Erster Brief aus Äthiopien – Hahn im Korb
Liebe Freunde,
schon vor längerer Zeit hatte mich mein äthiopischer Freund und Kollege, Soboka gefragt, ob ich bereit wäre, ein Seelsorgeseminar durchzuführen. Ziel des Seminars ist es, in den einzelnen Kirchengemeinden der Evangelischen Mekane Yesus Kirche Frauen als Konflikt- und Krisenberaterinnen fortzubilden und zu qualifizieren. Dieses (nur) einwöchige Seminar hat in der Kirchengemeinde Kotobe stattgefunden. Es war jedoch ein Projekt des neuen Zusammenschlusses (parish) von elf Gemeinden am nordöstlichen Rand der Hauptstadt Addis Abeba. Aus jeder Gemeinde sollte jeweils eine Frau an diesem Seminar teilnehmen und in ihrer Gemeinde weitergeben, was sie im Seminar gelernt und erfahren hat. Hinzu kam eine Frau aus dem Frauendezernat der Kirchenleitung der Mekane Yesus Kirche. Es war ein Seminar „von Frauen für Frauen“. Der einzige Fremdkörper war ich selbst als Leiter des Seminars. Am Ende des Seminars gab es das übliche Gruppenfoto: 12 Frauen und 1 Mann! Als ich zurück in Deutschland war, zeigte ich das Foto in einer Runde und erntete gleich den Spott: Ja, ja – Hahn im Korb!
Zwei Tage vor dem äthiopischen Weihnachtsfest (7. Januar) war ich in Addis angekommen. Auf der Strasse vor meinem Hotel lebhaftes Treiben. Jeder will vor dem Fest noch schnell etwas einkaufen. Traditionell wird in der Familie ein Schaf oder eine Ziege geschlachtet. Die Tiere werden auf den kleinen Märkten überall in der Stadt gekauft. auf dem Markt. Die Preise für Schlachtschafe und – Ziegen sind in den letzten Monaten rasant gestiegen. Die kleinen Leute können sich allenfalls noch ein Huhn leisten. Aber auch die Preise für Hühner sind gestiegen. Restuarants kaufen Kühe ein. Überall sieht man, wie Schafe und Kühe durch die Strassen und oft auch auf den Bürgersteigen zu den Verkaufsstellen getrieben werden. Und weil zumindest die Kühne ahnen, dass es kein gutes Ende mit ihnen nehmen wird, wehren sie sich manchmal aus Leibeskräften. Ich stehe etwas abseits und beobachte fasziniert das Geschehen.
Plötzlich bricht eine Kuh aus und geht auf mich los. Da ich mein rotes Torrerotuch zu Hause vergessen habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als davon zu laufen, bevor ich auf die Hörner genommen wurde. Die Kinder in meiner Umgebung lachen sich kaputt über mich. Aber zwei kräftige Jugendliche packen schließlich das wild gewordene Rind beherzt bei den Hörnern und retteten mich. Aber es könnte sein, dass es für manch einen eine durchaus angenehme Vorstellung ist, wenn ein herum streunender ´forengee´(Ausländer) einmal auf die Hörner genommen wird….
Auf meiner Flucht stolpere ich fast über einen Hühnerkäfig, in dem etwa zehn Hühner und ein bunter Hahn eingesperrt sind. Sehr bald wirdsich ein Käufer finden und das eine und andere Tier für das Festessen nach Hause mitnehmen. Ich sehe um mich herum mehrere Menschen mit einem Bündel lebender Hühner in der Hand, deren Beine zusammengebunden und deren Kopf nach unten baumelt. „Hahn im Korb“ – schön und gut, aber nicht ungefährlich: Zwischen Kikerie und Kopf ab bleiubt manchmal nur wenig Zeit…
Die Weihnachts-Deko vor und in den kleinen Läden kommt ganz klar aus den 1-Euro-Shops aus Hannover: Flitter, Gltzer. Knallbunt. Auf der riesigen Baustellen der neuen orthodoxen St. Mikael Kirche sehe ich die Bauarbeiter auf den Gerüsten um die Kuppel herum turnen. Es sieht aus wie eine Zirkusnummer. Unterhalb der Baustelle reihen sich über ein Länge von etwa hundert Meter kleine Baugeschäfte: Hier werden Zement, Vierkanthölzer, Armierungseisen, Werkzeuge verkauft. Alles, was man zum Hausbau benötigt. Die Läden sind zur Strasse offen. Im Eingang eines Ladens, der Armierungseisen verkauft, sehe ich einige junge Männer Karten spielen. Sie warten auf Kunden und vertreiben sich die Zeit. „Ashama!“ – Hallo, sage ich. Wie geht´s? Wer gewinnt gerade? Und spielt ihr etwa um Geld? – Ja, klar spielen wir um Geld, forengee. Willst du mitspielen? – Ja, gut, Wie hoch ist der Einsatz? – Zehn Birr!. – Okay, das kann ich mir leisten. Ich spiele ein paar Runden. Die kleineren Geldscheine aus meiner Hosentasche sind schnell weg. Bevor mir die grösseren aus der Tasche gezogen werden, frage ich, ob sie Lust haben, Skat spielen zu lernen. (Da kenne ich mich besser aus). Nein, dazu haben sie keine Lust. Später sehe ich sie auf der Ladefläche eines Kleintransporters, wie sie mir zuwinken.
Auf der Straße ist immer etwas los. Ich genieße diese Straßenszenen. Zwischen einer Bude, in der eine rohe Rinderhälfte hängt und einem Laden, in dem Plastikgeschirr angeboten wird befindet sich ein Verschlag mit Bündeln von Khat. Dahinter erscheint das Gesicht eines jungen Mannes . Ein sichtbar verliebtes Pärchen kauft bei ihm gerade einen Zweig Khat, das leicht berauschende Wirkung hat. Mehr als einen Zweig Khat können sich die jungen Leute nicht leisten. Sie zahlen die verlangten zehn Birr, und ich sehe, wie sie eng umschlungen und vergnügt davongehen. Der junge Verkäufer fragt mich, ob ich vielleicht auch Bedarf habe. Ich überlege kurz und sage: Nein, meine Frau ist heute nicht dabei. – Okay, sagt der junge Mann. Na, dann nächstes Mal….
Der Kathstrauch ist eine Pflanze aus der Familie der Spindelbaumgewächse. Eine Alltagsdroge im Jemen, Somalia und Äthiopien. Ich habe gehört, dass vor dem aktuellen Bürgerkrieg im Jemen die meisten Abgeordneten bei den Parlamentssitzungen in Sannaa gerne und ausdauern Khat gekaut haben. Vielleicht wäre das auch für die eine und andere Debatte im Bundestag zu empfehlen… Die jungen Blätter des Khatstrauchs werden als leichtes Rauschmittel im Mund zerkaut, in der Backentasche gesammelt und zwischendurch immer wieder mit Wasser oder einem Süßgetränk befeuchtet.
Der Wirkstoff Cathin wird über die Mundschleimhaut aufgenommen. Khat muss schnell nach dem Pflücken konsumiert werden, um seine Wirkung nicht zu verlieren. Der Geschmack der zerkauten Blätter ist süß und und bitter zugleich. Die Wirkung von Khat ähnelt der anderer Amphetamine. ist jedoch deutlich schwächer. Khat macht körperlich nicht abhängig. Größere Mengen führen zu einer behaglichen Müdigkeit – ideal für entspanntes Chillen und Rumhängen…In einigen Gebieten (z.B. Nord-Kenya) war das kath-Kauen ein Privileg der geronto-kratischen Gesellschaftsschicht und des Adels. Während der Kolonialzeit sahen sich Briten, Franzosen und Italiener am Horn von Afrika mit Khat als Droge konfrontiert. Ein britischer Appell an den Völkerbund im Jahre 1936 Khat zu verbieten blieb allerdings genauso erfolglos wie ein Verbot des Imports, Handels und Konsums von Khat in der britischen Kronkolonie Aden.
In Saudi-Arabien wird der Konsum von Khat auch heute noch mit 40 Stockhieben bestraft. Vom Khat-Schmuggel nach Saudi-Arabien profitierten im Jemen bis zu eine Million Menschen. Khat-Gelder spielen in Somalia eine wichtige Rolle in der Finanzierung der islamistischen al-Shabab-Milizen am Horn von Afrika. Im aktuellen jemenitischen Bürgerkrieg wird Khat als Motivator an die jeweiligen Soldaten und Milizen verteilt. Der Anbau von Khat ist lukrativ. Er hat an vielen Orten in Äthiopien den Anbau von Kaffee und Gemüse verdrängt. Der Anbau von Khat verbraucht allerdings hohe Mengen an Wasser. (So wie auch der Anbau von Blumen in riesigen Gewächshaus-Anlagen in Äthiopien und Kenia den Wasservorrat in der traditionellen Landwirtschaft bedroht). In Dänemark soll nach Auskunft der Polizei Khat auf dem Schwarzmarkt einen Wert von 60 Euro pro Kilogramm haben. Da muß man schon eine große IKEA-Tragetasche dabei haben, um die entsprechende Mange Khat-Zweige unterzubringen….
Auf meinen Wunsch hin habe ich in meinem Hotel ein wunderbar ruhiges und komfortables Zimmer bekommen. In dem vorherigen Zimmer brach morgens um sieben Uhr schlagartig ein Höllenlärm aus: In der unmittelbaren Nachbarschaft des Hotels wird ein neues Hochhaus gebaut. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren das erste Mal in Äthiopien war, machte die Hauptstadt den Eindruck eines großflächigen Dorfes. Zwar gab es im Zentrum verschiedene zwei- und dreistöckige Häuser aus der Zeit um 1900 und aus der der italienischen Besatzungszeit (dreißiger Jahre), aber die Mehrzahl der Häuser war bis vor wenigen Jahren ein- oder zweistöckig. Ich erinnere mich daran, wie in Addis die ersten Ampeln installiert wurden. Eine der Ampeln war am zentralen Mesquel-Square aufgestellt. Sie wurden von den Autofahrern am Anfang mehr bewundert als beachtet.
In den letzten sieben Jahren hat sich das Gesicht der Hauptstadt jedoch vollkommen verändert. Addis Abeba ist in kurzer Zeit zu einer modernen Metropole geworden. Es sind zahllose hohe Bürotürme, Einkaufs- und Konferenzzentren und Hotels gebaut worden. Die Chinesen haben innerhalb von wenigen Jahren eine vierspurige Stadtautobahn gebaut, welche die Stadt umgibt. Und Anfang des letzten Jahres wurde „the train“ eingeweiht: eine S-Bahn, die ebenfalls in einem Ring um das Zentrum führt und mit mehrere Abzweigungen einen wesentlichen Teil des Personenverkehrs aufnimmt. Die berühmte Bahnlinie vom damals französischen Hafen Djibouti in die äthiopische Hauptstadt war völlig marode geworden. Wenige Wochen bevor ich hier ankam, wurde die neue Linie Addis Abeba – Djibouti eröffnet. Ebenfalls ein chinesisches Projekt.
Die Chinesen treiben es mit Handel statt mit Kanonenboot-Politik. Sie haben große Flächen von fruchtbarem Land langfristig und günstig pachten können. Sie haben das Strassen- und Schienennetz schon jetzt erheblich verbessert. Weitere Strecken bis an die Grenze zum Sudan und im Norden entlang der Grenze zu Eritrea sind in der Planung. Dafür haben sie von der Regierung in großem Umfang die Schürfrechte für bisher unentdeckte Mineralien bekommen. Die USA und die EU transferieren grosse Geldmengen an die äthiopische Regierung, denn Äthiopien gilt als Bollwerk gegen die islamistischen Milizen in Somalia.
Viele fragen sich – wie ich selbst auch – , wie die moderne urbane Metropole finanziert eigentlich finanziert wird. Woher kommt das Geld und wer hat dafür das Geld? Die verbreitete Meinung ist, dass es vor allem diejenigen sind, die in der Regierung sind oder ihr nahe stehen. In erster Linie ist das die Ethnie der Tigray. Die Tigray bildeten im Bürgerkrieg (das Ende war 1991) gegen das kommunistische DERG-Regime eine bewaffnete Koalition mit Eritrea und Oromia. Die führende Elite des kommunistischen Regimes kam vor allem aus der (historisch gesehen führenden) Ethnie der Amharen. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes erreichte Eritrea sein eigenes Kriegsziel, nämlich die staatliche Unabhängigkeit. Aber sehr bald kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb der gerade gebildeten Koalitionsregierung zwischen Tigray und Oromo. Die Oromo fühlten sich (zu Recht) ausgebootet von den Tigray und gingen in die Opposition, während die Tigray im präsidial-demokratischen System Äthiopiens faktisch die alles dominierende und von allem profitierende Ethnie wurden. Man sieht, dass „den Tigray“ das neue Addis Abeba gehört: alles, was in den letzten sieben Jahren in Addis aufgebaut wurde. Dazu gehören auch mehrere ausgedehnte Neubau-Wohnviertel.
Natürlich weckt dies Neid und Hass der anderen Ethnien. In den letzten Jahres ist es wiederholt zu blutigen Zusammenstößen gekommen zwischen demonstrierenden Oromo und dem Regime. Mehrere tausend Regimegegner sitzen in den Gefängnissen. Es gibt seit langem eine latente Bürgerkriegsstimmung im Land. Insbesondere in Oromia. Nach dem Tod des ersten und langjährigen Ministerpräsidenten Meles Zenewi wurde (bewusst) ein schwacher Nachfolger gewählt. Er gehört zu einer kleinen Ethnie innerhalb des Zusammenschlusses der „Southern People“. Alle sind sich darin einig, dass er eine puppit der herrschenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite der Tigray ist und jederzeit abgelöst werden könnte. Viele sagen auch, dass – kurz bevor ich eingereist bin – das Militär drauf und dran war, die Regierung an sich zu reißen, um die massiven Unruhen unter den Oromo in den Griff zu bekommen.
Ich selbst befürchte dies ebenfalls. Alle Versuche eines friedlichen politischen Prozesses sind gescheitert oder gar nicht erst versucht worden. Die Unterdrückung der Oromo (und in gewißem Maße auch der Amharen) wird immer massiver und brutaler. Vieles deutet darauf hin, dass es zum Bürgerkrieg kommen wird. Das Szenario, das mir vorschwebt ist folgendes: Ein Militärregime wird versuchen, die Macht der herrschenden Tigray zu sichern, wird aber letztlich scheitern und ein Chaos auslösen. Die Mehrheit der Oromo wird für ein unabhängiges Oromia plädieren. Die Provinz Tigray wird entmachtet werden und den Preis für dreißig Jahre Unterdrückung, Korruption und Ausbeutung der anderen Ethnien zahlen müssen. Es wird so etwas wie eine Rückkehr zu jenem „Abessynien“ geben, dass es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat – bevor Kaiser Menelik II den Süden des heutigen Äthiopiens eroberte. In den Augen der Oromo ist Menelik II ein „Kolonialherrscher“ so wie es die Engländer, Franzosen und Italiener ringsum auch waren.
Die Mekane Yesus Kirche hält sich auffällig heraus aus dem politischen Geschehen. Viele sagen, dass sie vom jetzigen politischen System geduldet wird, weil sie sich heraushält aus politischen und gesellschaftlichen Fragen. Viele sagen auch, dass die evangelische Mekane Yesus Kirche – mit einerrasant wachsenden Mitgliederzahl – seit der Zeit der Unterdrückung kirchlicher Aktivitäten im Kommunismuis von pentecostalen Strömungen unterwandert und durchsetzt ist und ihre Identität als reformatorische Kirche längst aufgegeben hat. Aufgrund eigener Beobachtung teile ich diese Einschätzung
Vor diesem Hintergrund wird in wenigen Tagen das Seelsorge-Seminar stattfinden.
Ich bin gespannt….
Herzliche Grüsse,
Kurt Jürgen