankungen Theorieeinheiten geben.

Wir sind ganz am anderen Ende der Stadt in einem einfachen Hotel untergebracht. Jeden Tag müssen wir hin und zurück über eine der Jenisseij-Brücken fahren. Unser Hotel liegt in der Nähe des Jenissej im Hafengebiet. Als der Hafen noch aktiver in Betrieb war, wurden in diesem Hotel die Hafenarbeiter untergebracht. Viele von ihnen kamen von weit her. Jetzt schien das Hotel nur noch wenige Gäste zu haben.

Heute morgen wurde wir von den Mitarbeiterinnen an der Rezeption auf deutsch mit einem freundlichen „Guten Morgen!“ begrüßt. Wir sind in einem Appartment untergebracht: ein Eingangsbereich von dem WC und Dusche und zwei Zimmer abgehen. Ich habe gehört, dass es diese Konstruktion in vielen russischen Hotels gibt.

Bei unserer Ankunft fliegen am Himmel über Krasnojarsk russische Jagdgeschwader ihre Kunststücke. Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen für unseren Empfang. Gleb klärt uns auf: Übungsflüge für den nächsten „Tag der Luftwaffe“. Nachdem Gleb uns am Bahnhof abgeholt hatte, fuhr er uns in seinem Auto – ein Skoda auf Basis eines französischen Renault und ausgewiesen als russischer Lada – direkt zu seiner Kirche. Ein zwei-stöckiges Einfamilienhaus aus Holz : Eingangsbereich, Bad, Küche und Gemeindesaal im unteren Bereich und im oberen anderthalb Zimmer für das Pastoren-Ehepaar. Was wir nicht erwartet hatten: eine Sauna, eine russische Banja, die einfach dazu gehört. Gleb hatte die Sauna schon vorgeheizt. Ach wie wunderbar war dies nach der langen Reise!

Nach dem Abendbrot findet unsere erste Veranstaltung statt. Im Gemeindesaal, in dem im übrigen das ganze Gemeindeleben stattfindet – angefangen von Gottesdiensten über Musik- und Jugendgruppen, Gebetskreisen und Seelsorgegesprächen – erleben wir das erste Bibliodrama in dieser Stadt. Es sind vor allem Jugendliche aus der Gemeinde, die daran teilnehmen. Wir sind erleichtert, das alle begeistert mitgemacht haben. Was für ein vielversprechender Anfang!

Piere Curie, Immanuel Kant und German Gesse

Wir sitzen in der gemütlichen kleinen Küche. Um den Tisch sitzen die Menschen dicht gedrängt. Einige haben – wie üblich – die eine und andere Kleinigkeit zum Essen mitgebracht. Blini und süßes Gebäck, Tee und einen selbst gebackenen Kuchen. Auf der Fensterbank schleicht Piere Curie um die Blumentöpfe herum und ist bereit, zum Sprung auf den Tisch, um die Leckereien näher zu betrachten. Piere Curie ist der braun-gefleckte Hauskater. Er führt ein herrliches Leben: er lässt sich von jedem streicheln und auf den Schoß nehmen. Er wird gekrault und geschmust, dass man neidisch werden könnte.

Während unseres Seminars sitzt er vor der Tür und miaut so herzerweichend oder nervig – je nach inneren Einstellung des jeweils Zuhörenden – dass sich noch immer jemand gefunden hat, ihn reinzulassen, damit er am Geschehen teilhaben kann. Und wieder wird er ohne Ende gestreichelt und geschmust. Aber am schönsten scheint es für ihn zu sein, wenn der Pastor ihn unter seinen Pullover nimmt und Piere nur mit dem Kopf oben herausschaut und sicher sein kann, dass er allen den Kopf verdrehen kann und die Seminarleitung den Faden verliert.

Ganz anders geht es da Immanuel Kant. Der hat draußen im Hof seine Hundehütte und liegt an der Kette. Schreckliches Schicksal. Wenn man sich nicht beeindrucken lässt von dem, was seine eigentliche Aufgabe ist – bellen und gegebenenfalls ins Bein beißen – erweist sich Immanuel Kant mit Sicherheit weniger spröde als sein Namensgeber und eher streichelsüchtig. Immanuel Kant hat noch einen herumstreunenden, herrenlosen Kollegen, der zwar ein Halsband aber keinen Besitzer hat. Beide fressen bis auf weiteres aus dem selben Blechnapf.

Unser Kollege Gleb hat ihn prophylaktisch schon einmal German Gesse getauft. (Im Russischen ist es schwierig, das H am Anfang eines Wortes zu sprechen). Der Hund soll schließlich Anschluss finden an die gebildeten Kreise. Ich selbst habe nicht gleich geschaltet, als ich von Gleb als „Kollege aus Ganover“ vorgestellt wurde. Zuerst dachte ich, es sei eine Steigerung von Ganove. Wer weiß…

In unserem Hotel gab es vorsichtshalber erst Frühstück ab 10 Uhr. Dann aber gleich mit der Möglichkeit, es auch als Mittagessen einzunehmen. Wenn wir früh morgens die Hotelhalle betraten saßen ringsum schon Menschen, die auf die Öffnung des Speiseraumes warteten. Am zweiten Morgen haben wir es vorgezogen, uns einen eigenen Platz zum Frühstück zu suchen. Gar nicht weit entfernt, direkt gegenüber dem verfallenen ehemaligen Kino mit der Mosaikwand, auf der eine hochgestreckte Arbeiterfaust zeigt, wo es lang geht.

In dem gemütlichen kleinen Restaurant haben wir uns sofort zu Hause gefühlt. Erst habe ich gedacht, dass es nur an den ebenso freundlichen wie attraktiven jungen Frauen lag, die uns bedienten. Dann aber wurde mir klar, dass es an den Fotos an den Wänden lag: Bilder von Rotenburg ob der Tauber… Wow!

Zum Frühstück wurde uns eine Speisekarte vorgelegt. Lesen ging noch. Aber verstehen? Am dritten Morgen hatte ich Lust auf ein gekochtes Ei. Ich hätte gern ein gekochtes Ei. Ja freilich. Gekochtes Ei auf Englisch, auf französisch und sogar auf russisch (mein russisch): nichts zu machen. Ich habe ein Ei (oval) mit den Händen geformt und es in kochendes, sprudelndes Wasser gelegt (mit dem Esslöffel) : nichts zu machen. Aber dann ein Aufleuchten im Gesicht… Wir wollten gerade gehen, da kam das Ei – als Omelette. Wunderbar.

Jenissej, Liebestragödie und die Reise zum Polarmeer

Schon am Abend nach unserer Ankunft mit der TRANSSIB hatten uns Gleb und Nastija zu einem der Wahrzeichen der Stadt gefahren. Bei klirrender Kälte standen wir vor der Kapelle Paraskewa-Pjatniza (die Schutzheilige der Kaufleute). Die Kapelle steht auf einer Anhöhe. Frierend schauen auf die Lichter der Stadt. Kurz zum Aufwärmen in die Kapelle. Dann schnell zurück zum Auto. Bei Tag hat man von hier eine sehr schöne Aussicht auf die Stadt, die Stolby-Berge und den Jenisseij.

Gleb fragt uns: Kennt ihr die berühmteste Krasnojarskerin? Wer sollte das sein? Helene Fischer, die berühmte Schlagersängerin ist in Krasnojarsk geboren!

Heute ist Krasnojarsk ein bedeutendes wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles Zentrum. Es liegt 4.000 km östlich von Moskau – und geografisch in der Mitte von Russland.

In Krasnojarsk liegt das zweitgrößte Aluminiumwerk der Welt. Es gibt zahlreiche Betriebe im Bereich Maschinenbau, Leichtindustrie, chemische und holzverarbeitende Industrie. In der Umgebung von Krasnojarsk findet man viele Mineralien, Gold und Platin. Und Krasnojarsk ist eine Satdt des Sports. Eine Kaderschmiede für Olympiasieger und Weltrekordler.

So viele Eindrücke. Gleb und Nastja haben noch eine Überraschung für uns. Sie führen uns in eine typische mongolische Jurte zum Abendessen. Erst jetzt fällt mir ein, dass die Mongolei nicht so weit entfernt ist. Die mongolische Verknotung der Beine auf dem Sitzkissen war für mich gewöhnungsbedürftig. In fortgeschrittenem Alter aber vermutlich aussichtslos.

In den nächsten Tagen führt uns Gleb durch seine Stadt. Nicht wie einer der Stadtführer mit ermüdendem Wortschwall. Nein, eher wie ein Geist-Ergriffener: wie er uns von der herz-zereißenden Geschichte eines Menschen erzählt, der im Auftrag des Zaren um die Welt reist und in Bolivien – oder war es Brasilien? – beinahe zum Kaiser gekrönt worden wäre. Sich jedenfalls aber dort in der Fremde heftig in eine schöne Adelige verliebt. Ihr Vater und auch der Zar stimmen der Heiratet , weil jeder von beiden sich etwas davon verspricht. Erstmal jedoch reist unser Abenteurer zurück zu Mütterchen Russland und zu seinem Zaren, um alles für die Hochzeit vorzubereiten.

Er reist auf dem Landweg über Alaska (das damals noch zu Russland gehörte) und über Sibirien. (Die Transsibirischen Eisenbahn gibt es noch nicht, also mit der Pferdekutsche). Unterwegs wird er schwer krank. Er schleppt sich bis zum alten kosakischen Militärposten am Jenissei – eben nach Krasny Jar (übersetzt: schöner oder auch: roter Steilhang).

Und während wir ergriffen und erschüttert vor dem Denkmal dieses verhinderten Ehemannes und vielleicht sogar Kaisers stehen, schweift unser Blick über den Jenissej und die schneebedeckten Höhenzüge. Hier muss es gewesen sein. Was für ein tragischer Tod bei dieser grandiosen Aussicht! Unweit hiervon und ebenfalls mit Blick auf den Jenissej der Opern- und Theaterplatz. Davor das Denkmal des berühmten Dramatikers Anton Tschechow. Der hat Krasnojarsk aber offenbar – wenn überhaupt – nur als Durchreisender gesehen. Aber trotzdem Denkmal. Wegen der Kultur.

Beeindruckender als das etwas langweilige Dichterdenkmal die terrassenförmig angelegte Skulpturengruppe, welche den Jenissej als alten, aber dennoch ziemlich kraftstrotzenden Flußgott darstellt. Mitsamt der schönen Angara, die aus dem Baikalsee entspringt und sich nach vielen Windungen endlich doch mit dem Jenissej in Liebe vereint. Das aber konnte der Vater der schönen Angara nicht verhindern. Aus Zorn wirft er seiner Tochter einen dicken Felsbrocken hinterher den man noch heute im Baikalsee liegen sehen kann. Seine verliebte Tochter Angara aber machte eine Biege und weg ist sie in Richtung ihres geliebten Jenissej. So schwer ist das Leben manchmal für Väter – und noch viel schwerer für Töchter, sich aus väterlicher fürsorglicher Belagerung zu befreien…

Gleb zeigt uns in der Ferne die 1000 m lange Stahlgitter-Eisenbahnbrücke über den Jenissej, die bei der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 als hervorragendes Zeugnis russische Ingenieurskunst galt und – neben dem Eiffelturm – gebührend Eindruck machte. (Übrigens sind Kapelle und Brücke auf dem 10-Rubel-Schein abgebildet). Am Ufer des Jenissej hat der restaurierte Flussdampfer Swjatitel Nikolai festgemacht mit dem Lenin und seine Begleiter stromaufwärts unweit von Krasnojarsk in die Verbannung fuhren. Fast möchte man in den Song einstimmen „Ach, wärst du doch in Düsseldorf geblieben…“

Ein anderer ganzer Kerl, dessen Namen ich aber vergessen habe, hat von dem Geld, das er im Zusammenhang mit Glasnost und Perestroika sicherheitshalber beiseite genommen hatte und nun irgendwie anlegen wollte, der Stadt ein ägyptisches Museum vermacht. Es reichte ihm, dass es von außen ägyptisch aussah. Und das tut es auch. In seinem Inneren aber verbirgt sich ein landeskundliches Museum. Das vielleicht interessanteste und modernste seiner Art – in Sibirien.

Im oberen Stockwerk Abteilungen, die das Leben und Überleben in ostsibirischen Dörfern zeigen. Und andere Abteilungen, die das Leben und Überleben in der Sowjetzeit zeigen – von der Oktoberrevolution bis zu ihrer Auflösung Anfang der 90er Jahre. Im unteren Bereich sind Exponate aus der Kultur indigener Ethnien zu sehen, die auch heute noch zwischen Krasnojarsk und Polarmeer leben. Außerdem Exponate aus sibirischer Fauna und Flora. Anhand einer geografischen Übersichtstafel im Museum zeigt uns Gleb, wo wir sind. Ostsibirien. Hier der Jenissej. Etwa 4.000 km lang. Genau so lang wie von Krasnojarsk nach Moskau. Er entspringt 2000 km südlich von Krasnojarsk in der autonomen Republik Tuva – an der Grenze zur Mongolei.

Bei Krasnojarsk hat der Fluss etwa die Hälfte seiner Gesamtlänge erreicht. Nach weiteren 200 km fließt er mit der Angara zusammen, überquert den nördlichen Polarkreis und bildet weiter nördlich viele Flussarme. Schließlich weitet er sich see-artig und mündet im 200 km langen und 150 km breiten Jeniseijgolf, der zur Karasee gehört. Und die wiederum zum eisigen Nordpolarmeer.. Unterhalb des Jenisej-Golf liegt der Ort Ust-Port, wo man in den Permafrostboden einen natürlichen „Kühlraum“ gebaut hat zur Lagerung von Waren, die in den Sommermonaten per Schiff hierher gelangen.

Und dann berichtet uns Gleb von einer kleinen lutherischen Gemeinde dort oben ganz im Norden, die zu seinem „Kirchspiel“ gehört. Etwa 1.800 km nördlich von Krasnojarsk gelegen! Diese Gemeinde möchte er gerne besuchen. Bisher habe er noch keine Zeit dafür gehabt. Am besten würde das im im Juni nächstes Jahr gehen. Zwischen Mai und September ist der Jenissej schiffbar, aber ab Oktober kann er schon Eisschollen haben. Die Fahrt mit dem Schiff dauert sieben Tage. Eine Straße bis ganz dorthin gibt es nicht.

Zurück kann man in einem dieser ausge–musterten, einmotorigen Propellerflugzeuge fliegen. Da würde ich doch bestimmt mitkommen… Na und ob möchte ich das! Karin meint, die Schiffsreise würde sie auch gerne mitmachen, nur mit dem Flugzeug zurück, da sei ihr doch etwas mulmig. Dann doch lieber wieder mit dem Schiff zurück? Plötzlich fällt mir jene nicht-fliegende Holländerin ein, die wir in der Transsib trafen auf ihrer Zugfahrt von Amsterdam nach Peking. Hat ja auch was.

Schicksalsgemeinschaft

Heute ist Krasnojarsk ein bedeutendes wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles Zentrum. Es liegt 4.000 km östlich von Moskau – und geografisch in der Mitte von Russland. In Krasnojarsk liegt das zweitgrößte Aluminiumwerk der Welt. Es gibt zahlreiche Betriebe im Bereich Maschinenbau, Leichtindustrie, chemische und holzverarbeitende Industrie. In der Umgebung von Krasnojarsk findet man viele Mineralien, Gold und Platin. Und Krasnojarsk ist eine Satdt des Sports. Eine Kaderschmiede für Olympiasieger und Weltrekordler.

So viele Eindrücke. Gleb und Nastja haben noch eine Überraschung für uns. Sie führen uns in eine typische mongolische Jurte zum Abendessen. Erst jetzt fällt mir ein, dass die Mongolei nicht so weit entfernt ist. Die mongolische Verknotung der Beine auf dem Sitzkissen war für mich gewöhnungsbedürftig. In fortgeschrittenem Alter aber vermutlich aussichtslos.

Wir haben mit Gleb und Nastja zwei oder drei Gespräche über Politik und russische Geschichte geführt. Beide haben einen differenzierten Blick. Und beide sind auch über aktuelle Entwicklungen gut informiert. Unsere Gespräche haben mich auf Aspekte aufmerksam gemacht, die ich vorher nicht gesehen habe. Zum Beispiel engagiert sich die lutherische Gemeinde in Krasnojarsk in der Flüchtlingshilfe für Menschen, die aus der Ostukraine geflohen sind, Einige hundert von ihnen sind hierher gekommen – die meisten wohl deshalb, weil sie vorübergehend bei Familien-angehörigen oder Freunden wohnen können. IhreWohnungen und Häuser sind zerstört. Eine Zukunft für sich und ihre Kinder sehe n sie nicht mehr. Gleb betont, dass es ihn nicht interessiert, welche politische Auffassung diese Menschen haben. Er sieht ihre Not und organisiert notwendige Hilfe.

Spuren der Deportatation

Nach unserem Seminar sind wir mit Gleb drei Autostunden nach Westen gefahren, um in der Stadt ACHINSK mit einer seiner Gemeinden Gottesdienst und Abendmahl zu feiern. Die Gemeinde hat sich erst vor einigen Jahren zusammengefunden. Der Gottesdienst fand in einem großen Raum in der Stadtbibliothek statt, den eine Mitarbeiterin der Bibliothek organisiert hat. Im Gottesdienst waren etwa zwanzig Gemeindeglieder versammelt. Nur Frauen.

Nebenan fanden zeitgleich Deutsch-Sprachkurse statt. Wir wurden eingeladen, mit den Teilnehmenden ein wenig zu plaudern. Das haben wir gern getan. Auch in den Sprachkursen nur Frauen. Die meisten von ihnen haben Verwandte in Deutschland. Die betagten Eltern, die in Deutschland die übrige Lebenszeit verbringen möchten. Oder die Kinder mit ihren Familien, die sich in Deutschland eine bessere Zukunft erhoffen. Es ist oft schwierig, die Beziehung über eine so große Entfernung lebendig zu halten. Aber viele bemühen sich sehr darum. Dafür ist es gut, die Deutschkenntnisse immr wieder zu verbessern.

Ich habe in der Bibliothek überraschende Entdeckungen gemacht. Schriftliche Berichte von Menschen, die mit ihren Familien hierher transportiert wurden. Die meisten von ihnen „Wolgadeutsche“. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion in Viehwaggons geladen und nach Sibirien verfrachtet.

In Dörfer, deren Bewohner nicht wussten, wie sie sich gegenüber diesen Deutschen verhalten sollten. Es waren ja die Feinde und gleichzeitig war nicht zu übersehen, dass auch sie die Opfer des Krieges waren. In den ersten Wochen und Monaten gruben sich die Vertriebenen Erdhöhlen und hofften von Tag zu Tag neu, dass sich irgendjemand ihrer erbarmte und ihnen zu Essen gab..

Nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie der 2. Weltkrieg in Russland genannt wird, blieben die Vertriebenen dort wohnen, wo man sie „abgesetzt“ hatte. Sie bauten schließlich eigene Häuser und fanden Arbeit in den Fabriken oder in der Landwirtschaft. In einem Buch fand ich alte Fotos, die das Leben in den deutschen Siedlungen an der Wolga zeigten. Und in einem anderen Buch Zeichnungen eines Mannes, der viele Jahre in einem GULAG zubrachte und überlebt hatte.

In KRASNOJARSK gab es eines der mehr als 2.000 Lager für deutsche Kriegsgefangene. Die Lager in Sibirien boten – besonders am Anfang des Krieges – ein Bild des Grauens. Flecktyphus, Cholera und Ruhr wüteten unter den Gefangenen. Zwischen 1941 und 1945 gerieten

etwa 3 Millionen Soldaten der Wehrmacht in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Jeder Dritte von ihnen kam dabei um. Im Juni 1941 begann der Überfall auf die Sowjetunion.

Bis zum Ende des Jahres 1941 gab es 3,5 Millionen russische Kriegsgefangene. Von ihnen starben zwei Millionen durch Hunger und Seuchen. Insgesamt gab es fast sechs Millionen russische Kriegsgefangenen. Jeder zweite von ihnen überlebte die Gefangenschaft nicht. Dazu kamen fast drei Millionen sogenannte „OstarbeiterInnen“, die in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten zwangsrekrutiert wurden. Sie wurden vor allem in der Rüstungsindustrie im Reich eingesetzt. Kriegsgefangene und „Ostarbeiter“ sahen sich bei ihrer Rückkehr dem Vorwurf des Vaterlandsverrates ausgesetzt. Sie wurden in Stalins Arbeitslager nach Sibirien geschickt. Viele überlebten die Lager nicht.

Ein Gespräch über Politik führen – kann das gelingen?

Unser Eindruck war, dass wir über aktuelle Politik zurückhaltend und respektvoll reden sollten. Viele Menschen, die wir gesprochen haben, glauben, dass Volk und Führung in Russland deutlicher zusammenstehen als jemals vorher in deen letzten zehn oder zwanzig Jahren.

Den „Mann auf der Straße“ interessiert der Rubelverfall und die steigenden Preise weit mehr als die Vorgänge auf der Krim oder in der Ukraine. Das entbindet jedoch niemanden – weder im Westen noch in Russland oder der Ukraine – als Bürger und homo politicus sich sorgfältig und umfassend zu informieren und eine eigene verantwortliche Position zu den Ereignissen auf der Krim und in der Ostukraine zu beziehen.

… zum Beispiel über die Krim

Die Annexion der Krim ist ein klarer Bruch des Völkerrechtes und darf nicht hingenommen oder nachträglich legitimiert werden. Auch nicht durch berechtigte russische Interessen an der Krim. Russland rechtfertigt die Annexion dadurch, dass die Mehrheit der Bevölkerung Russland um Hilfe gerufen hat. Es hat auf der Krim jedoch keine Unterdrückung der Rechte irgendeiner Volksgruppe gegeben.

Die russische Regierung beruft sich darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim russisch-sprachig sei und sich der russischen Kultur und Geschichte verbunden weiß. In der Tat trifft dies zu. Aber man darf auch hier nicht geschichtsvergessen sein. Die Bezeichnung der Krim leitet sich wahrscheinlich vom Krim-tatarischen qrum „Felsen“ oder „Festung“ ab. In den klassischen griechischen Sagen wird das Volk der Taurer erwähnt, die hier wohnten. Hier könnte auch der Ort sein, wo das „Goldene Vlies“ vermutet wurde. Gleichzeitig mit den Griechen stießen die Skythen auf die Krim vor. Später stand die Krim unter römischer Herrschaft.

Im Zuge der Völkerwanderung unter gotischer Herrschaft. (In der Nazi-Propaganda wurde die Krim deshalb als germanisch betrachtet; die Rückeroberung der Krim für das neue Deutschland war da nur logisch!). Dann wurde die Krim byzantinisch bevor sie im 5. Jahrhundert von den Hunnen und im 13. Jahrhundert von den Tataren beherrscht wurde. In dem selben Jahrhundert folgte die venezianische, genuesische und osmanische Herrschaft bis es im 18. Jahrhundert unter Katharina der Großen „von nun an und für alle Zeiten“ in das Russische Zarenreich eingegliedert wurde.

Im Bürgerkrieg hielten Weiße Garden die Krim besetzt. Nach der Niederlage General Wrangels marschierte die Rote Armee ein. Es ist kaum bekannt, dass nach der Oktoberrevolution auf der Krim kurzzeitig ein eigener Staat: die Volksrepublik Krim entstand. Sie existierte nur wenige Monate, war jedoch der erste erfolgreiche Versuch in der islamischen Welt, einen souveränen Staat zu etablieren, welcher säkular und demokratisch war. Die Hauptreligion (aber nicht die offizielle Staatsreligion) war der sunnitische Islam. Die Amtssprache war Krim tatarisch und Russisch.

In der Verfassung dieses Staates wurde die Gleichheit aller ethnischen Gruppen festgeschrieben. Allerdings war schon damals fast die Hälfte der Bevölkerung russisch, etwa zehn Prozent waren Ukrainer. Daneben gab es die kleineren Ethnien der Armenier, Pontos-Griechen und Krim-Deutschen. Obwohl die Krimtataren nur ein Drittel der Bevölkerung stellten, waren sie trotzdem die bedeutendste Bevölkerungsgruppe innerhalb des politischen und kulturellen Lebens des Staates.

Im Februar 1918 wurde dieser Staat durch die Rote Armee zerschlagen und in die Sowjetunion eingegliedert. Bei der Besetzung der Krim durch die deutsche Wehrmacht kollaborierten die dort lebenden Tataren vielfach mit der Wehrmacht. Nach dem Abzug der Wehrmacht ließ Stalin die Krimtataren nach Zentralasien zwangsdeportieren – so wie zuvor schon die Wolgadeutschen.

Im Jahre 1954 wurde die Krim durch Chruschtschow in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert. Bis heute ist nicht klar, warum dies geschah. War es eine der bekannten Launen Chruschtschows, der selbst Ukrainer war oder war es eine wirtschaftliche Überlegung? Nach einem Anfang 1991 abgehaltenen Referendum wurde die Ukraine ein souveräner Staat. Die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine wurde auch durch die damalige sowjetische Regierung bestätigt. Nach der Annexion der Krim durch Russland fühlen sich die Krim-Tataren erneut bedroht. Sie fühlten sich sicherer unter ukrainischer Herrschaft. Jetzt haben sie den Eindruck, dass Russland sie wieder von der Krim vertreiben will.

… und über die Ukraine

Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde von Millionen Menschen als Katastrophe erlebt. Die USA haben damals die Schwäche Russlands ausgenutzt und in triumphaler Siegerpose die alleinige Führungsrolle in der Welt reklamiert. Die große Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass die neue Regierung unter Putin die erlittene Schmach tilgen und Russland zu neuem Ruhm und neuer Ehre führen kann.

Dazu gehört die Besinnung auf einstige sowjetische Macht und Größe ebenso wie eine Besinnung auf die Ursprünge der eigenen Geschichte: Ist Kiew die „Wiege Russlands“. Sind die Kiewer Rus die Vorfahren der heutigen Russen? Es gibt Stimmen in Kiew, die sagen: Umgekehrt, bei uns sind die Ursprünge und Russland ist später einfach dazu gekommen…

Russland ist daran interessiert, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit seinen Nachbarstaaten zu etablieren. Eine eurasische Zollunion – nicht unähnlich der Gründungsidee der EWG aus der später die EU entstand. Als bedeutende Staaten gehören Weißrussland und Kasachstan bereits dazu. Russland hat das Wirtschaftsabkommen der Ukraine mit der EU stets als Bedrohung der eigenen Interessen gesehen.

Im Jahre 1999 distanzierte sich Russland unter Putin von der Charta von Paris, in der die gemeinsame Bekräftigung des Völkerrechts und der Demokratie festgehalten war und verstärkte gezielt die eigenen nationalen Interessen. Russland begann, sich vom „dekadenten Westen“ zu distanzieren. Auch unter zu Hilfenahme der orthodoxen Kirche, die als system- stabilisierend gesehen und deshalb priviligiert wird.

Das Selbstbestimmungsrecht in der Ukraine als souveräner Staat muss akzeptiert werden. Dem Vorwurf von russischer Seite, in der Ukraine seien vor allem Faschisten am Werk muss entgegengehalten werden, dass bei den Wahlen im Oktober 2014 alle Rechtsparteien unter fünf Prozent geblieben sind. Russland möchte die Ukraine in seiner Einflurspäße halten. Jetzt steuert der Ukraine-Konflikt auf

einen „frozen conflict“ hin. Je länger eine friedliche Konfliktlösung hinausgeschoben wird, desto mehr läuft es auf eine jahrzehnte-lange instabile politische Situation hinaus. Vielleicht reicht es aber Russland schon, die Ukraine zu destabilisieren und so eine mögliche Aufnahme in die EU zu verhindern.

In letzter Zeit ist öfter von „Neurussland/ Novorossija“ die Rede im Zusammenhang mit Versuchen, die östlichen Gebiete der Ukraine um Donezk und Lugansk zu destabilisieren und für Russland zu reklamieren. Es ist ein Gebiet, das die südliche und östliche Ukraine sowie Bessarabien umfasste und ab 1764 als „Novorossija“ bezeichnet wurde. Ein Gebiet, das vor der Eingliederung ins Russische Reich zwischen Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und dem Russischen Reich umkämpft war.

Die ständigen Überfälle durch die Tataren des Krim-Khanats bewirkten, dass dieses Gebiet trotz der fruchtbaren Schwarzerde lange Zeit nur gering besiedelt blieb. Die im Dienst der Zarin stehenden Kosaken eroberten das Gebiet für Russland und es folgte – insbesondere nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1768-1774) eine breit angelegte Kolonisierung, die von Katharina der Großen eingeleitet und gefördert wurde. In kurzer Zeit entstanden Städte wie Odessa, Sewastopol, Dnipropetrowsk, Alexandrowsk, Cherson und Mariupol und andere – Städtenamen, die in den Nachrichten über die Ostukraine und der Krim immer wieder erwähnt werden.

Ab 1946 ließ Stalin im Zuge der sogenannten „Westverschiebung“ eine halbe Million Ukrainer Richtung Westen deportieren und weitere hunderttausende Ukrainer nach Sibirien deportieren und Russen anstelle der Vertriebenen ansiedeln. Heute muss man in diesem Zusammenhang von ethnischen Säuberungen sprechen. Die Ukrainer haben wenig Grund ein ungestörtes Verhältnis zu Russland zu haben.

Die „Westverschiebung“ hatte auch Folgen für die Polen aus Galizien: sie wurden in die deutschen Ostgebiete nach Schlesien und Ostpreußen, Westpreußen und Posen zwangsumgesiedelt und lebten noch viele Jahre nach dem Krieg in der ständigen Ungewißheit, ob die vertriebenen Deutschen nicht eines Tages zurück kommen. Und die mehr als vier Millionen aus dem Osten vertrieben Deutschen suchten Zuflucht im verbliebenen Deutschland, das inzwischen in vier Besatzungsgebiete aufgeteilt war.

Auf dem Hintergrund dieser Nachkriegsgeschichte fällt auch ein Licht auf die „Westverschiebung“ der polnischen Bevölkerung aus Galizien, mit dem Zentrum Lwow/Lwiw/Lemberg, das nach den polnischen Teilungen einmal zu Habsburg-Österreich gehörte. Maria Theresia und ihr Sohn Josef II. ermöglichten durch ein Toleranzedikt gegen Andersgläubige (anders, als katholisch) , dass viele Protestanten – besonders aus der Pfalz – sich in Galizien. Sie waren die ersten Opfer der ethnischer Säuberungen, die auf grausame und unvorstellbare Weise folgten.

Erst durch die „Umsiedlungspolitik“ aufgrund des „Hitler-Stalin-Paktes“ wurden diese deutschen Siedler in den Warthegau, also um die Stadt Lodzs zwangsumgesiedelt und nach dem Ende des Krieges Westen verstreut. Es ist zynisch, wenn Putin die Ukraine als unreifen Staat bezeichnet. Zugegeben: die Ukraine ist ein nicht unkompliziertes politisches Gebilde. Der Westen mit

einer starken europäischen Bindung und geschichtlichen Nähe zu Polen und Litauen. Der Osten, spätestens seit Katharina der Großen „russisch“. Dazu die Krim, Charkow/Charkiv mit einer eigenen Geschichte und Odessa als Vielvölkergemisch mit seiner Offenheit zum Meer und zur Welt. Wie kann dies alles zusammengehalten werden?

Jedenfalls nicht durch Krieg und Gewalt, sondern allein durch Verhandlungen, deren Ziel es ist, durch Einhaltung des Völkerrechts und geschlossener Verträge in gegenseitigem Respekt – auch gegenüber den jeweiligen Interessen – zu Vereinbarungen zu kommen, die dem allgemeinen Rechtsverständnis und dem Frieden dienen. Dazu gehört gegebenenfalls auch die Bereitschaft zu Kompromisslösungen. Vor allem aber wird eine friedliche Lösung darin bestehen, das gemeinsame Wohl im Blick zu behalten.

Die vom Westen ausgesprochenen Sanktionen zeigen inzwischen Wirkung – auf beiden Seiten. Es wird immer deutlicher, dass Russland sich zu sehr auf seine natürlichen Ressourcen Öl und Gas verlassen hat und nicht genügend voran gekommen ist mit dm Aufbau einer modernen Wirtschaft. Die Modernisierungspartnerschaft mit dem Westen wäre dafür nötig – und steht jetzt in Frage.

Der Westen kann auf mittlere und schon gar nicht auf lange Sicht daran interessiert sein, dass die russische Wirtschaft zum Erliegen kommt. Der europäische Westen und Russland sind eine Schicksalsgemeinschaft. Es ist respektlos und arrogant, wenn Obama von Russland als „regionaler Macht“ spricht. Es darf die Hoffnung nicht aufgegeben werden, zu einer von allen gewollten und akzeptierten friedlichen Lösung zu kommen. Europa kann kein Interesse daran haben, dass Russland in eine wirtschaftliche und soziale Schieflage kommt. Es ist in beider Interesse, dass es auch dem jeweils anderen gut geht.

In den aktuellen Nachrichten lesen wir, dass Putin versucht, China und die Türkei als neue Wirtschaftspartner zu gewinnen. Eine verrückte Konstellation, denn seit zweihundert Jahren fürchtet Russland, dass das dicht besiedelte China den russischen Fernen Osten annektieren könnte. Aus dieser Befürchtung heraus wurde die TRANSSIB gebaut. Nicht nur um den russischen fernen Osten wirtschaftlich zu erschliessen, sondern auch, um gegenüber China Stärke zeiugen zu können.

Und mehr als dreihundert Jahren bedrohten Turkvölker die russische Südflanke. Erst der von Russland erfolgreich geführte Krieg gegen das osmanische Reich brachte Sicherheit. Russland sieht sich nach wie vor in der besonderen Rolle als Verteidiger des christlichen Abendlandes – was immer man darunter versteht. Angefangen von der Rolle Moskaus als „drittes Rom“ nach dem Verlust von Konstantinopel über die aktive Rolle, die Russland bei der Befreiung des Balkan von den Türken spielte bis hin zu den andauernden blutigen Kämpfen in Tschetschenien. Wer von uns weiß denn noch, dass sich Bulgarien nur mit Hilfe Russlands vom osmanischen Reich lösen konnte? In mancher Hinsicht sieht sich Russland in einer geschichtlichen Verbundenheit mit den südosteuropäischen Ländern, einschlißlich Griechenland und Armenien. Der gemeinsame Glaube spielt dabei eine wichtige Rolle.

Der frühere russische Präsident Jelzin hat einmal gesagt, der Westen solle Russland gefälligst mit „Sie“ anreden. Russland ist nach wie vor eine Großmacht mit großer Geschichte und bedeutender Kultur. In allen Gesprächen sollte der Westen dies nicht vergessen. Aus russischer Sicht kann es nicht etwa darum gehen, Russland eines Tages in die EU zu integrieren oder darum, sich mit der EU zu assoziieren. Vielmehr sehen viele Menschen in Russland es so, dass das dekadente und nur auf das Materielle fixierte Europa von Russland erlöst werden sollte. Gerne hätte ich über diese Dinge noch mehr diskutiert. Aber das wichtigste ist, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und das Mögliche mutig und zuversichtlich zu tun. Gemeinsam.

Schneewanderung im Stolby-Nationalpark

An unserem letzten Tag in Krasnojarsk haben wir mit Gleb und Nastja einen Ausflug in den Nationalpark Stoby gemacht, der unweit der Stadt am rechten Ufer des Jenissej liegt. Stolby bedeutet: Pfähle und weist auf die zahllosen Granitfelsen hin, die wie Pfähle aus der Erde wachsen. Die ganze Stadt schien auf dem Weg in dieses beliebte Wandergebiet unterwegs zu sein.

Bis zu den sehr eindrücklichen Felsformationen wanderten wir drei Stunden hin – und dann drei Stunden zurück. Und dies auf schneeglatten Wanderwegen. Die vielen Wanderer hatten den Schnee eisglatt werden lassen. An manchen Stellen waren es vor allem die Kinder, die sich einen Spaß daraus machten, die steilen Stellen herunter zu schlittern. Wir kamen müde und glücklich wieder im Gemeindehaus an. Und es tat ja so gut, als Gleb und Nastja sagten, dass wir die Wanderung durchstehen würden…

Novosibirsk und Abschied

Am nächsten Mittag brachte uns Gleb zum Bahnhof und an den Zug, der uns nach zwölf Stunden Fahrt nach NOVOSIBIRSK bringen würde. Mit großer Dankbarkeit schauen wir auf unsere Zeit in Krasnojarsk zurück und freuen uns schon aufs Wiedersehen mit den beiden Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind.

Es ist inzwischen eine Stunde nach Mitternacht als wir im Bahnhof in NOVOSIBIRSK ankommen. Der Bahnhof: ein imposanter, riesiger Bau. In typischem Grün. Ein etwa 80 Meter langer und 50 m breiter Wartesaal. Fahrgäste hängen schlafend oder dösend auf den Stühlen. Wir haben Hotelzimmer direkt im Bahnhof gebucht. Schließlich finden wir heraus, dass die Zimmer im Stockwerk über dem großen Wartesaal liegen. Auf einer Art Galerie, die rings um den Wartesaal führt. Wir schleppen unser schweres Gepäck auf die Galerie hoch. Kein Fahrstuhl in Sicht. Gehbehindert sollte man hier auf Reisen lieber nicht sein. Schweißgebadet kommen wir schließlich an einer Art Rezeption an.

Wir versuchen, der Rezeptionistin zu erklären, dass wir vorbestellt hätten. Sie wendet uns den Rücken zu. Weigert sich, unser gebrochenes Russisch zur Kenntnis zu nehmen. (Wir hatten bis dahin nicht gedacht, dass es so grauenvoll war). Unsere Rezeption ist offensichtlich schwer getroffen. Mit Hilfe einer anderen Mitarbeiterin gelingt es, dass sich die Dame an der Rezeption uns doch noch gnädig zuwendet.

Auf dem Weg zu den Zimmern gehen wir in einer Art erhöhtem Klostergang entlang. Von hier gehen alle Zimmer ab. Wie Klosterzellen, denke ich. Wir treffen uns an der Brüstung des Umlaufs mit Blick auf den Wartesaal für ein Glas Bier und schauen hinunter auf den Wartesaal. Ich habe das Bild vor Augen: Sommerurlaub. Auf dem Balkon. Vielleicht ist es die Wärme durch die hochgestellte Heizung, die nicht zu regulieren ist… Noch vier Stunden Schlaf. Der Weck-Service reißt mich aus dem Schlaf. Wo bin ich? Ich höre aus dem Lautsprecher des Wartesaals Lautsprecherdurchsagen: Zugabfahrtszeiten. Dann höre ich Vogelgezwitscher. Offenbar haben einige Vögel ihr Zuhause im Wartesaal. Zugvögel eben.

Auf dem Weg zum Bus, der uns zum Flughafen bringen soll macht sich oben auf dem Treppenabsatz mein Koffer selbständig. Er fällt polternd die Treppe runter. Wie in Zeitlupe schaue ich zu. Der Koffer bleibt direkt vor einer großen Fensterscheibe liegen. Die Scheibe bleibt zum Glück heil. Wäre er auch noch durch die Scheibe gefallen hätten wir vermutlich noch längere Zeit bleiben dürfen. Aber alles ist gut gegangen.

Wir stehen jetzt auf dem Bahnhofsvorplatz und warten auf den Bus. Es ist kalt. Der Bus fährt erst in einer halben Stunde. Wir danken daran, ein Taxi zu nehmen. Wir bitten einen jungen Mann, uns beim Verhandeln des Preises für die Taxifahrt behilflich zu sein. Dazu ist er gerne bereit. Er erklärt uns, dass die 25 € für die Taxifahrt allerdings viel zu viel und die Taxifahrer Halsabschneider sind. Wir sollten doch besser weiter auf

den Bus warten. Wir wären ohne weiteres bereit gewesen, den üblichen Preis für die Taxifahrt zum Flughafen zu zahlen. Aber wir stehen irgendwie beschämt da, denn für den jungen Mann sind 25 € offenbar ein Vermögen. Wahrscheinlich mindestens ein Zehntel seines Monatseinkommens. Der Flughafenbus kommt pünktlich. Die Fahrt dauert 40 Minuten. Dann sitzen wir wieder im Flugzeug. Von Nowosibirsk nach Moskau. Nur vier Stunden.

Dann hat uns Europa wieder.

Hannover im November 2014

Erster Brief aus Äthiopien – Hahn im Korb

Erster Brief aus Äthiopien – Hahn im Korb

Liebe Freunde,

schon vor längerer Zeit hatte mich mein äthiopischer Freund und Kollege, Soboka gefragt, ob ich bereit wäre, ein Seelsorgeseminar durchzuführen. Ziel des Seminars ist es, in den einzelnen Kirchengemeinden der Evangelischen Mekane Yesus Kirche Frauen als Konflikt- und Krisenberaterinnen fortzubilden und zu qualifizieren. Dieses (nur) einwöchige Seminar hat in der Kirchengemeinde Kotobe stattgefunden. Es war jedoch ein Projekt des neuen Zusammenschlusses (parish) von elf Gemeinden am nordöstlichen Rand der Hauptstadt Addis Abeba. Aus jeder Gemeinde sollte jeweils eine Frau an diesem Seminar teilnehmen und in ihrer Gemeinde weitergeben, was sie im Seminar gelernt und erfahren hat. Hinzu kam eine Frau aus dem Frauendezernat der Kirchenleitung der Mekane Yesus Kirche. Es war ein Seminar „von Frauen für Frauen“. Der einzige Fremdkörper war ich selbst als Leiter des Seminars. Am Ende des Seminars gab es das übliche Gruppenfoto: 12 Frauen und 1 Mann! Als ich zurück in Deutschland war, zeigte ich das Foto in einer Runde und erntete gleich den Spott: Ja, ja – Hahn im Korb!

Zwei Tage vor dem äthiopischen Weihnachtsfest (7. Januar) war ich in Addis angekommen. Auf der Strasse vor meinem Hotel lebhaftes Treiben. Jeder will vor dem Fest noch schnell etwas einkaufen. Traditionell wird in der Familie ein Schaf oder eine Ziege geschlachtet. Die Tiere werden auf den kleinen Märkten überall in der Stadt gekauft. auf dem Markt. Die Preise für Schlachtschafe und – Ziegen sind in den letzten Monaten rasant gestiegen. Die kleinen Leute können sich allenfalls noch ein Huhn leisten. Aber auch die Preise für Hühner sind gestiegen. Restuarants kaufen Kühe ein. Überall sieht man, wie Schafe und Kühe durch die Strassen und oft auch auf den Bürgersteigen zu den Verkaufsstellen getrieben werden. Und weil zumindest die Kühne ahnen, dass es kein gutes Ende mit ihnen nehmen wird, wehren sie sich manchmal aus Leibeskräften. Ich stehe etwas abseits und beobachte fasziniert das Geschehen.

Plötzlich bricht eine Kuh aus und geht auf mich los. Da ich mein rotes Torrerotuch zu Hause vergessen habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als davon zu laufen, bevor ich auf die Hörner genommen wurde. Die Kinder in meiner Umgebung lachen sich kaputt über mich. Aber zwei kräftige Jugendliche packen schließlich das wild gewordene Rind beherzt bei den Hörnern und retteten mich. Aber es könnte sein, dass es für manch einen eine durchaus angenehme Vorstellung ist, wenn ein herum streunender ´forengee´(Ausländer) einmal auf die Hörner genommen wird….

Auf meiner Flucht stolpere ich fast über einen Hühnerkäfig, in dem etwa zehn Hühner und ein bunter Hahn eingesperrt sind. Sehr bald wirdsich ein Käufer finden und das eine und andere Tier für das Festessen nach Hause mitnehmen. Ich sehe um mich herum mehrere Menschen mit einem Bündel lebender Hühner in der Hand, deren Beine zusammengebunden und deren Kopf nach unten baumelt. „Hahn im Korb“ – schön und gut, aber nicht ungefährlich: Zwischen Kikerie und Kopf ab bleiubt manchmal nur wenig Zeit…

Die Weihnachts-Deko vor und in den kleinen Läden kommt ganz klar aus den 1-Euro-Shops aus Hannover: Flitter, Gltzer. Knallbunt. Auf der riesigen Baustellen der neuen orthodoxen St. Mikael Kirche sehe ich die Bauarbeiter auf den Gerüsten um die Kuppel herum turnen. Es sieht aus wie eine Zirkusnummer. Unterhalb der Baustelle reihen sich über ein Länge von etwa hundert Meter kleine Baugeschäfte: Hier werden Zement, Vierkanthölzer, Armierungseisen, Werkzeuge verkauft. Alles, was man zum Hausbau benötigt. Die Läden sind zur Strasse offen. Im Eingang eines Ladens, der Armierungseisen verkauft, sehe ich einige junge Männer Karten spielen. Sie warten auf Kunden und vertreiben sich die Zeit. „Ashama!“ – Hallo, sage ich. Wie geht´s? Wer gewinnt gerade? Und spielt ihr etwa um Geld? – Ja, klar spielen wir um Geld, forengee. Willst du mitspielen? – Ja, gut, Wie hoch ist der Einsatz? – Zehn Birr!. – Okay, das kann ich mir leisten. Ich spiele ein paar Runden. Die kleineren Geldscheine aus meiner Hosentasche sind schnell weg. Bevor mir die grösseren aus der Tasche gezogen werden, frage ich, ob sie Lust haben, Skat spielen zu lernen. (Da kenne ich mich besser aus). Nein, dazu haben sie keine Lust. Später sehe ich sie auf der Ladefläche eines Kleintransporters, wie sie mir zuwinken.

Auf der Straße ist immer etwas los. Ich genieße diese Straßenszenen. Zwischen einer Bude, in der eine rohe Rinderhälfte hängt und einem Laden, in dem Plastikgeschirr angeboten wird befindet sich ein Verschlag mit Bündeln von Khat. Dahinter erscheint das Gesicht eines jungen Mannes . Ein sichtbar verliebtes Pärchen kauft bei ihm gerade einen Zweig Khat, das leicht berauschende Wirkung hat. Mehr als einen Zweig Khat können sich die jungen Leute nicht leisten. Sie zahlen die verlangten zehn Birr, und ich sehe, wie sie eng umschlungen und vergnügt davongehen. Der junge Verkäufer fragt mich, ob ich vielleicht auch Bedarf habe. Ich überlege kurz und sage: Nein, meine Frau ist heute nicht dabei. – Okay, sagt der junge Mann. Na, dann nächstes Mal….

Der Kathstrauch ist eine Pflanze aus der Familie der Spindelbaumgewächse. Eine Alltagsdroge im Jemen, Somalia und Äthiopien. Ich habe gehört, dass vor dem aktuellen Bürgerkrieg im Jemen die meisten Abgeordneten bei den Parlamentssitzungen in Sannaa gerne und ausdauern Khat gekaut haben. Vielleicht wäre das auch für die eine und andere Debatte im Bundestag zu empfehlen… Die jungen Blätter des Khatstrauchs werden als leichtes Rauschmittel im Mund zerkaut, in der Backentasche gesammelt und zwischendurch immer wieder mit Wasser oder einem Süßgetränk befeuchtet.

Der Wirkstoff Cathin wird über die Mundschleimhaut aufgenommen. Khat muss schnell nach dem Pflücken konsumiert werden, um seine Wirkung nicht zu verlieren. Der Geschmack der zerkauten Blätter ist süß und und bitter zugleich. Die Wirkung von Khat ähnelt der anderer Amphetamine. ist jedoch deutlich schwächer. Khat macht körperlich nicht abhängig. Größere Mengen führen zu einer behaglichen Müdigkeit – ideal für entspanntes Chillen und Rumhängen…In einigen Gebieten (z.B. Nord-Kenya) war das kath-Kauen ein Privileg der geronto-kratischen Gesellschaftsschicht und des Adels. Während der Kolonialzeit sahen sich Briten, Franzosen und Italiener am Horn von Afrika mit Khat als Droge konfrontiert. Ein britischer Appell an den Völkerbund im Jahre 1936 Khat zu verbieten blieb allerdings genauso erfolglos wie ein Verbot des Imports, Handels und Konsums von Khat in der britischen Kronkolonie Aden.

In Saudi-Arabien wird der Konsum von Khat auch heute noch mit 40 Stockhieben bestraft. Vom Khat-Schmuggel nach Saudi-Arabien profitierten im Jemen bis zu eine Million Menschen. Khat-Gelder spielen in Somalia eine wichtige Rolle in der Finanzierung der islamistischen al-Shabab-Milizen am Horn von Afrika. Im aktuellen jemenitischen Bürgerkrieg wird Khat als Motivator an die jeweiligen Soldaten und Milizen verteilt. Der Anbau von Khat ist lukrativ. Er hat an vielen Orten in Äthiopien den Anbau von Kaffee und Gemüse verdrängt. Der Anbau von Khat verbraucht allerdings hohe Mengen an Wasser. (So wie auch der Anbau von Blumen in riesigen Gewächshaus-Anlagen in Äthiopien und Kenia den Wasservorrat in der traditionellen Landwirtschaft bedroht). In Dänemark soll nach Auskunft der Polizei Khat auf dem Schwarzmarkt einen Wert von 60 Euro pro Kilogramm haben. Da muß man schon eine große IKEA-Tragetasche dabei haben, um die entsprechende Mange Khat-Zweige unterzubringen….

Auf meinen Wunsch hin habe ich in meinem Hotel ein wunderbar ruhiges und komfortables Zimmer bekommen. In dem vorherigen Zimmer brach morgens um sieben Uhr schlagartig ein Höllenlärm aus: In der unmittelbaren Nachbarschaft des Hotels wird ein neues Hochhaus gebaut. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren das erste Mal in Äthiopien war, machte die Hauptstadt den Eindruck eines großflächigen Dorfes. Zwar gab es im Zentrum verschiedene zwei- und dreistöckige Häuser aus der Zeit um 1900 und aus der der italienischen Besatzungszeit (dreißiger Jahre), aber die Mehrzahl der Häuser war bis vor wenigen Jahren ein- oder zweistöckig. Ich erinnere mich daran, wie in Addis die ersten Ampeln installiert wurden. Eine der Ampeln war am zentralen Mesquel-Square aufgestellt. Sie wurden von den Autofahrern am Anfang mehr bewundert als beachtet.

In den letzten sieben Jahren hat sich das Gesicht der Hauptstadt jedoch vollkommen verändert. Addis Abeba ist in kurzer Zeit zu einer modernen Metropole geworden. Es sind zahllose hohe Bürotürme, Einkaufs- und Konferenzzentren und Hotels gebaut worden. Die Chinesen haben innerhalb von wenigen Jahren eine vierspurige Stadtautobahn gebaut, welche die Stadt umgibt. Und Anfang des letzten Jahres wurde „the train“ eingeweiht: eine S-Bahn, die ebenfalls in einem Ring um das Zentrum führt und mit mehrere Abzweigungen einen wesentlichen Teil des Personenverkehrs aufnimmt. Die berühmte Bahnlinie vom damals französischen Hafen Djibouti in die äthiopische Hauptstadt war völlig marode geworden. Wenige Wochen bevor ich hier ankam, wurde die neue Linie Addis Abeba – Djibouti eröffnet. Ebenfalls ein chinesisches Projekt.

Die Chinesen treiben es mit Handel statt mit Kanonenboot-Politik. Sie haben große Flächen von fruchtbarem Land langfristig und günstig pachten können. Sie haben das Strassen- und Schienennetz schon jetzt erheblich verbessert. Weitere Strecken bis an die Grenze zum Sudan und im Norden entlang der Grenze zu Eritrea sind in der Planung. Dafür haben sie von der Regierung in großem Umfang die Schürfrechte für bisher unentdeckte Mineralien bekommen. Die USA und die EU transferieren grosse Geldmengen an die äthiopische Regierung, denn Äthiopien gilt als Bollwerk gegen die islamistischen Milizen in Somalia.

Viele fragen sich – wie ich selbst auch – , wie die moderne urbane Metropole finanziert eigentlich finanziert wird. Woher kommt das Geld und wer hat dafür das Geld? Die verbreitete Meinung ist, dass es vor allem diejenigen sind, die in der Regierung sind oder ihr nahe stehen. In erster Linie ist das die Ethnie der Tigray. Die Tigray bildeten im Bürgerkrieg (das Ende war 1991) gegen das kommunistische DERG-Regime eine bewaffnete Koalition mit Eritrea und Oromia. Die führende Elite des kommunistischen Regimes kam vor allem aus der (historisch gesehen führenden) Ethnie der Amharen. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes erreichte Eritrea sein eigenes Kriegsziel, nämlich die staatliche Unabhängigkeit. Aber sehr bald kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb der gerade gebildeten Koalitionsregierung zwischen Tigray und Oromo. Die Oromo fühlten sich (zu Recht) ausgebootet von den Tigray und gingen in die Opposition, während die Tigray im präsidial-demokratischen System Äthiopiens faktisch die alles dominierende und von allem profitierende Ethnie wurden. Man sieht, dass „den Tigray“ das neue Addis Abeba gehört: alles, was in den letzten sieben Jahren in Addis aufgebaut wurde. Dazu gehören auch mehrere ausgedehnte Neubau-Wohnviertel.

Natürlich weckt dies Neid und Hass der anderen Ethnien. In den letzten Jahres ist es wiederholt zu blutigen Zusammenstößen gekommen zwischen demonstrierenden Oromo und dem Regime. Mehrere tausend Regimegegner sitzen in den Gefängnissen. Es gibt seit langem eine latente Bürgerkriegsstimmung im Land. Insbesondere in Oromia. Nach dem Tod des ersten und langjährigen Ministerpräsidenten Meles Zenewi wurde (bewusst) ein schwacher Nachfolger gewählt. Er gehört zu einer kleinen Ethnie innerhalb des Zusammenschlusses der „Southern People“. Alle sind sich darin einig, dass er eine puppit der herrschenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite der Tigray ist und jederzeit abgelöst werden könnte. Viele sagen auch, dass – kurz bevor ich eingereist bin – das Militär drauf und dran war, die Regierung an sich zu reißen, um die massiven Unruhen unter den Oromo in den Griff zu bekommen.

Ich selbst befürchte dies ebenfalls. Alle Versuche eines friedlichen politischen Prozesses sind gescheitert oder gar nicht erst versucht worden. Die Unterdrückung der Oromo (und in gewißem Maße auch der Amharen) wird immer massiver und brutaler. Vieles deutet darauf hin, dass es zum Bürgerkrieg kommen wird. Das Szenario, das mir vorschwebt ist folgendes: Ein Militärregime wird versuchen, die Macht der herrschenden Tigray zu sichern, wird aber letztlich scheitern und ein Chaos auslösen. Die Mehrheit der Oromo wird für ein unabhängiges Oromia plädieren. Die Provinz Tigray wird entmachtet werden und den Preis für dreißig Jahre Unterdrückung, Korruption und Ausbeutung der anderen Ethnien zahlen müssen. Es wird so etwas wie eine Rückkehr zu jenem „Abessynien“ geben, dass es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat – bevor Kaiser Menelik II den Süden des heutigen Äthiopiens eroberte. In den Augen der Oromo ist Menelik II ein „Kolonialherrscher“ so wie es die Engländer, Franzosen und Italiener ringsum auch waren.

Die Mekane Yesus Kirche hält sich auffällig heraus aus dem politischen Geschehen. Viele sagen, dass sie vom jetzigen politischen System geduldet wird, weil sie sich heraushält aus politischen und gesellschaftlichen Fragen. Viele sagen auch, dass die evangelische Mekane Yesus Kirche – mit einerrasant wachsenden Mitgliederzahl – seit der Zeit der Unterdrückung kirchlicher Aktivitäten im Kommunismuis von pentecostalen Strömungen unterwandert und durchsetzt ist und ihre Identität als reformatorische Kirche längst aufgegeben hat. Aufgrund eigener Beobachtung teile ich diese Einschätzung

Vor diesem Hintergrund wird in wenigen Tagen das Seelsorge-Seminar stattfinden.

Ich bin gespannt….

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Zweiter Brief aus Äthiopien -Januar 2018 – Gadaa und die Humanistische Psychologie

Zweiter Brief aus Äthiopien – Gadaa und die Humanistische Psychologie

Liebe Freunde,

nun hat das Seelsorgeseminar begonnen. Die Rahmenbedingungen sind ungewöhnlich: Elf Teilnehmerinnen, eine Co-Leitung und ich als einziger Mann und in der Leitung. Das Ziel des Seminars ist ebenfalls ungewöhnlich: Auf der Ebene von Kirchengemeinden soll ein Beratungssystem geschaffen werden, in dem kompetente Frauen als Ratgeber rat-suchenden Frauen in Krisen und Konflikten unterstützen. Eine Beratung von Frauen für Frauen. Und dies in einer männer-dominierten, patriarchalen Gesellschaft. Die Herausforderung besteht darin, die „Frauenberatung“ in vorhandene kirchliche und gesellschaftliche Strukturen zu integrieren. Traditionell spielt der Gemeindepastor bei Konfliktlösungen eine große Rolle. Diese Bedeutung soll nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt werden durch kompetente Beratungsarbeit, die von entsprechend ausgebildeten Frauen innerhalb eines Kirchenkreieses (parish) wahrgenommen werden soll. Natürlich müssen auch die Ehemänner und Kirchenvorsteher (elders) mit eingebunden werden, denn ohne ihre Unterstützung würde dieses „Frauenprojekt“ nicht funktionieren. Das Seminar soll ein erster Schritt sein für ein Gemeinde-bezogenes Beratungsangebot, das es weiter zu entwickeln gilt. In einem einwöchigen Training kann selbstverständlich keine hinreichende Beratungskompetenz erworben werden. Aber die Kompetenz kann in anschließenden Seminaren weiter entwickelt werden.

Eine weitere grosse Herausforderung ist der kulturelle Aspekt:. In der Kultur und Tradition der Oromo (der grössten Ethnie im heutigen Äthiopien) spielt ein seit sechshundert Jahren ( vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts) praktiziertes Gesellschaftsmodell eine bedeutende Rolle: das Gadaa-System. Es betrifft den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und familiären Aspekt. Gadaa kann mit Recht als ein erfolgreiches Gesellschafts- und Staatsmodell betrachtet werden, das im Selbstverständnis egalitär und demokratisch ausgerichtet ist und alle Aspekte des Zusammenlebens definiert und regelt. Es betont die Elemente von dezentraler Machtteilung und wirksamer Kooperation.

Schon früh werden hier Menschenrechte beachtet und die Gleichheit und Würde der Einzelnen betont. Das Gadaa-System zielt ab auf ein friedlich-geregeltes und harmonisches Zusammanleben und -wirken. Von Geburt an hat ein Mensch das verbriefte Recht auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit. Asylsuchenden Fremden werden die gleichen Rechte gewährt und gleichen Pflichten auferlegt wie den eigenen Leuten. Gadaa umfasst ausserdem starke ethisch-moralische und religiöse Aspekte.

Im Kontext unseres Seminars ist Gadaa vor allem deshalb interessant, weil es Elemente geregelter und gewaltloser Konflikttlösung und Beratung zur Verfügung stellt. Ein Beratungs- und Konfliktlösungsmodell, das von außen kommt und das indigene kulturelle Erbe nicht beachtet, wird scheitern. Nun ist es jedoch so, dass das Beratungskonzept, das ich vertrete und zur Verfügung stelle, seine Wurzeln in der Aufklärung und in der Humanistischen Psychologie des vergangenen Jahrhunderts hat. Dabei steht das Individuum im Mittelpunkt des Interesses: die Entdeckung der eigenen Ressourcen, die Arbeit an den persönlichen Problemen und die Unterstütztung bei der Entwicklung und Entfaltung einer hinreichend gelungenen persönlichen Lebensgestaltung. Im Gegensatz dazu ist das traditionelle Gadaa-System fokussiert auf den Gedanken der Gemeinschaft und ihr Wohlergehen. Ohne harmonische Gemeinschaft kein individueller Friede. Das Gadaa-System steht für „Gewaltenteilung“ und „check and balance“. Es steht für Rechtssicherheit und Frieden (nagaa).

Bereits vor Beginn des Seminars war ich mir bewußt, dass die beiden „Ansätze“ – das „westliche“ und das „Oromo“ Modell – nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass beide Ansätze sich gegenseitig (!) befruchten und ergänzen könnten. Dies hat u.a. die Entstehung des systemisch-familientheraputischen Ansatzes bei uns gezeigt. Auf der anderen Seite sieht sich die Gesellschaft und auch die Kirche in Äthiopien durch die rapide wachsende Urbanisierung herausgefordert. Dies ist besonders augenfällig in Addis Abeba. Jeden Tag strömen mehrere Tausend Menschen vom Land in die Hauptstadt. Eine Situation, die vergleichbar ist mit den großen Städten in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als durch die Industriealisierung neue Arbeitsplätze in den Fabriken geschaffen wurden. Allerdings zu miserbalen Bedingungen.

Aber in Äthiopien entshenen kaum neue Arbeitsplätze. Für die grosse Mehrheit der Menschen gibt es keinen wirtschaftlichen Aufschwung – nicht in den grossen Städten und schon gar nicht auf dem Land, wo immer noch die meisten Menschen leben. Viele junge Menschen kommen nach Addis und sind in kurzer Zeit völlig desillusioniert. Wenn sie Glück haben, finden sie eine Gruppe anderer Jugendlicher, der sie sich anschliessen. Sie hängen in Abbruchhäusern und Rohbauten herum. Sie sind entwurzelt, haben keine Perspektive und wollen und können nicht dorthin zurück, von wo sie voller Hoffnung aufgebrochen sind,

Das ist der gesellschaftliche und soziale Hintergrund auf dem das traditionelle Gadaa-System keine Hilfe mehr sein kann. Aber womöglich der auf den einzelnen notleidenden Menschen fokussierte Hilfeansatz, der auf Methoden der Humanistischen Psychologie zurückgreift. Vor diesem Hintergrund findet unser Seminar statt. Manche Betrachter sehen im Gadaa-System als Defizit, dass Frauen nicht angemessen repräsentiert sind und keinen angemessenen Einfluß haben. Andere dagegen unterstreichen, dass die Rechte der Frauen durchaus respektiert sind und Frauen geradezu die „tragenden Säulen“ sind. Tatsächlich existiert innerhalb des Gadaa-Systems eine besondere Institution, welche die Rechte der Frauen herausstellen. Es ist die Siiqqee-Institution, durch die Frauen in der Oromo-Tradition selbstorganisiert für ihre Rechte eintreten:

Am Hochzeitstag übergibt die Brautmutter der Braut den Siiqqee-Stab. Durch die Institution und Symbolkraft des Siiqqee hat eine Frau Anspruch auf materielle Ressourcen, sozialen Status, persönliche Unversehrtheit, Respekt und Schutz der eigenen Privatsphäre. Sie erfährt Solidarität in der Gruppe anderer Frauen. Wenn zum Beispiel eine Ehefrau von ihrem Mann mißhandelt wurde, kann diese sich an ihre Frauen- Peer-Gruppe (hirriya) in ihrer Nachbarschaft wenden. Jede der Frauen führt dann ihren persönlichen Siiqqee-Stab mit sich und wendet sich an die für einen solchen Fall vorgesehene Gruppe von „Älteren“ (Shane), die dann den Fall untersucht.

Außerdem wird den Oromo-Frauen durch die Siiqqee-Institution Macht und Kompetenz übertragen, private Konflikte zu einer Lösung zu bringen und Versöhnung zwischen verfeindeten Familien zu ermöglichen. Dies ist der Anknüpfungspunkt für eine verstärkte Rollenwahrnehmung von Frauen bei der Krisenintervention und Konfliktlösung in Kirche und Gesellschaft. Hier sehe ich auch einen Anknüpfunghs- und Verbindungspunkt zwischen „humanistischem“ und „Gadaa“-Ansatz.Mit anderen Worten, dies ist sozusagen die gemeinsame Basis, auf der das von uns entwickelte Beratungskonzept beruht.

Das kulturelle Erbe des Gadaa-Systems steckt in der DNA jedes Oromo. Ich bin mir bewußt, dass es nicht einfach sein wird, im Seminar das europäische kulturelle Erbe zu vermitteln: Aufklärung, Humanismus, Wertschätzung des Einzelnen. So etwa wie „Einzelberatung“ ist praktisch unbekannt. „Selbsterfahrung“ und „tiefenpsychologische Spurensuche“ ebenso. Und auch die „Aufararbeitung eines Problems“ scheint mir nicht von großem Interesse zu sein. Vielmehr läuft alles hinaus auf „Versöhnung“ (reconciliation) Es gibt in der Regel kein „face-to-face-counseling“, also die individuelle Beratung. Vielleicht, weil sie unter dem verdacht steht, ineffektiv zu sein, weil die andere Seite nicht präsent ist. Auch die Paarberatung in der Form, wie wir sie kennen, scheint es hier nicht zu geben. Vielleicht, weil es üblich ist, Konflikte in größerer Gemeinschaft zu lösen.

Heute haben wir im Seminar daran gearbeitet, welche Vor- und Nachteile Beratungsformen in einer modernen, urbanen Gesellschaft haben. Im verbreiteten ländlichen Kontext ist die Frau nicht zuletzt ökonmisch von ihrem Mann abhängig. Nach einer Trennung oder Scheidung ist die Frau faktisch unversorgt. Oft muß sie zu ihren Eltern zurück gehen. Das ist schambesetzt, weil sie wieder „Tochter“ wird und ihren sozialen Status als „Ehefrau“ gefährdet. Darüberhinaus ist es in der Regel der Mann, der das sehr viel von ihren Männern. Recht auf die gemeinsamen Kinder hat – jedenfalls wenn sie aus dem Säuglingsalter heraus sind. Auf diesem Hintergrund erdulden viele Frauen. Eine Teilnehmerin sagte: Ich würde mir lieber das Leben nehmen, als geschieden zu werden.

Die Teilnehmerinnen sind sehr wißbegierig, die „europäische“ Form der Beratung kennen zu lernen. Aber sie spüren auch deutlich, dass diese Beratungsform im afrikanischen Kontext an Grenzen stößt. In der am westlichen Humanismus orientierten Beratung geht es um Wertschätzung des Individuums, um Toleranz und Empathie. Das Ziel ist, eine Ratsuchende zu unterstützen und zu ermutigen, die eigenen Ressoucen zu entdecken und den eigenen Lösungsweg zu finden. Dabei werden jedoch sozio-ökonomische und politisch-rechtliche Strukturen vorausgesetzt, die es aktuell weder in Äthiopien, noch in den meisten anderen afrikanischen Ländern gibt. Was nützt also alle Einfühlung und Eremutigung, wenn eine Ratsuchende kaum eine Chanmce hat, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern?

Und dennoch ist deutlich, dass es einen großen Unterschied macht, ob ich in einer Krisen- und Konfliktsituation allein (gelassen) bin oder ob ich durch eine peer-group von Frauen (siehe: Siiqqee!) oder in einer professionellen Beratung Verständnis, Solidarität und Einfühlung erfahre – von einer weiblichen Beraterin! Auch wenn das männlich-chauvinistische System nicht von heute auf morgen verändert werden kann, würde eine solche Beratung dennoch etwas verändern können: Es würde dem desolaten Gefühl von Hilflosigkeit und, Einsamkeit und Ausweglosigkeit etwas entgegen setzen und helfen, ein lebensförderliches und die Lebenskräfte stärkendes Bewusstsein zu bekommen.

Methodisch lehre ich ohne Lehrbuch und häufig in „Bildern“: Ich demonstriere in der Mitte der Gruppe, was ich sagen will. Ich verwende Metaphern und „zeige“ eher, als dass ich verbale Erklärungen gebe. Wir arbeiten viel mit „Anwärm-Übungen“, Rollenspiel und lösen die Gruppenrunde auf durch das Arbeiten in Duos und Trios. Dadurch wird auch die Anstrengung reduziert, dass alles Gesagte übersetzt werden muß. Das ganze Lehr- Lerngeschehen ist buchstäblich ständig in Bewegung. Wir lachen viel miteinander und die Teilnehmerinnen drängen darauf, so viel wie möglich zu erleben und zu lernen. Das ist ganz wunderbar für mich.

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen