Liebe Freunde.
während ich mich mit meinen Reise-Erinnerungen auf Kuba beschäftigt habe, hat der Hurrikan „Irma“ in der Karibik und auch auf Kuba eine breite Schneise der Zerstörung hinterlassen. Zwei Millionen Bewohner – ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – musste evakuiert werden und sich in Sicherheit bringen. In den Strassen Havannas steht das Wasser hüfthoch, und die Wellen schlagen neun Meter hoch gegen die Mauern des Malecón, der berühmten Uferstraße und Flaniermeile in Havanna. Ich bin doch gerade erst dort gewesen! Habe ein völlig anderes Bild im Kopf: die Leichtigkeit und Fröhlichkeit der Menschen. Das lebhafte, bunte Treiben auf den Plätzen und Bürgersteigen der Altstadt. Kaum zu fassen, wie plötzlich katastrophale Ereignisse in das Leben einbrechen können und nichts mehr ist, wie es einmal war.
Aber zurück zu den Anfängen der Revolution auf Kuba, die damals auch alles verändern sollte. „Und wo waren Sie, als es passierte?“ Ich meine die Revolution auf Kuba. Die Landung der kleinen Gruppe von wild entschlossenen Guerilleros, die mit einem kaum seetüchtigen Boot von Mexiko nach Kuba aufbrechen. Die See ist rauh, und die meisten hängen während der Überfahrt über der Reling. Als sie anlanden, können nur die tragbaren Waffen auf dem Marsch ins Landesinnere mitgenommen werden. Die schweren Waffen müssen zurück gelassen werden. Und dann, am 2. Januar 1959 ziehen die Revolutionäre um Fidel und Raul Castro und Che Guevara ein in Havanna!
In den Sommerferien im Jahre 1959 war ich in Schweden. Ich war 16 Jahre und die Aussicht, nach Schweden zu reisen war für mich damals ein revolutionäres Geschehen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand, der in diesem Alter heutzutage zum Schüleraustausch nach Australien oder Neuseeland fährt etwas Größeres erleben wird als ich damals. Man fuhr nach Österreich und vielleicht auch an den Gardasee – aber Schweden? Eine andere Welt! Eine andere Sprache. Nordische Götter. Linksverkehr.
Für mich gab es nichts Schöneres, als in der Fremde dem Fremden zu begegnen. Üblicherweise lag ich in diesen Jahren jedes Frühjahr einige Zeit mit Grippe im Bett. Heute habe ich fast den Eindruck, dass Grippe und Pubertät irgendwie zusammengehören. Und irgendwie auch, dass meine Mutter mir dann aus meinem Lieblingsbuch vorlas: „Reisepelle“. Ich habe das Buch später nicht wiedergefunden und erinnere mich nur noch daran, dass Pelle ein schwedischer Junge war, der nichts als weg wollte. Kurz gesagt: Meine Revolution fand in Schweden statt.
Ich hatte keine Ahnung, dass im selben Jahr 1959 Fidel und Raul Castro, Camilo Cienfuegos und der Argentier Che Guevara den kubanischen Diktator Batista stürzen und einen sozialistischen Staat errichteten . Zu Tausenden flüchteten die US-Amerikaner aus Kuba. Für die meisten von ihnen war Kuba vor allem eins: Vergnügen, Spiele, Frauen, Drogen und nebenbei gute Geschäfte. Sie ließen ihre dicken Cadillacs, Chevys und Buicks einfach zurück, um mit leichterem Gepäck ihre Haut vor der Revolution zu retten. Und sie hatten richtig geraten: in kurzer Zeit war alles amerikanische Eigentum enteignet und die Handelsbeziehungen gekappt. Seitdem boykottieren die USA das Land. Und seitdem kennt Kuba vor allem einen Feind: die imperialistischen USA, die nichts unversucht lassen, um das stolze Land und seine revolutionären Helden in die Knie zu zwingen.
Ich ahnte mehr, als dass ich es wußte, was dann 1961 und 1962 auf Kuba geschah: die kläglich gescheiterte Invasion US-amerikanischer Konterevolution. Und die anschließende „Kubakrise“, als die Welt den Atem anhielt und es um Haaresbreite zu einem dritten Weltkrieg gekommen wäre, wenn nicht Chrustschow und Kennedy noch rechtzeitig die Reißleine gezogen hätten. Und dann das Jahr 1967 – mitten in der Studentenbewegung, die man später die „68er“ nennen würde – : Che Guevara will die Revolution nach Bolivien und auf den ganzen amrikanischen Kontinent tragen. Aber er und seine wenigen Gefolgsleute werden in ihrem Versteck ausgerechnet von einem Bauern aus der Gegegend an das Militär verraten. Che wird gefasst und standrechtlich erschossen.
Das Foto vom toten Che mit nacktem Oberkörper und geöffneten Augen ist vielen meiner Generation geradezu ins Bewußtsein gebrannt. War er doch die Galionsfigur und der schöne tote Held einer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Weltrevolution, die wir herbeisehnten. Wir hatten keine Ahnung davon, dass es bald nach der erfolgreichen Revolution auf Kuba zu einem Zerwürfnis oder jedenfalls zu starken Differenzen zwischen Fidel Castro und Che gekommen war und Che als Minister im Kabinett von Fidel Castro eine eher unglückliche Rolle spielte, dem nichts von dem, was er sich vorgenommen hatte gelang. Viele vermuten, dass sich Che sich deswegen in neue revolutionäre Abenteuer stürzte und sehr wohl wusste, dass er darin umkommen würde. Nicht zuletzt dieser verzweifelte, selbstzerstörerische Zug und die Aufrechterhaltung seiner Ideale bis in den Tod konnten Che auf ewig zum Revolutionshelden machen. Etwas, was in der zunehmend gespannten Alltagsrealität auf Kuba dem lebenden Che wohl nicht widerfahren wäre. Der Vergleich mit dem auf ewig jung gebliebenen Jesus und seinem messianisch-revolutionären Anspruch liegt nahe und auch der Umgang der Kirche mit ihm.
In unseren Begegnungen auf Kuba haben wir immer wieder erlebt, wie sehr die Revolutionshelden von damals bis heute verehrt werden – jedenfalls von der älteren Generation. Sie haben am eigenen Leib gespürt, was es heißt, aus Unterdrückung und Menschenschinderei befreit zu werden. Sie werden das niemals vergessen. Aber die junge Generation hat diese persönliche Erfahrung nicht gemacht. Mein Eindruck ist, dass zwei Triebfedern die heutige kubanische Gesellschaft zusammenhalten: Patriotismus und das Feindbild USA. Viele in der jungen Generation möchten die Gesellschaft endlich zum Positiven verändern und dabei die eigenen Fähigkeiten zur Verfügung stellen – aber niemand ruft diese Begeisterung ab. So läuft die Motivation ins Leere und treibt viele junge Menschen statt dessen in die Lethargie.
Auch heute noch sind viele bürgerliche und politische Rechte beschnitten, insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Presse- und Versammlungsrecht und die Unabhängigkeit der Justiz. Kuba gilt unter Politikwissenschaftlern als bürokratisch-autoritärer Staat. Gewaltenteilung existiert faktisch nicht. In der Lesart der marxistisch-leninistischen Ideologie der alles beherrschenden kommunistischen Partei Kubas handelt es sich dagegen um die „Diktatur des Proletariats“. Tatsächlich aber liegt die eigentliche Macht im Staats- und Ministerrat. Einige Mitglieder sind gleichzeitig Mitglieder der kommunistischen Partei Kubas. Dadurch ist die faktische Machtausübung auf relativ wenige Menschen beschränkt.
Ihre Legitimation gewinnt diese Machtelite vor allem aus einem stolzen Nationalgefühl auf dem Hintergrund jahrhunderte-langer Fremdbestimmung sowie der Feuindschaft gegenüber den USA . Kritische Oppositionelle werden leicht als Landesverräter verdächtigt und mundtot gemacht. Man geht davoin aus, dass es auf Kuba mehrere tausend politische Gefangene gibt, die unter unzumutbaren Haftbedingungen leben. Als sich Kuba in den vergangenen Jahren für ein kurzes Zeitfenster öffnete, haben Tausende das Land fluchtartig verlassen.
Die sozialen Menschenrechte wie zum Beispiel die Rechte der Frauen, die Rechte von Kindern und Jugendlichen, die Gesundheitsversorgung, die Bildungsmöglichkeiten und die freie Ausübung von Religion gelten international als hervorragend. Aber der allgemeine wirtschaftliche Lebensstandards ist auf sehr niedrigem Niveau. Zu einem wesentlichen Teil liegt dies an der jahrzehntelangen Blockade durch die USA, aber auch am System selbst. Viele Menschen, denen wir auf unserer Reise begegnet sind, glauben, dass es nach 60 Jahren Sozialismus im Land nicht so bleiben kann und auch nicht bleiben wird. Kuba produziert kaum etwas. Ist völlig abhängig vom billigen Öl vom einzig verbliebenen sozialistischen Bruder in Venezuela, der es aber vielleicht nicht mehr lange machen wird.
Das ganze Land lebt vom Tourismus. Kubaner, die wir getroffen sagen offen, dass viele Touristen vielleicht neugierig sind, das letzte sozialistische Land zu erleben bevor es aufgehört hat zu existieren. Für viele Menschen im Land wäre es eine Katastrophe, wenn es nach dem Hurrikan zu einem Einbruch im Trourismus-Sektor kommen würde. Millionen Menschen hängen auf Gedeih und Verderb am Geschäft mit den Touristen: die Taxifahrer, die Hotels, die Restaurants, die Strassenmusikanten und vor allem die Anbieter von Privat-Unterkünften. Besonders natürlich in Havanna, aber auch in anderen grösseren, touristisch interessanten Städten wie Vinales, Santa Clara oder Trindidad.
Das Recht auf Eigentum einer Wohnung oder eines Hauses blieb auch nach der Revolution erstaunlicherweise unangetastet. So konnten alte Stadtvillen weitervererbt werden. Aber die meisten verfielen, weil kein Geld da war, um die Häuser zu erhalten. Im Laufe der Zeit sind die meisten von ihnen stark sanierungs- und restaurierungsbedürftig. Vieles in den Strassen von Havanna hat mich an Leipzig oder Ost-Berlin vor der Wende erinnert. Man sieht die schönen alten Häuse und denkt: Wenn die einmal saniert sind, werden sie zu Perlen im Stadtbild. Das wurden sie auch tatsächlich. Aber auch zum Profit von Immobilienhaien. Wenn in die wunderschönen Stadtvillen von Havanna Geld investiert würde…. Tatsächlich gehört die Altstadt von Havnanna zum Weltkulturerbe. Aus dem Topf der UNESCO fließt viel Geld in den Wiederaufbau der verfallenen Häuser – und man sieht auch die beeindruckenden Ergebnisse.
Die besten Geschäfte machen Eigentümer von alten Stadtvillen, deren Ziel es ist, ihre Häuser zu sanieren und sie dann an Touristen zu vermieten. Man beginnt damit, sich Geld von Freunden zu leihen, um unter der Hand Architekten und Handwerker zu beauftragen und Baumaterial zu besorgen, um dann zunächst eine Zimmer oder ein Appartement so zu sanieren, dass es den Ansprüchen der Touristen genügt. Pro Übernachtung kann dann ein Preis von 40 – 60 € verlangt werden. Geld, das investiert wird in die Sanierung weiterer Wohnungen im Haus. Das gleiche gilt für die Sanierung von Restaurants. Überall in Havanna und auch in anderen „Touristen-Städten“ finden sich wunderbar sanierte und restaurierte Restaurants mit einer zauberhaften Atmosphäre und hervorragender Küche. Auch damit lässt sich relativ schnell und je länger desto mehr gutes Geschäft machen.
Auch Taxifahrer profitieren von den Touristen. Eine Taxifahrt von der Altstadt in die daran anschließenden Stadtviertel kostet etwa 10 € mit neueren Autos und 8 € mit einem Oldtimer-Taxi , von denen immer noch viele in Havanna fahren. Vielleicht gibt es viele, die bereit wären, ihren amrikanischen Oldtimer zu verkaufen – und sie würden sehr viel Geld dafür bekommen, besonders von US-Amerikanern. Aber es gibt das US-Handelsembargo…
Die durchschnittliche Rente eines Kubaners und einer Kubanerin beträgt 270 Pesos – umgerechnet 10 €. Strom-, Gas- und Wasserkosten sind frei. Auch die Gesundheitsvorsorge ist kostenlos. Ebenso Schule und Universität. Die Fahrscheine in den öffgentlichen Bussen kosten fast nichts. Und die subventionierten Grundnahrungsmittel kann man auf Lebenskarte und mit geduldigem Schlangestehen ebenfalls kostenlos bekommen. Alles andere ist jedoch nicht bezahlbar. Und wer in der Stadt nicht dazu verdient , kommt nicht über die Runden. Auf dem Lande ist es anders. Die familien-betriebene Subsistenzwirtschaft auf eigenen kleinen Flächen kann eine Familie ernähren.
Auf dem Lande gehören zum Straßenbild Karren, die von zwei Ochsen gezogen werden und verbreitet auch Pferdekutschen. Die meisten Busse sind alt und gebrechlich. Und überall gibt es LKW, die zu Bussen“ umgebaut worden sind. Und es gibt immer noch ein relativ gut gewartetes Schienennetz. Aber viel Betrieb haben wir auf den Schienen nicht sehen können. Auf dem Lande scheint die Zeit wie zu Zeiten der Revolution stehen geblieben zu sein. In den Städten ist es ganz anders. Alles verändert sich schnell und das Lebensgefühl ist: Möglichst viel noch mitnehmen, bevor alles kollabiert. Denn niemand kann vorhersagen, wann das sein wird. Im sozialistischen Kuba sind in den letzten Jahren zwei Klassen entstanden, die sehr unterschiedlich sind: In den Städten kann man z. B. durch Vermietung oder Taxifahrten zu viel schnellem Geld kommen. Mit der Vermietung eines einzigen Zimmers an einen Touristen für eine einzige Nacht kann ich viermal so viel, verdienen wie ein Rentner im Monat erhält. So sind Klassen entstanden in einer Gesellschaft, die den Traum der Gleichheit geträumt hat.
Wenn man fragen würde, was die Menschen auf Kuba der Welt geben können, wäre die Antwort – jedenfalls aus meiner Sicht – einfach: Kreativität! Ein Kubaner kann aus einem Fahrrad eine Pferdekutsche machen, aus einem Radio eine Waschmaschine und aus jedem Stück Holz ein Musikinstrument! Musik hat auf Kuba eine zentrale Bedeutung. Überall in den Restaurants und auf Plätzen kann man live-bands sehen und hören. Die Musik auf Kuba ist eine Mischung aus afrikanisch-kreolischer Musik mit Jazz und Rock. Als nach dem vergeblichen Sklavenaufstand auf Haiti nach Kuba geflohen sind, haben sie auch die Musik von dort mitgebracht. Auch diese Musik fließt mit ein in die große Musikmischung.
Viele junge Kubaner daddeln mit ihren Handys genau so herum, wie junge Leute sonstwo auf der Welt. Aber es gibt nur stundenweise WLAN, und einen Internetzugang muss man sich in besonderen Zuteilungsstellen immer wieder neu besorgen, denn er gilt nur für 1 – 3 Stunden, je nach Zuteilung, die man erworben hat. Allerdings: wenn man – nach Schlangestehen und Zeitaufwand – eine Internet- Berechtigung erworben hat, kan es gut sein, dass es weit und breit keinen WLAN-Anschluß gibt. Gute alte Zeiten…
Wir sind von Cancun/ Mexico nach Havanna geflogen. Am Flughafen wurden wir vom Fahrer des Präsidenten des kubanischen Kirchenrates abgeholt und in unser – vorher schon gebuchtes – Hotel gebracht. Edgar Sanchez von Brot für die Welt hatte von San José aus Kontakt mit dem Kirchenrat in Havanna aufgenommen und vermittelt, dass wir abgeholt wurden. Die eigentlich vorgesehene Begegnung mit dem Präsidenten des Kirchenrates kam dann leider nicht zustande. Aber immerhin: Präsidenten-Auto, Präsidenten-Chauffeuer… Fast so hatte ich es mir damals vorgestellt, als vor meinem inneren Auge mit Fidel Castro in einem Café auf der Uferstrasse Malecón sitze, wir uns was erzählen und dabei kubanischen Rum und eine echte „Havanna“ rauchen. Aber nun war Fidel Castro gerade gestorben und der Kirchenpräsident hatte Wichtigeres vor, als sich um seine Glaubensbrüder aus Deutschland zu kommen. Beim Aussteigen wollte ich den Chauffeuer noch bitten, seinem Chef auszurichten, dass ich die dreißig Tausend Euro, die ich dem Präsidenten überreichen wollte, jetzt anderweitig verwenden werde. Nichts für ungut. Aber irgendwas hat mich daran gehindert, es auszusprechen…
Natürlich ist für mich Hamburg „meine Perle“. Aber Havanna ist: Whow! Ich habe Dagmar gleich geschrieben, dass ich hier wahrscheinlich für länger bleibe. Da sie mich kennt, hat sie nicht geantwortet….
Aber im Ernst: Havanna ist hinreißend, zauberhaft, entzückend (wenn das eine Stadt sein kann). Aber auf jeden Fall ist es eine Schöne. Vor allem dübt dieser marode Charme des Verfalls mit einem Hauch Dekadenz eine große Anziehungskraft auf mich aus. Unser Hotel lieg gleich gegenüber der Universität. Hier hatte es schon vor der Revolution Studenten-Demonstrationen gegen das korrupte Batista-Regime gegeben. Sie wurden blutig niedergeschlagen. Jetzt sitzen wir auf dem Bürgersteig vor dem Hotel, trinken viel gutes einheimisches Bier und tauchen ein wenig in das studentische Leben. Um uns herum junge Leute, die ausgelassen dieses Leben feiern. Ja, so war das damals….
Auch nach Sonnenuntergang bleibt es in der Stadt heiß. Aber in den offenen Cafés und auf den Bürgersteigen weht immer ein kleines Lüftchen vom Meer. Die vielen kleinen Parks nicht zu vergessen: überall ein buntes und lautes Treiben. Und überall gibt es eine kleine Gruppe, die Musik macht. Diese Mischung aus Calypso und Jazz und Salsa und Kuba libre – aber nein, das war ja etwas anderes… Musik auf Kuba ist „Lebensmittel“. Sie reißt jeden mit. Lädt ein zum Tanzen. Man sagt, dass alle großen Tänze Lateinamerikas auf Kuba ihre Wurzeln haben.
Auf der Plaza de la Catedral kann man darüber ins Nachdenken kommen, dass die katholische Kirche nach der Revolution keineswegs verboten wurde – wie z.B. in der Sowjetunion. Die Hälfte der Kubaner glaubt an nichts oder jedenfalls an nichts Religiöses. Ein Drittel ist katholisch. Und die anderen? Man könnte Elias Canetti zitieren: „Wie unfassbar bescheiden sind die Menschen, die sich einer einzigen Religion verschreiben!“. Eine der größten Volksgruppen unter den verschleppten Sklaven aus Afrika kam aus der Region des heutigen Niger. Sie brachten ihre animistische Religion mit und erfanden für jeden katholischen Heiligen eine Entsprechung in ihrer eigenen Religion. Dadurch konnten sie nach außen hin Christ sein. Santeria nannten sie selbst ihre Art, religiös zu sein. Ich habe das für mich übersetzt mit „Heiligsein-Spielen“.
Die Santerie ist sehr lebendig geblieben auf der Insel und strukturiert für viele den Alltag. Überall gibt es sie die guten (und manchmal auch bösen) Geister. Alles ist spirituell durchwirkt. Alles ist Santeria….Wir haben uns mit einer Pferdekutsche durch Habana Vieja, die Altstadt und Central Habana fahren lassen. Eine luftige Angelegenheit und bei weitem angenehmer, als mit einem Taxi. Links und rechts prachtvollen Stadtvillen, Hotels, Restaurants und öffentliche Gebäude aus der Zeit um 1900. Was für ein Leben muss es auch damals in Havanna gegeben haben! Wir besuchen natürlich auch das Revolutionsmuseum im ehemaligen Präsidentenpalast. Draußen vor dem Gebäude ist in einer Art gläsernem Schrein die Motor-Yacht Granma ausgestellt, mit der die Revolutionäre um Fidel Castro aufbrachen, um Kuba zu befreien.
Wir haben uns am nächsten Tag ein Taxi mit Chauffeur gemietet. Zu einem horrenden Preis: pro Tag haben wir unserem Fahrer eine Summe gegeben, vergleichbar mit vier Hotel-Übernachtungen. Oder: das Zehnfache eines regulären, durchschnittlichen Monatseinkommens an einem einzigen Tag! Eine überraschende Lektion über „Raubtier-Kapitalismus“. Im Tourismus-Geschäft lässt sich viel Geld machen – und die Schere zwischen Habenichtsen und Neureichen öffnet sich von Tag zu Tag rapide: Bloß schnell noch so reich wie möglich werden, denn bald wird das alles vorbei sein!
Wir hatten versäumt, vorher schon von Deutschland aus Unterkünfte und Mietwagen zu buchen. Als wir ankamen, waren die nur in sehr begrenzter Anzahl vorhandenen Mietwagen schon alle vergeben. Jetzt konnten wir froh sein, überhaupt noch ein Mietauto bekommen zu haben. Allerdings mit Chauffeur. Und nicht nur das: auch die Frau unseres Fahrers fuhr auf dem Beifahrersitz mit. Habe die Ehre… Wir hätten ja wohl nichts dagegen, es sei schließlich seine Frau, alles klar…? Wir haben von dieser Reise durchs Land eine Fülle von Eindrücken mitgenommen. Ohne Auto wäre dies nicht möglich gewesen. Und unser trautes Paar vor uns hat sich auch einen schönen Urlaub machen können und hat – wie wir – Orte gesehen, die auch sie vorher noch nicht gesehen hatten. Da Michael und ich im früheren Leben Pfadfinder waren, haben uns Straßenkarten nicht abgeschreckt. Das hat uns oft weitergeholfen, wenn Fahrer und Beifahrerin lost in paradise waren.
Kuba ist eine überraschend grosse Insel. Wir haben den westlichen Teil der Insel bereist. Unseren ersten Halt machen wir in Vínales. Die Erde ist hier rotbraun und die Felder sind saftig-grün. Daraus erheben sich die bizarren, kegelförmigen Karstfelsen der Mogotes. Die Mogotes sind die letzten „Stützpfeiler“ eines ausgedehnetn Höhlenssystems, das vor Millionen vorn Jahren entstanden war. Wir haben eine der Höhlen besucht. Nach einem kleinen Fußweg ein unterirdischer Fluß. Zu unserer Überraschung werden wir mit einem Boot durch das Höhlensystem gefahren. Vínales ist ein Touristenort. Mein Eindruck ist, dass aus allen Fenstern dieses Städtchens Touisten herausgucken. Vínales ist berühmt für seinen Tabak. Wir besuchen eine kleine Tabak-Finca und sehen in der Scheune die Tabakblätter an langen Leinen zum Trocknen aufgehängt.
Dabei kommt mir eine Erinnerung aus sehr früher Kindheit: Unser Großvater hatte selbst Tabak gepfllanzt (so wie manche heute Hanf anpflanzen). Auch er hatte die Tabakblätter zum Trocknen aufgehängt. Ich bin mir nicht sicher, ob er jemals diesen Tabal geraucht hat. Es muß ein zuimlich scheußliches Kraut gewesen sein, denn sobald es nach dem Krieg möglich war stieg unser Großvater ujm auf Zigarillos – aus dem Tabakladen. Eine meiner Cousinen und ich haben als Kinder etwas Ähnliches gemacht: Wir fingen damit an, getrocknete Eichenblätter zu Zigarren zu drehnen und zu rauchen, stiegen aber auch bald um auf Zigarillos – die unseres Großvaters. Aber nicht so lange. Fürst-Pückler Eis von Langnese schmeckte doch besser.
Nach langer Fahrt kommen wir in Santa Clara an. Hier liegt Che begraben und die ewige Flamme in einer gigantisch-monumentalen Erinnerungsstätte leuchtet ihm. Überall an den Wänden des Monumets revolutionäre Aussprüche und Sprüche. Hasta siempre, commandante! Hasta victoria siempre! Angesichts der Vergänglichkeit des Lebens und der Revolutionen eher fromme Wünsche.
Von Santa Clara ist es ein Katzensprung bis Trinidad. Nur einmal über den Bergrücken. Trindidad ist UNESCO-Weltkulturerbe. Und das zu recht! Bei Luthers Thesenanschlag 1517 ist Trinidad die drittgrösste spanische Gründung auf Kuba. Anfang des 19. Jahrhunderst wird Trinidad reich durch den Zuckerboom. Als der Zuckerboom zu Ende und die Sklaven befreit sind, versinkt Trinidad in seiner Geschichte. Die Stadt war lange Zeit ohne Anbindung an das Hinterland. Wenn man die vielen Touristen in der Stadt erlebt, möchte man sagen: zum Glück! Trinidad ist das Rothenburg ob der Tauber Kubas. Wir haben zwei herrliche Tage in der Stadt verbracht. Mit gutem Essen, viel Musik und Tanz auf den Plätzen. Hier habe ich – endlich – meine Cohita-Zigarre rauchen können! Eine weit ausladende hohe Steintreppe auf der die Menschen sich bei Sonnenuntergfang versammeln. Oberhalb der Steintreppe ein kleiner Platz. Eine Musikgruppe löst die andere ab. Davor Paare, die tanzen. Junge und alte.
Ich sehe, wie sich am Nachbartisch ein junger Mann eine Cohita anzündet. Ich gehe zu ihm und frage, ob ich ihm eine Cohita abkaufen kann. Nein, es iust seine einzige. Und ob ich wüßte, dass eine echte Cohita zwischen 40 und 50 Euro kostet. Und es gäbe auch noch teurere… Nein, das wußte ich nicht. Ich ziehe aus meiner Hosentasche einen Zehn-Euro-Schein und sage: das dies mein einziges Geld ist. Er lacht und sagt: Okay, warte hier zehn Minuten, ich kenne einen Freund, der jemanden kennt … Nach einer Weile kommt der Freund tatsächlich. Mit einer Cohita! Ich gebe ihm den Zehn-Euro-Schein. Er nickt zustimmend – und ich habe endlich meine Cohita! Bevor ich gehe, bietet mir mein „Zwischenhändler“ an, die Zigarre noch ordentlich anzuschneiden. O ja, vielen Dank! Ich gehe zurück an unseren Tisch und zünde mir die Cohita an. Schon nach zwei, drei Zügen sieht die Welt anders aus. Für die fremden Menschen an unserem Tisch bin ich gerade in ihr Leben eingetreten. Herzlich willkommen! Und dann sprechen wir über die Cohita und die Frauen und das Leben…
Auf der kopfstein-gepflasterten Gasse zurück in unser Privatquartier begegnen wir überall Menschen, die vor ihren Häusern sitzen und plauschen. Die Türen stehen meistens offen, und man kann in die Wohnzimmer sehen. Eine alte Frau steht vor ihrer geöffneten Wohnzimmertür. Ich spreche sie an und frage, ob wir wohl einmal hineinsehen dürften. Gerne!. Sie bittet uns hereinzukommen. Ich sehe, dass an allen Wänden grosse Schwarz-Weiß-Fotos der Revolutionshelden hängen: Fidel, Raul, Che… Ich bitte sie, sich zu dem grossen Foto von Che zu stellen. Es wird ein hinreißendes Foto. Könnte gut sein, dass diese Frau ihre Helden zu Lebezeiten kannte! Oder gehörte sie vielleicht damals selbst zur Guerilla? Jedenfalls stelle ich es mir in diesem Augenblick vor…
Der Strand liegt etwa 6 km südlich. Aber wir hatten ja Auto und Chauffeur. Und in südlicher Himmelsrichtung war der Strand auch nicht zu verfehlen. Hier zünde ich noch einmal meine Cohita an – und geniesse. Keiner, der mich fragt, ob ich nicht mal schwimnmen gehen wolle. Der Sandstrand sei so fein und schön. Und das in der Sonne glizernde, babywannenwarme Wasser – nein, ich rauche meine Cohita…
Von der Südküste einmal quer durchs Land bis zur Nordküste. Bis Varadero und Matanzas. Hier hat bald nach unserem besuch auf Kuba der Hurrikan Irma die grössten Schäden angerichtet! Bevor wir wieder in Havanna sind, wollen wir gerne noch einen Abstecher in Cohimar machen – jenem kleinen Fischerdorf, in dem Ernest Hemingway so gerne war. Entweder mit seinem Boot raus aufs Meer zum Hochseeangeln oder in seiner Lieblingskneipe. Hier spielt die letzte Novelle, die Hemoingway vor seinem Tod schrieb: Der alte Mann und das Meer. Die Geschichte, die von der Erfolglosigkeit eines Menschen und von seiner Hartnackigkeit erzählt. Eine Geschichte in der es um Leben und Tod, um Heldentum und um die Vergeblichkeit aller Anstrengung geht. Und trotzdem!
Hannover, im September 2017
Viele Grüße,
Kurt Jürgen