Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018
Wieder einmal ein Gruß aus Russland..Der dritte Teil unseres Seelsorgekurses (3 x 10 Tage) findet dieses Mal nicht in St. Petersburg, sondern in Sarepta, in der Nähe von Wolgograd statt.
Den Kurs leite ich wieder gemeinsam mit Anna, meiner Kollegin aus Heilbronn.
Die kleine Stadt Sarepta liegt etwa vierzig Kilometer südlich von Wolgograd. Auch an der Wolga. Die deutsche Siedlung ist eine Kopie von Herrnhut in der Oberlausitz. Mitte des 18. Jahrhunderts erreichten die ersten fünf Glaubensbrüder auf Einladung der Zarin Katharina II. das Gebiet von Zarizyn, dem heutigen Wolgograd. Damals eine Zarenfestung. Sie konnten ihr Land „zum ewigen Eigentum“ selbst aussuchen, durften eine Selbstverwaltung einsetzen und brauchten für die ersten dreiß0ig Jahre keine Steuern zu bezahlen.
Der Boden erwies sich als kaum für den Ackerbau nutzbar. Am ehesten noch für Baumwolle und Tabak. Auch Wein wurde angebaut und eigenes Bier gebraut. Es entstanden bald blühende Handwerksbetriebe.Die von den Herrnhutern gegründete Senffabrik besteht noch immer und produziert unter anderem Senföl. Es wurde eine Quelle mit mineralhaltigem Wasser entdeckt, die Sarepta eine Zeit lang zu einem bedeutenden Kurort in Russland machte. Sarepta wurde die bekannteste und wichtigste deutsche Kolonie in Russland.
Ende des 19. Jahrhunderts war dann endgültig die strengen Herrnhuter Regeln des Zusammenlebens nicht mehr durchzusetzen. Gleichzeitig nahm jedoch auch die Bedeutung des Ortes ab. Mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion verordnete Stalin, dass alle Russlanddeutschen deportiert werden. Verstreut in Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Sibierien und im Russischen Fernen Osten sind viele von ihnen umgekommen oder haben ein Leben im Elend durchgemacht.
Nach 1989 sind viele Wolgadeutsche und auch die nachgewachsene Generation in die angestammte Heimat zurückgekehrt. Seit 1990 gibt es wieder lutherisches Gemeindeleben in der alten Kirche von 1780. Die denkmalgeschützte Kirche ist zu einem bedeutenden regionalen Begegnungszentrum geworden. Durch eine Bürgerinitiative konnten acht der zum Ensemble gehörenden fünfzehn Häuser restauriert werden. Sie gehören jetzt zum Freilicht-Museum Sarepta.
In einem besonderen Museumsgebäude erfährt man ganz eindrücklich etwas vom Leben der Herrnhuter Gemeinde in Sarepta. Leider sind die Hinweise zu den Ausstellungsstücke nur auf Russisch. In dem Komplex gibt es auch Zimmer zur Übernachtung. Einige Kursteilnehmer und wir als Kursleitung sind hier ordentlich untergebracht. Die anderen Kursteilnehmer übernachten in größeren Mehrbettzimmern im Keller des Pfarrhauses. Während der heißen Sommer hier soll die Übernachtung dort im kühlen Kellergewölbe ausgesprochen angenehm sein.
Nicht nur die historische Kirche, sondern auch das große Pfarrhaus wurde gründlich renoviert. Hier wohnt Propst Oleg Stuhlberg mit seiner Frau Tanja und ihren beiden kleinen Kindern. In einem anderen Flügel des Pfarrhauses befindet sich ein großer, heller Gruppenraum, eine Tagungsküche und das Dienstzimmer des Propsten. Im Gruppenraum können wir sehr gut arbeiten. Insgesamt ist es ein für mich überraschend angenehmer Ort. Gerne würde ich hier wieder einen Kurs oder eine Tagung veranstalten wollen.
Schon im zweiten Kursteil waren drei der ursprünglich zwölf Teilnehmenden abgesprungen. Aber in einer Gruppe mit neun Teilnehmenden lässt es sich sogar noch besser arbeiten. Für die wichtige Aufgabe des Übersetzens im Kurs steht Ruth zur Verfügung. Ruth kenne ich schon seit vielen Jahren als Dolmetscherin in meinen Kursen. Sie macht das ganz hervorragend. Mit Anna ist die gemeinsame Kursleitung kollegial und ausgesprochen angenehm.
Ich wohne in einem großen Zimmer mit hohen Decken. Durch die Neonbeleuchtung hat es den Charme einer Bettenabteilung in einem Möbelhaus der 50er Jahre. Aber es ist mit Nasszelle ausgestattet und einem WC, auf dem ich immer etwas schräg Platz nehmen muss, weil der Toilettenpapier-Halter so angebracht ist, dass Geschäfte aufrecht nicht erledigt werden können.
Heute Morgen ist beim Aufziehen die ganze Gardinenstange runtergekommen. Das gabt Licht und freien Durchblick aus dem etwas düsterem Raum. Ich war schon drauf und dran, das Ereignis und seine Folgen auf sich beruhen zu lassen, hab mich dann aber doch entschlossen, den Vorgang zu melden. Gleich nach dem Mittagessen erschien eine Dame mit Notizblock und Gefolge, die die Bescherung registrierte und Anweisungen gab, den Schaden umgehend zu beheben. Ich bat darum, dies etwas später zu tun, weil ich vorher noch gerne Mittagsschlaf machen wollte.
Zwei Minuten später stand ein lang aufgeschossener Mensch im Overall in meinem Zimmer. Ich wiederholte noch einmal, dass mir drei Uhr lieber wäre. Mit einem verständnisvollen „Au wei“ (oder so ähnlich) machte er sich sofort ans Werk. Aufgrund seiner Körpergröße war eine Leiter nicht nötig. Aber er musste doch immer einmal wieder von der Fensterbank steigen, weil er das eine und andere Handwerkszeug nicht dabei hatte. Mit einem freundlichen „Au wei!“ (oder so ähnlich ) verabschiedete er sich.
Gleich nach ihm betrat eine Mitarbeiterin aus der Hauswirtschaft mein Zimmer. Sie sagte nichts, fegte und wischte dann aber nicht nur die Fensterbank ab, sondern machte sich über das ganze Zimmer her. Keine Chance, sie daran zu hindern. Alles in allem dauerte die Aktion gerade so lange, dass ich meine Mittagspause pünktlich um drei mit einem erleichterten Spasiba bolschoi! – Danke vielmals! beenden konnte.
Anna und ich hatten uns in Moskau am Flughafen getroffen und sind von dort zusammen nach Wolgograd geflogen. Dort wurden wir Oleg abgeholt. Oleg und seiner Frau Tanja nehmen auch an unserem Kurs teil. Er ist Propst im Bezirk Wolgograd mit Sitz in Sarepta. Der Tag nach unserer Ankunft, ein Samstag, war der einzige Tag, um Wolgograd zu besuchen.
Oleg lud Anna und mich am nächsten Tag ein, in seinem Auto zunächst einen großen Soldatenfriedhof etwas außerhalb von Wolgograd zu besuchen. In einem riesigen Komplex sind in den letzten Jahren mehrere Soldatenfriedhöfe angelegt worden: ein Friedhof für rumänische, kroatische und italienische Soldaten, die im Verbund mit der Deutschen Wehrmacht hier gefallen waren. Ein Friedhof mit etwa fünfzig Steinblöcken, die jeweils aus vier Quadern bestehen und so geschichtet sind, dass in der Mitte der Blöcke ein Kreuz geformt ist. Auf jedem Quader sind die Namen von gefallenen unbekannten deutschen Soldaten geschrieben – 130.000 Namen!
Daneben eine andere Anlage für gefallene deutsche Soldaten, die identifiziert werden konnten. Ein riesiger, runder Grabhügel und umlaufend ein Band mit Steinplatten, auf denen die Namen dieser Gefallenen stehen: 63.000 Namen. Nicht weit davon entfernt der Soldatenfriedhof für russische gefallene Soldaten. Und dazwischen eine ökumenische Kapelle mit eindrucksvoller Architektur: Die Seiten offen, aber an jeweils einer Seite ein großes „orthodoxes“ und ein „lateinisches“ Steinkreuz. Durch beide Kreuze kann man hindurchsehen auf die Weiter der Steppe. Und die ganze Anlagen nach oben – zum Himmel – offen. Eine sehr eindrucksvolle Anlage. In der Schlacht um Stalingrad sind zwei Millionen Menschen gefallen – die meisten im Alter zwischen siebzehn und dreißig Jahren. Und von den etwa einhunderttausend deutschen Kriegsgefangenen von dort sind nur sechstausend lebend in die Heimat zurück gekehrt. Mich hat diese beeindruckende Grabanlage sehr erinnert an den Soldatenfriedhof in Charkow, wo mein Vater zwischen seinen Kameraden begraben liegt.
Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen. Und der Himmel über der weiten Steppenlandschaft war hellblau und ohne Wolken. Am späten Nachmittag kamen wir an der Gedenkstätte mit der bekannten monumentalen Statue Mutter Heimat“an. Die Abendsonne tauchte die über einhundert Meter hohe Statue in ein geradezu freundlich-warmes Licht. Die Statue befindet sich auf der Spitze des Mamajew-Hügels. Im Kampf allein um diesen Hügel, von dem die ganze Stadt und die Wolga unter Beschuss genommen werden konnten, sind 30.000 deutsche und sowjetische Soldaten gefallen. Die Deutsche Wehrmacht wollte mit der Einnahme der Stadt Stalingrad den Nachschub der Alliierten von Persien über das Kaspische Meer und die Wolga bis in die Mitte des Landes unterbrechen. Ziel war es aber auch, bis zu den Ölfeldern des Kaukasus zu gelangen und nicht zuletzt die „Stadt Stalins“ in Trümmer zu legen.
Von der Monumental-Statue führt einen Treppenweg herab Richtung Wolga. Es handelt es sich um eine ebenso monumentale Anlage zum Gedenken und zur Ehre der ruhmreichen Verteidiger der Stadt. Beim Herunterschreiten der breiten Treppe ist Maschinengewehrfeuer vermischt mit Befehlen und Schreien der Soldaten zu hören und dazwischen patriotische Lieder und Kampfgesänge. Beidseitig an den Wänden der Treppenanlage monumentale in Stein gehauene Kampfszenen. Es mag ja sein, dass russische Besucher hier an Kampf und Sieg berauschen. Ich selbst bin erstarrt.
Im Auto hat Oleg uns dann ein wenig durch das schon in den fünfziger Jahren wieder aufgebaute Zentrum der Stadt gefahren, das ein einziges Trümmerfeld war. Ganz in der Nähe des Kellers, in dem General Paulus sich ergeben haben wir in einem feinen Restaurant zu Abend gegessen. Das Restaurant liegt in der Straße Miram – zum Frieden….
Volgograd (Sarepta), Oktober 2018
Zweiter Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018
Das Kursgeschehen eines Tages endet mit einer Abendandacht in der schönen alten Kirche der Herrnhuter Gemeinde aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Kirche ist ganz in weißer Farbe gehalten. Neben dem Altar stehen auf Fensterbänken frische Schnittblumen in Vasen und Topfpflanzen. Die Untersetzer der Topfpflanzen leuchten in wechselndem Neonlicht rot und blau und gelb. Über dem Altar leuchtet eine Kordel aus bläulich- rot aufflackerndem Neonlicht. Und die Orgelpfeifen strahlen in hellem Neongrün. Für unseren Kurs wäre diese Installation nicht extra nötig gewesen….
In den Gesangbüchern gibt es viele Lieder, die wir auch aus unserem Gesangbuch kennen. Sie sind zweisprachig gedruckt. Eine gewisse Vorliebe gibt es für die „Herz-Jesu-Lieder“, in denen die innige Verbindung mit Jesus betont wird und gleichzeitig auch die Niedrigkeit und Nichtigkeit des einzelnen Menschen unterstrichen wird. Der Mensch ist als Sünder verworfen und kann nur durch das Leiden und den Opfertod Jesu gerettet werden.
In einer Kurseinheit zum Thema „Einführung in die Psychodrama-Seelsorge“ habe ich die Gruppe eingeladen, die Texte von zwei Gesangbuchliedern, die wir gerade in der Morgenandacht gesungen hatten, genauer anzuschauen und in Form von Skulpturen das darin ausgedrückte Lebensgefühl zu zeigen. Dies war sehr eindrücklich.
In einem anschließenden Gruppenspiel zeigte eine Teilnehmerin auf der psychodramatischen Bühne, wie sie ihren vierten Geburtstag in der Familie gefeiert haben: Die Eltern, Geschwister und Freundinnen tanzten am Ende einen Reigentanz und sangen dabei ein Geburtstagslied. Nur die alte Babuscka und der Kater blieben auf dem Sofa sitzen. Ein glücklicher Augenblick im Leben und möglicherweise eine Kraftquelle und ein Trost in weniger glücklichen Zeiten.
Die Teilnehmenden wollten gerne wissen, ob sie Elemente des Psychodrama für ihre eigene Seelsorgearbeit übernehmen können. Im Sinne eines Monodrama haben wir deshalb die Situation eines Einzelgesprächs mit Psychodrama-Elementen experimentell auf die Bühne gebracht. Eine Kursteilnehmerin, Katharina erzählt im Gespräch mit mir als Seelsorger von ihren Ängsten. Ich helfe Katharina dabei, diese Ängste zu benennen. Unter anderem geht es um Flugangst, aber auch generell um Lebensangst. Ich bitte Katharina, für diese Ängste verschiedene Stühle aufzustellen und sich dann jeweils hinter diese Stühle zu stellen und die Angst sprechen zu lassen. („Ich bin deine Angst vor dem Fliegen. Ich mache, dass du innerlich zitterst….“ oder: Ich bin deine Lebensangst, ich schleiche mich zu dir und würge dich, dass du denkst, du erstickst…“). Ich bitte Katharina, eine zu der jeweiligen Angst passende Haltung und Gestik einzunehmen.
Die zunächst nicht greifbaren Ängsten werden auf diese Weise konkret und „handhabbar“ – bis dahin, dass Katharina ihre Lebensangst anschreit („Raus aus meinem Leben! Hilf mir, Gott!…“). Katharina kommt auf die Idee, die Angst wegzuschieben und dabei immer wieder ein Vaterunser zu sprechen. Schließlich ist die Angst verschwunden. In der Nachbesprechung wird deutlich: für diesen Moment nur. Aber immerhin ist es eine gute Erfahrung, an die sich Katharina erinnern kann, wenn die Angst sie wieder überfällt.
In den Fällen, welche die KursteilnehmerInnen einbringen geht es auffallend oft um die Familienkonstellation Mutter-Tochter-Kind(er). Der Vater ist oft schon nicht mehr am Leben und der Mann der Tochter (der Vater ihrer Kinder) oft anderweitig „abhanden gekommen“. Dabei spielen Arbeitslosigkeit, die räumliche Enge im Zusammenleben mehrerer Generationen in einer Wohnung und der Alkoholmissbrauch eine Rolle. Oft wohnen die Kinder auch noch im Erwachsenenalter bei den Eltern. Und selbst dann noch, wenn sie selbst geheiratet haben und Kinder da sind. Die Wohnungen haben meistens nicht mehr als zwei bis drei Zimmer.
Die KursteilnehmerInnen haben im Vergleich zum ersten Kurs vor einem Jahr große Fortschritte gemacht. Sie sind aufmerksamer und einfühlsamer in ihrer Wahrnehmung geworden und haben einen guten Blick für ihr Gegenüber entwickelt. Sie spüren, dass in in einem Seelsorgegespräch verallgemeinernde und belehrende Bemerkungen nicht hilfreich sind. Der Mensch mit seinem individuellen Schicksal steht im Mittelpunkt. Mir fällt die große Bedeutung der Gemeinde auf, in der jemand seelsorglich tätig ist. Das Aufgehobensein in der „Gemeinschaft der Gläubigen“ ist ein großes Anliegen sowohl von den Seelsorgern als auch von den Ratsuchenden. Nicht selten endet eine gelungene Beratungssituation mit einer (Erwachsenen)Taufe in der Gemeinde. In der russischen Gesellschaft gibt es nur ein geringes und ungenügendes psychotherapeutisches Angebot. Für die Kirchen wäre es eine große Chance, psychotherapeutisch fundierte Seelsorgeangebote für Gemeindeglieder ebenso wie für Menschen außerhalb der Kirchen zu machen!
Auch für Kinder- und Jugendliche in Krisensituationen gibt es nur ungenügende Hilfsangebote. Ein Teilnehmer stellte folgenden Fall vor: Ein 18-jähriger junger Mann wendet sich – auf Drängen seiner älteren Schwester – an den Pastor. Die Mutter des jungen Mannes war im Zusammenhang mit der Geburt des Jungen gestorben. Seine zehn Jahre ältere Schwester wird Mutterersatz für das Kind. Der Vater heiratet nicht wieder. Er arbeitet bis spät und spricht zu Hause kaum ein Wort.
Als die Schwester heiratet und aus der elterlichen Wohnung auszieht, bleibt der Junge mit dem real abwesenden und emotional nicht zugänglichen Vater allein. Er findet keinen Anschluss bei Jugendgruppen oder in einem Sportverein, weil der Vater ihm dies verbietet. So stromert er – hart an der Grenze der Verwahrlosung – tagsüber in der Stadt herum. Erstaunlicherweise kann er jedoch die neunte Klasse beenden. Auf Druck seiner Schwester wendet er sich an den Pastor. Völlig überraschend trägt er dort seinen Wunsch vor, sich taufen zu lassen. Auf die Frage des Pastors sagt er: „Meine Mutter war eine gläubige Frau, sie hätte bestimmt gewollt, dass ich getauft werde.“
Das nie bearbeitete Geburtstrauma kommt über den Wunsch, sich taufen zu lassen wieder hoch. Der Pastor spricht dies an. Im Gespräch wird deutlich, dass der Verlust der Mutter und die nie gestillte Sehnsucht in dem jungen Mann den Wunsch geweckt hat, sich taufen zu lassen. Es wird deutlich, dass er auf diese Weise eine Nähe und Verbindung zur Mutter herstellen kann. Die Beziehung zu seinem Vater war zeitlebens problematisch und nie so, dass das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit befriedigt und Vertrauen in das Leben entwickelt werden konnte. Womöglich stand sogar der unausgesprochene Vorwurf des Vaters zwischen beiden, dass der Vater durch die Geburt des Kindes seine Frau verloren hat. Für den jungen Mann wird die Taufe zu einem heilsamen und befreienden Geschehen.
Kompetente und erfahrene SeelsorgerInnen könnten dazu beitragen, das gesellschaftliche Defizit im sozial-therapeutischen Bereich zu vermindern. Genau dies ist das Ziel unserer Seelsorgekurse.
Leider muss bezweifelt werden, dass die Kirchenleitungen dies auch so sehen. Seelsorge erweckt den Anschein der Bedeutungslosigkeit oder Beliebigkeit, weil sie im Verborgenen geschieht und ihre Wirkung unspektakulär ist.
In einer Kurseinheit zum Thema „Religiöse Sozialisation“ wurde deutlich, dass viele Kursteilnehmer erst im Erwachsene zum Glauben und in die Kirche gekommen sind. Bis dahin ist Kirche und besonders die Lutherische Kirche ihnen ganz unbekannt gewesen. Wenn jemand zum ersten Mal einen lutherischen Gottesdienst besucht oder ein Gespräch mit dem Pastor führt ist dies oft verbunden mit der Bitte um eine eigene Bibel.
Und dann geschieht es, dass dieser Besucher zum ersten Mal im Leben anfängt, selbst in der Bibel zu lesen. Gespräche über biblische Texte und den Glauben bringen tatsächlich Menschen dazu, Mitglieder in einer Gemeinde zu werden. Wenn sie nicht schon als Kinder in der Orthodoxen Kirche getauft wurden, geschieht ein Kircheneintritt oft mit der Bitte, getauft zu werden.
In der Sowjetzeit, als die Kirche – auch die Orthodoxe Kirche – verfolgt und Priester in den Gulag geschickt oder ermordet wurden, haben die Großmütter, die Babuschkas den Glauben bewahrt und an die Enkel weitergegeben. Das kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Auch heute sind es vor allem (ältere) Frauen, die das Gemeindeleben tragen. Bis vor kurzem war es möglich, dass in sehr kleinen Gemeinden das Gemeindeleben und die Gottesdienste in einer Wohnung (oft in einem der großen „Plattenbauten“ – stattfand. Jetzt ermöglicht ein neues Gesetz, dass Gottesdienste in Wohnungen nicht mehr gefeiert werden dürfen, wenn sich Mitbewohner über die „Ruhestörung“ beschweren. Für manche kleine Gemeinden bedeutet dies das Aus.
Gestern Nachmittag hatten wir kursfrei. In der Gemeinde gibt es einen VW-Bus. Sechs Kursteilnehmer und Anna und ich sind zusammen nach Wolgograd reingefahren, um noch etwas mehr von der Stadt zu sehen und zu erleben. Als erstes sind wir an einer Stelle ausgestiegen, wo der kleine Fluss Sarepta in die Wolga fließt. Für die Olympiade wurde alles mit neuen Straßen und Plätzen überzogen, sodass vom Fluss nichts mehr zu erkennen ist. Aber hier war es, wo die Herrnhuter Kolonisten vom 40 km entfernten Sarepta ihre Waren umschlugen und auf den größeren Wolgaschiffen weiter transportierten. Und tatsächlich wurde Wolgograd – das früher Zaretzin hieß – später noch als die da schon aufstrebende Siedlung Sarepta gegründet.
Mit einem der Ausflugsboote haben wir dann eine Fahrt auf der Wolga gemacht. Es war schon Nachmittag und langsam ging die Sonne über der Stadt und dem Fluss unter. Auf dem anderen Ufer der Wolga konnte man deutlich einen breiten Sandstrand erkenn. Ich dachte dabei an das Wolgalied, das ich kürzlich bei der Probe des Kirchenchores mitgesungen habe:
„Die Wolga ist mein Heimatfluß, an den ich immer denken muß….Die Wolga fließt ins Kaspi-Meer… , zuerst jedoch mit Sehnsuchtsschmerz strömt sie durch mein zerquältes Herz…“
Ich dachte aber auch an das berühmte Wolgalied aus der Oper von Franz Léhar:
„…Es steht ein Soldat am Wolgastrand,/ hält Wache für sein Vaterland./ In dunkler Nacht allein und fern./ Es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern./ Regungslos die Steppe schweigt/ Eine Träne ihm ins Auge steigt:/ Und er fühlt, wie´s im Herzen frißt und nagt,/ wenn ein Mensch verlassen ist, und er klagt,/ Und er fragt…“
Vor allem aber spüre ich auf dieser gemächlichen, ruhigen Flussfahrt die Diskrepanz zu den entsetzlichen Kämpfen um Stalingrad, die hier gewütet haben. Im Stadtpanorama fällt der Blick auf die große, alte Getreidemühjle, die einmal einen deutschen Besitzer hatte. In den Straßenkämpfen umkämpft, völlig zerstört, wie die umliegenden Häuser. Heute ein Museum, das an diese Kämpfe und diese Zerstörung erinnert. Zum Museum gehört auch die stehen gelassene Ruine eines umkämpften Wohnblocks.
Wir fahren unter die neue Brücke, die den Fluss überspannt. Gerade noch rechtzeitig fertig gestellt zur Fußball-Weltmeisterschaft. Sie wurde von der Bevölkerung anfangs „Die tanzende Brücke“ genannt, weil die Schwankungen der Brücke zuerst mehr als einen Meter betrugen. Danach wurde sie stabilisiert und ist jetzt sicher befahrbar. Gleich neben der Brücke das neue Fußballstadion. Eine neues Wahrzeichen der Stadt.
Wolgograd gilt als „Heldenstadt“. Es gibt hier eine „Allee der Helden“ und viele Mahnmale, die an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ erinnern. Entlang der Straßen im Zentrum gibt es viele Mahnmale, die gleichzeitig Massengräber für Soldaten und Zivilisten sind. Neben der orthodoxen Alexander-Newski-Kirche, die völlig zerstört war und gerade mit Unterstützung des Staates wieder aufgebaut wird, das Mahnmal für den unbekannten Soldaten: Ein hoher Obelisk und davor eine „ewige Flamme“.
Es ist schon dunkel geworden, als unsere kleine Gruppe vor dem Mahnmal steht. Ich bleibe noch eine Weile und schaue in die Flamme. Neben mir steht eine junge Frau. Bewegungslos schaut sie in die lodernde Flamme. Ich spreche sie an, ob sie meditiert. Sie sieht mich an und sagt: „Das Leben ist hart und schmerzlich!“ Ich bin völlig überrascht bei diesen Worten und schäme mich fast, dass ich sie angesprochen habe. Ich sage: „Ja, das Leben kann hart und schmerzlich sein.“ Sie: „Meine Freunde haben mich alle verlassen.“ Und sie sieht mich, den Fremden an und hat Tränen in den Augen. Ich verabschiede mich und sage: „Ich wünsche Ihnen sehr, dass das Leben wieder gut zu Ihnen ist.“ Sie sieht mich an und sagt: „Spasiba. Danke“ Und ich sage: „Spasiba“. Und gehe zu den anderen.
Wolgograd (Sarepta), Oktober 2018
Dritter Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018
Unser Seelsorgekurs ist gut zu Ende gegangen. Mit einer feierlichen Überreichung der Diplom-Urkunden. Auf dem Abschlussfoto sehen alle ziemlich stolz und froh aus. Die Urkunden wurden im Rahmen eines Abschlussgottesdienstes in der schönen, alten Herrnhuter Kirche überreicht. Danach war ein gemeinsames Essen im Pfarrgarten angesagt. Früh am nächsten Morgen musste Anna leider schon zurück nach Deutschland fliegen. Ich bin echt froh und dankbar, dass ich die beiden letzten Kursblöcke gemeinsam mit ihr leiten konnte!
Am nächsten Morgen früh um sieben Uhr nehmen Walodja und Alena , Olga und mich in ihrem Auto mit in das etwa 450 km nördlich von Sarepta gelegene Saratow. Walodja und Alena selbst haben die Fahrt weiter bis nach Uljanowsk fortgesetzt, wo sie leben. Die Fahrt bis Saratow dauerte sechs Stunden. (Mindestens weitere 8 Stunden sind es bis Uljanowsk!)
Die lutherische Gemeinde in Saratow hat vor fünf Jahren, die Genehmigung bekommen auf dem Grundstück, auf dem die in der Stalinzeit abgerissene Kirche einmal stand, eine neue Kirche zu bauen. Moderne, interessante Architektur mit viel Beton. Es fehlt noch der Turm, der sich wie eine Nadel zum Himmel strecken soll. Nachdem wir Walodja und Alena verabschiedet hatten, fuhren Olga und ihr Mann Andrej mit mir nach Marx und Engels – zwei alte wolgadeutsche Städtchen. Wir fahren aus Saratow raus über die neue, drei Kilometer lange Brücke über der Wolga nach Marx.
Aus dem Autofenster sehe ich die frisch gepflügten Felder. Sogar aus der Entfernung kann ich sehen, wie fruchtbar der schwarz-braune Boden ist. Und ich verstehe, wie dankbar die hierher zugewanderten deutschen Siedler waren für diesen fruchtbaren Boden, der ihnen Auskommen und Wohlstand ermöglichte. Die Kleinstadt Marx war eine Zeit lang Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik. Wir parken direkt vor der lutherischen Kirche. Eine Baustelle. DieKirche wird gerade restauriert. Für mehr als eine Million Euro. Ein reicher russischer Mäzen, dessen Eltern in Marx gelebt haben, hat alle Kosten für die umfassende Restaurierung übernommen.
Vor der 1917er Revolution hieß die Stadt Katharinenstadt . Von den dort lebenden Wolgadeutschen so genannt nach der Zarin Katharina der Großen, die die Ansiedlung der Deutschen ermöglicht hatte. Ihr Denkmal in der Nähe der Kirche wurde im Krieg eingeschlossen und jetzt als Replik wieder in derselben Größe aufgestellt. Auf einem neuen Sockel, denn die Schrift auf dem alten Sockel wurde weg gemeißelt,
Die Kirche ist ein beeindrucken großes Gebäude. Sie ist ganz weiß. Mit einem separaten Glockenturm. Von außen ist sie schon fertig renoviert, aber das Innere ist noch eine Baustelle.
Über viele Generationen wurden in dieser Kirche Wolgadeutsche getauft, konfirmiert und getraut. Die Kirche hatte früher mehr als eintausend Plätze für eine große Gemeinde. Heute sind es keine dreißig Gemeindeglieder mehr. Wozu dann der Aufwand, die Kirche wiederherzustellen? Aus meiner Sicht ist dies ein Beitrag zur Erinnerungskultur. Auch wenn es heute nur eine verschwindend kleine Gemeinde ist, es bleibt doch durch sie und durch das Kirchengebäude die Erinnerung an eine Gemeinschaft von Gläubigen, die an diesem Ort ihren Glauben gelebt haben.
Inzwischen ist es fast dunkel geworden. Aber die weiße Kirche leuchtet immer noch hell vor dem dunklen Abendhimmel. Mir fallen Worte von Martin Luther ein: Dunkelheit vertreibt nicht durch Dunkelheit, sondern durch Licht , und Hass vertreibt man nicht durch Hass, sondern durch Liebe.
Über der Kirche steht der halbe Mond. Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön; so sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht seh´n.
Auf dem Rückweg machen wir Halt in Engels- Es hat auch heute noch einen kleinen Hafen an der Wolga. Es ist das alte Handelszentrum der Wolgadeutschen gewesen. Viele alte Backsteinhäuser aus der damaligen Zeit stehen noch. Privathäuser. Das Gebäude der höheren Schule (Collegium). Das Haus, wo jetzt das Deutsch-Russische Kulturzentrum untergebracht ist. Neu ist das Denkmal mit dem Bullen und dem Salzgefäß auf seinem Rücken. Mineralsalz wurde in dieser abgebaut und in Engels verschifft.
Ich lade Olga und Andrej zum Abendessen ein in ein nettes Restaurant am Marktplatz von Engels. Nachdem seine Frau Olga ihm so begeistert vom Seelsorgekurs erzählt hat, ist es höchste Zeit für Andrej, die Verhältnisse zurecht zu rücken. Er fragt mich ganz direkt: Bist du nun Pastor oder bist du Psychologe? Ich erzähle ein wenig davon, wie ich selbst zur „Pastoralpsychologie“ gekommen bin und versuche zu erklären, wie sehr das neuere human-wissenschaftliche Denken die Pädagogik, die Sozialwissenschaften und nicht zuletzt die Seelsorge der Kirche bereichert hat. Und wie die Humanwissenschaften in Theorie und Praxis den Glauben nicht ersetzt, sondern auf vielfache Weise befreit und vertieft haben.
Andrej schaut mich weiterhin skeptisch unter seinen buschigen schwarzen Augenbrauen. Die Vorfahren von Andrej sind aus Armenien hierher eingewandert. Andrej hat als Tischler und Autoschlosser in Saratow gearbeitet. Die Begegnung mit Olga brachte eine Wende in seinem Leben. Olga führte ihn zum Glauben und in die lutherische Kirche. Andrej studierte Theologie im kirchlichen Ausbildungszentrum in Nowosaratowka bei St. Petersburg, wurde in Saratow zum Pastor ordiniert und ist seit zwei Jahren hier Propst.
Im Nachtzug nach Samara habe ich im Schlafwagen wieder nur eins der beiden oberen Betten erwischt. Dabei schaffe ich es kaum noch, mich da hoch zu hieven. In den unteren Betten haben sich zwei alte Damen schon bettfein gemacht. Da betritt ein Mann von beträchtlicher Körperfülle die Szene. Im ersten Augenblick freue ich mich, weil ich mir so schlank und rank vorkomme, wie seit langem nicht. Doch dann nimmt dieser Mensch einen kleinen Anlauf und Hoppsa! ist er im oberen Bett gelandet und beginnt sogleich mit seinem Handy zu spielen. Verblüffend. Neid! Ich versuche erneut, die kleine Leiter aufzuklappen, auf der Obenlieger hochklettern können.
Die alte Dame unter mir hat etwas dagegen, dass die Leiter aufgeklappt wird. Die Leiter würde sie doch sehr stören, weil die Leiter sich direkt neben ihrem Kopf befände, und das ginge gar nicht. Ich versuche sie im schönsten mir zur Verfügung stehenden Russisch sie höflich zu bitten, sich mit ihrem Kopf doch bitte an die Fensterseite zu legen. Njet. Ich bitte die Schaffnerin unseres Waggons um Hilfe. Die schafft schnell Klarheit: Kopf immer zum Fenster! Die gute alte Ordnung in den russischen Zügen sieht das so vor. Also um drehen, paschalsta! Andrej, der mich bis in meinen Zug begleitet hatte, versuchte die Schaffnerin dazu zu bringen, für mich einen Schlafplatz unten zu ermöglichen. Aber das schwarze Collarhemd und das große silberne Umhängekreuz des Propsten machten keinen Eindruck auf sie. Also klettere ich wieder einmal mit Mühe in die obere Etage.
Nach überstandener Nacht hole ich mir einen Teebeutel tschorno tschei c tschut tschut moloko – Bitte einen schwarzen Tee mit etwas Milch. Teebeutel und heisses Wasser aus dem großen Samowar im Waggon, das geht immer. Milch war – wie immer – aus. Mit meiner Teetasse setze ich mich in den Gang und schaue aus dem Fenster. Ich muss eine so unglückliche Figur gemacht haben, dass die Schaffnerin mich in ihr Dienstabteil einlud. Hier an ihrem Diensttisch könne ich doch gerne meinen Tee trinke. Ich habe die bevorzugte Behandlung natürlich zu schätzen gewusst. Gleichzeitig habe ich daran gedacht, dass sowohl mein Großvater wie auch schon mein Urgroßvater väterlicherseits Lokomotivführer waren. Wir Eisenbahner sind doch eine Familie….
In Samara werde ich vom Hausmeister der Lutherischen Kirche mit dem Auto abgeholt und zu meinem Hotel gebracht. Am nächsten Vormittag bin ich mit Karin verabredet. Eine Sozialarbeiterin aus dem Schwäbischen. Sie hat unbezahlten Urlaub genommen, um hier in Samara mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die in Russland als „behindert“ bezeichnet werden. Zum Beispiel Jugendliche mit Down-Syndrom oder Jugendliche mit epileptischen Anfällen. Mir fällt auf, dass man oft auch von jugendlichen „Autisten“ spricht, die als problematisch gelten.
Wenn die Jugendlichen ihr 18. Lebensjahr vollendet haben, bekommen sie keinerlei Hilfen mehr von staatlicher Seite. Die Mehrzahl von ihnen ist auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Sie hängen dann mehr oder weniger zu Hause herum. Sie sind vollkommen auf die Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie angewiesen. Konkret heißt dies: Wenn beide Eltern berufstätig sind – was in der regel der Fall ist – sind die Jugendlichen den ganzen Tag sich selbst überlassen.
Die Pastorin der benachbarten lutherischen Kirchengemeinde in Togliatti hat angesichts dieser Problemlage berufsbegleitend ein Studium in Sonderpädagogik gemacht. Aufgrund dieser Zusatzqualifikation bietet sie für etwa 15 dieser Gruppe von Jugendlichen ein besonderes Angebot an. Es besteht aus einer Mischung aus handwerklicher Tätigkeit, Sport und Bewegung und Gruppengespräch. In der lutherischen Kirche in Samara gibt es einen ebenso großen Bedarf für ein solches Angebot. Für drei Monate ist jetzt Karin für eine Gruppe von zwölf Jugendlichen tagsüber mit ihren Angeboten da. Darunter vor allem ein tanz-therapeutisches Angebot. Die Jugendlichen sind begeistert – und ihre Eltern auch. Aber wenn Karin zurück in Deutschland ist, wird es kein ähnlich qualifiziertes Angebot geben. Weder in personeller noch in finanzieller Hinsicht gibt es die Möglichkeit, das Angebot fortzusetzen. Und niemand weiß, wie es weitergehen kann.
Samara, Oktober 2018
Vierter Bericht von meiner Russlandreise im Oktober 2018
In Samara werde ich vom Hausmeister der Lutherischen Kirche mit dem Auto abgeholt und zu meinem Hotel gebracht. Am nächsten Vormittag bin ich mit Karin verabredet. Eine Sozialarbeiterin aus dem Schwäbischen. Sie hat unbezahlten Urlaub genommen, um hier in Samara mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die in Russland als „behindert“ bezeichnet werden. Zum Beispiel Jugendliche mit Down-Syndrom oder Jugendliche mit epileptischen Anfällen. Mir fällt auf, dass oft auch „Autisten“ als problematisch genannt werden. Ich habe nicht genauer herausfinden können, was damit konkret gemeint ist. Meine Phantasie ist, dass damit Jugendliche gemeint sind, die „auffällig“ sind.
Wenn die Jugendlichen ihr 18. Lebensjahr vollendet haben, bekommen sie keinerlei Hilfen mehr von staatlicher Seite. Die Mehrzahl von ihnen ist auf dem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt nicht vermittelbar. Sie hängen dann mehr oder weniger zu Hause herum. Sie sind vollkommen auf die Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie angewiesen. Konkret heißt dies: Wenn beide Eltern berufstätig sind – was in der regel der Fall ist – sind die Jugendlichen den ganzen Tag sich selbst überlassen.
Die Pastorin der benachbarten lutherischen Kirchengemeinde in Togliatti hat angesichts dieser Problemlage berufsbegleitend ein Studium in Sonderpädagogik gemacht. Aufgrund dieser Zusatzqualifikation bietet sie für etwa 15 dieser Gruppe von Jugendlichen ein besonderes Angebot an. Es besteht aus einer Mischung aus handwerklicher Tätigkeit, Sport und Bewegung und Gruppengespräch.
In der lutherischen Kirche in Samara gibt es einen ebenso großen Bedarf für ein solches Angebot. Für drei Monate ist jetzt Karin für eine Gruppe von zwölf Jugendlichen tagsüber mit ihren Angeboten da. Darunter vor allem ein tanz-therapeutisches Angebot. Die Jugendlichen sind begeistert – und ihre Eltern auch. Aber wenn Karin zurück in Deutschland ist, wird es kein ähnlich qualifiziertes Angebot geben. Weder in personeller noch in finanzieller Hinsicht gibt es die Möglichkeit, das Angebot fortzusetzen. Und niemand weiß, wie es weitergehen kann.
Karin hat mich den ganzen Vormittag durch das alte Zentrum von Samara geführt. Zum schönen alten Wohnhaus des Schriftsteller Alexej Tolstoi – einem Verwandten des berühmteren Leo Tolstoi. A. Tolstoi lebte einige Jahre in Paris und Berlin und kehrt Anfang der 20er Jahre in das stalinistische Russland zurück. Im Jahre 1935 veröffentlichte er das Märchen Der goldene Schlüssel oder die Abenteuer des Pinoccio, das ein in Russland und darüber hinaus bekanntes Kinderbuch wurde. Die Vorgeschichte zu diesem Kindermärchen beginnt 1883. Damals veröffentlichte der Italiener Carlo Collodi die Geschichte über eine Holzpuppe mit einer langen Nase, die allerhand Unfug anstellt und am Ende in einen Menschen verwandelt wird.
Alexej Tolstoi nimmt diese Veröffentlichung zur Grundlage einer eigenen Version der Geschichte, die er 1936 als Theaterstück verfasst. In die lustige Kindergeschichte flechtet er eine sozial- und gesellschaftskritische Botschaft ein. Eine Weiterentwicklung vom Fabulösen zur Sozialsatire bzw. zum politischen Lehrstück. Drei Jahre später kommt das Märchen als Zeichentrickfilm in die Kinos der UdSSR. Die Kameras zeigen Bilder von verwahrlosten Kindern und der Goldene Schlüssel öffnet die Tür in ein Land wo es keine ausbeuterische Unterdrückung gibt und wo Kinder glücklich leben können: in der UdSSR. Im selben Jahr (1939) und unabhängig von einander entsteht Walt Disneys Zeichentrickfilm „Pinoccio“.
In den Kino der sowjetischen Besatzungszone wird der Film 1949 gezeigt und erobert die Herzen der Kinder. Wenn man die Sowjet-Propaganda einmal ausblendet, gilt die Verfilmung dieses Märchens durch den berühmten russischen Regisseur Alexander Ptuschko in der Retrospektive als ein Meisterstück in der Filmgeschichte.
Karin führt mich auch zum Stalinbunker: In einem Hinterhof, gleich gegenüber dem Dramatischen Theater, dem großen orthodoxen Frauenkloster und der daneben liegenden Deutschen Bierbrauerei wurde für Stalin das Gegenstück zum „Führerbunker“ in 34 Meter Tiefe bombensicher gebaut. Sogar die Nachbarn sollen von den Bauarbeitern nichts gemerkt haben, weil die Entsorgung der Erde durch unterirdische Kanäle weit entfernt erfolgte. Es gab viele unterirdische Kanäle und Ausgänge, die zur Flucht bis an das nahe gelegene Wolga-Ufer führten. Die gesamte Regierung und zentrale Verwaltungsbehörden wurden beim Anrücken der Deutschen Wehrmacht nach Samara verlegt. Östlich der Wolga und tief im Landesinneren. Ich habe gerne darauf verzichtet, dieses Angst-/Machtobjekt zu besichtigen.
In Samara gab es zur sowjetischen Zeit nur noch zwei „arbeitende“ orthodoxe Kirchen. Die lutherische Kirche wurde selbstverständlich auch zweckentfremdet. Bei meinem Spaziergang durch Samara hatte ich den Eindruck, dass mir diese Stadt an der Wolga freundlich und liebenswert entgegen kommt. Mich haben die vielen kleinen Theater überrascht und die Bereitschaft der Menschen, denen ich hier begegnet bin, sich mit der Geschichte kritisch und unerschrocken auseinanderzusetzen. Im alten Zentrum finden sich viele schöne Häuser, die vor uns nach der Jahrhundertwende entstanden sind. Es gibt nette, kleine Kneipen und Cafés in der Fußgängerzone, in der man angenehm flanieren und die Auslagen der üblichen Verdächtigen wie Gucci und Versace betrachten kann.
Nach meiner Ankunft mit dem Zug am frühen Morgen hatte ich gerade ein paar Stunden Zeit bis zur Bibelstunde, die ich auf die Bitte der Pröpstin hin versprochen hatte, zu übernehmen, weil sie einen auswärtigen Termin wahrnehmen musste. Vor Beginn der Bibelstunde war ich zum Mittagessen mit den Mitarbeitern der Gemeinde eingeladen. Es fand in der gemütlichen, großen Küche des Kirchenzentrum statt. Eine hinreißend freundliche Gemeinde-Köchin hatte für die 6 – 8 Mitarbeitenden in der Gemeinde das Mittagessen zubereitet. Ein Gemeinschaftsessen, das hilft, den Arbeitsalltag zu unterbrechen. Wunderbar!
In der Bibelstunde warten zehn betagte Babuschkas auf mich sowie ein junger Mann, von dem ich vermutete, dass er Student war und nicht wirklich hierher gehörte. Ich wurde herzlich und offen begrüßt. Mir war schnell klar, dass ich erfahrene und geübte Bibelstunden-Expertinnen vor mir hatte, die sich auch gegenüber Überraschungsbesuchern aus Deutschland unbeeindruckt zeigten.
Als biblischen Text habe ich die bekannte Geschichte vom Barmherzigen Samariter mitsamt Rahmenerzählung aus dem Lukasevangelium (Lk 10, 26-37) ausgesucht. In der vorangehenden Rahmenerzählung geht es darum, dass Jesus gefragt wird, was ein Mensch tun muss, um das ewige Leben zu haben. Jesus antwortet so darauf, dass er die Fragestellung verändert: Woran erkennt man, dass Gott einem Menschen im konkreten Alltagsgeschehen nahe ist (und nicht erst im Himmel)? Er tut dies mit der berühmten Beispielgeschichte vom Barmherzigen Samariter, in der die Vertreter der etablierten Religion keine gute Figur machen.
Der junge Mann, der sich direkt neben mir seinen Platz gesucht hatte, verfolgt interessiert, wie ich den biblischen Text verstehe und wie ich versuche, ihn lebensnah zu deuten. Nach der Bibelstunde spreche ich ihn an.. Es stellt sich heraus, dass er tatsächlich studiert: Geschichte und Deutsch. Allerdings an einer Universität, die weit entfernt liegt. Er hat gerade frei und ist eher zufällig in diese Bibelstunde geraten. Ob ich ihm wohl eine deutsch-sprachige Bibel beschaffen könne. Ich habe die Sprecherin der Bibelstunde gebeten, dem Studenten eine deutsch-sprachige Luther-Bibel aus den Beständen der Gemeinde zu überlassen.
Schon in Wolgograd war mir aufgefallen, dass der Besitz einer eigenen Bibel oder einer Familien-Bibel für viele eine Kostbarkeit ist. . Das hat meine Einstellung zur Arbeit von Bibelgesellschaften in Deutschland verändert. Ich habe verstanden, dass ihre Arbeit immer noch wichtig ist. Anders als für uns, die wir jederzeit für wenig Geld eine aktuelle Ausgabe der Bibel erstehen können, sehnen sich viele Menschen anderswo über Jahre danach, eine persönliche Bibel zu besitzen und sie selbst studieren zu können.
Die Pröpstin und Präsidentin der Synode, Olga hat mich zum Mittagessen eingeladen. Olga ist eine Persönlichkeit. Sie hat durchaus eine Machtposition in der Lutherischen Kirche in Russland. Und sie ist sich dessen bewusst. Wir haben vor allem über die Situation, die aktuellen Bedürfnisse und die Zukunft der Gemeinde in Samara gesprochen. Über den gerade abgeschlossenen Seelsorgekurs haben wir dagegen kaum gesprochen.
Olga ist eine hervorragende Managerin und Expertin im Hinblick auf Fundrising. Sie versteht es , Menschen und Geld zu zusammen zu bringen und einzusetzen, um die Arbeit in ihrer Gemeinde und im Kirchenkreis zügig voran zu bringen. Seelsorge hat in ihren Planungen keine Priorität. Es war eine gute und interessante Begegnung. Olga hat mich mit dem Taxi bis zum Bahnhof begleitet und dort mit mir auf das Eintreffen meines Zuges gewartet. Ich habe verstanden, dass dies ein Zeichen der Wertschätzung gewesen ist.
Ich sitze im Nachtzug von Samara nach Moskau. Fünfzehn Stunden Zugfahrt liegen vor mir. Ich bin schon in vielen Zügen durch Russland gereist – aber dies habe ich noch nicht erlebt: Mein kleines russisches Reisebüro in Hannover hatte für mich ein Zwei-Bett-Abteil reserviert. Als erstes werde ich persönlich von der Schaffnerin mit Tee begrüßt. Dann wird mir von einer anderen Zugbegleiterin die Menü-Karte überreicht mit der Bitte, meine Speise- und Getränkewünsche zu nennen. Das Abteil ist schlicht und praktisch eingerichtet. Inklusive funktionierendem Fernseher.
So komfortabel bin ich noch nie in Russland gereist! Nach der Abreise stellt sich heraus, dass ich das Abteil ganz allein für mich habe. Man kann Luxus auch genießen – und es fällt gar nicht so schwer, sich daran zu gewöhnen…
In Moskau bin ich mit Aljona verabredet. Sie ist Pastorin für die deutsch-sprachige Gemeinde in Moskau. Und sie ist gerade dabei, in Deutschland eine mehrjährigen theoretische und praktische Weiterbildung als Pastoralpsychologin und Supervisorin abzuschließen. Sie spricht fließend Russisch. Die ersten Jahre ihres Lebens hat sie mit ihren Eltern in Moskau gelebt. Aljona hat zwischen den jeweils zehntägigen Blöcken unseres Seelsorge-Kurses für die Teilnehmenden kurs-begleitend Supervision angeboten. Die Teilnehmen waren von ihr und ihrer Arbeit sehr angetan.
Aljona und ich waren uns bisher noch nicht begegnet. Waren nur im Email-Kontakt miteinander. Aljona hatte ein ganz hervorragendes marrokanisches Restaurant ausgesucht, das inmitten eines Fabrigeländes aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag. Und nicht nur das von uns besuchte Restaurant gab es hier, sondern viele Kneipen, Musikschuppen und in der Moskauer Szene angesagte Angebote. Toll! Im Hintergrund sieht man die neue Skyline von Moskau mit ihren modernen Wolkenkratzern. Für mein architektonisches und ästhetisches Empfinden: genial!
Aljona und ich haben Zukunftspläne geschmiedet für die Entwicklung einer eigenständigen Weiterbildung in Seelsorge, Beratung und Supervision für die Russische Lutherische Kirche. Es sieht so aus, dass Aljona gemeinsam mit einigen von mir ausgebildeten russischen Kolleginnen und Kollegen in den nächsten Jahren Fortbildungen anbieten wird. Vor einem Jahr haben einige aus unserem Kurs einen Seelsorge-Verein gegründet, dessen Aufgabe es ist, in der Lutherischen Kirche in Russland die Seelsorge als einen wichtigen Pfeiler zu verankern. Ich freue mich sehr über diese Entwicklung und hoffe auf gutes Gelingen mit Gottes Hilfe.
Am Tag vor meiner Rückreise habe ich die alte, berühmte Stadt Wladimir besucht. Zweieinhalb Stunden Zugfahrt Richtung Osten. Wladimir ist eine der Städte des sogenannten „Goldenen Rings“. Wie Perlen auf einem Band reihen sich mehrere Städte aus dem 11. und 12. Jahrhundert um Moskau herum. Wladimir war im 12., Jahrhundert einmal das Zentrum von Staat, Kultur und Kirche. Innerhalb kurzer Zeit wurden in Wladimir kolossale Bauvorhaben verwirklicht: die große Mariae-Himmelfahrts-Kathedrale mit ihren vielen goldenen Kuppeln, das Goldene Tor, die Paradeeinfahrt zur Stadt und die Demetrius-Kathedrale – die Palastkirche des Wladimirer Fürsten aus dem 12. Jahrhundert.
Die Demetrius- Kathedrale ist nicht groß, aber sie übt mit ihrer schlichten und doch monumentalen Majestät eine große Wirkung auf den Betrachter aus. Besonders beeindruckend ist die mit Reliefs reich verzierte Eingangsseite. Die dort aus weißem Stein gehauenen Reliefs stellen unter anderem Löwen, Zentauren und Schneeleoparden dar. Auch Motive aus der antiken Mythologie und Szenen aus der Regierung König Davids.
Angesichts der vielen goldenen Kuppeln von Wladimir ist ein ein beeindruckender, wundervoller Abschluss meiner Russlandreise.
Moskau, Oktober 2018