Vierter

Vierter Brief aus Äthiopien – Kirche und Gesellschaft

Liebe Freunde,

Heute habe ich mich zum Mittagessen mit Firowot, ihrem Neffen und Soboka getroffen. Firowot ist eine der beiden Schwestern, von denen Soboka und ich vor zehn Jahren schon ein Grundstück am Yerer Mountain geschenkt bekommen haben. Darauf wird jetzt das erweiterte Yerer Youth Camp und Guesthouse entstehen. Der Neffe lebt in den USA. Kurz bevor er in Äthiopien sein Studium beginnen wollte, gewann der Bruder seiner Mutter in der US-amerikanischen Lotterie, durch die Menschen in aller Welt „das große Los ziehen“ können, umn in die USA legal einzuwandern. Dieses grosse Los gewann Firowots Schwager. Das Los ermöglichte ihm, auch seine Familie mit einreisen zu lassen. Aber er war unverheiratet. Also gab er bei der amerikanischen Botschaft in Addis seine beiden Neffen als eigene Kinder aus. Das ging durch und die Neffen wanderten mit dem Onkel nach Amerika aus. Später kam die Mutter der beiden jungen Männer nach. Vierter weiterlesen

Vierter Brief ais Äthiopien 2018 – Kirche und Gesellschaft

Vierter Brief aus Äthiopien – Kirche und Gesellschaft

Liebe Freunde,

Heute habe ich mich zum Mittagessen mit Firowot, ihrem Neffen und Soboka getroffen. Firowot ist eine der beiden Schwestern, von denen Soboka und ich vor zehn Jahren schon ein Grundstück am Yerer Mountain geschenkt bekommen haben. Darauf wird jetzt das erweiterte Yerer Youth Camp und Guesthouse entstehen. Der Neffe lebt in den USA. Kurz bevor er in Äthiopien sein Studium beginnen wollte, gewann der Bruder seiner Mutter in der US-amerikanischen Lotterie, durch die Menschen in aller Welt „das große Los ziehen“ können, umn in die USA legal einzuwandern. Dieses grßse Los gewann Firowots Schwager. Das Los ermöglichte ihm, auch seine Familie mit einreisen zu lassen. Aber er war unverheiratet. Also gab er bei der amerikanischen Botschaft in Addis seine beiden Neffen als eigene Kinder aus. Das ging durch und die Neffen wanderten mit dem Onkel nach Amerika aus. Später kam die Mutter der beiden jungen Männer nach.

Als Firowots Neffe jetzt Yerer Mountain besucht, mit eigenen Augen die wunderschöne Landschaft sieht und von seiner Tante die mit diesem Ort verknüpfte Familiengeschichte erzählt bekommt, ist er sehr angerührt. Kaiser Haile Selassie hatte seinem Großvater ein großes Stück Land geschenkt , das mehrere Dörfer mit einschloss und bis zum Fuß des Yerer reichte. Hier baute er eine grosse Hütte. Sie steht noch heute. In unserem Gespräch beim Mittagessen, kommt der junge Mann aus Amerika auf die Idee, in Erinnerung an seinen Großvater die alte Hütte zu einem Museum zu machen, die heruntergekommenen Stallungen neu herzurichten und – in Verbindung mit dem Yerer Youth Camp – ein Angebot für Gäste zu machen: Leben auf dem Land, Reiterferien, Schafe und Kühe hüten. Yerer Guest Farm! Für seine Tante Firowot plant er, eine neue Hütte zu bauen im traditionellen Baustil eines Tokul – entsprechend der Vorlage des Toklul, den wir gerade bauen wollen…. Isn´t that something!

Am späteren Nachmittag habe ich Pastor Gematchu zu Hause besucht. Er zählt zu den ersten einheimischen Pastoren, die noch von deutschen oder schwedischen Missionate damals unterrichtet und später ordiniert wurden. Er war Synodenpräsident im Westen, in Wolega und hat die kommunistische Zeit als junger Pastor miterlebt. Jetzt ist er neunzig Jahre alt geworden. Er geht regelmäßig in den Gottesdienst der Gemeinde Kotobe, die mein Freund und Kollege Pastor Soboka gegründet hat. Mitten in der kommunistischen Zeit, als die evangelischen Pastoren verfolgt und die kirchlichen Gebäude enteignet wurden.

Buchstäblich aus dem Nichts und – wie er es sagen würde: mit Gottes Hilfe und durch die Wirkung des Heiligen Geistes – ist eine große, lebendige Gemeinde enststanden, aus der elf weitere, neue Gemeinden in der größeren Umgebung entstanden sind. Durch Gebet und Verkündigung des Wortes Gottes. Und ich würde ergänzen: durch den unerrmütlichen persönlichen Einsatz und durch die einladende und gewinnende Art, wie Soboka auf die Menschen zugeht. Eine große und segensreiche Arbeit!

Wenn ich in Kotobe bin, treffe ich den alten Pastor Gemetchu immer im Gottesdienst. Geduldig hält er die langen Gottesdienste aus. Auch die lautstarken Prediger. Noch bin ich nicht ganz so schwerhörig wie er…. Bei meinem Besuch bei ihm zu Hause, haben wir uns neben einander gesetzt und obwohl weder er noch ich unsere Hörgeräte benutzt haben, war es ein gutes Gespräch. Ich habe immer nur kurze Fragen gestellt und er hat dann ausführlich aus seinem Leben erzählt. Als ich mich verabschiedete, habe ich ihn um seinen Segen für mich gebeten. Er hat mir die Hände auf den Kopf gelegt und hat mich gesegnet…. Was für ein wunderbarer Augenblick! Gott weiß, ob wir uns in diesem Leben wiedersehen werden.

Am Abend habe ich selbst Besuch bekommen von dem neuen Pastor in Kotobe, der zuständig ist für die elf Gemeinden des neune Kirchenkreises (parish).Wir hatten ein interessantes Gespräch über die aktuelle Situation der Mekane Yesus Kirche. Vor zwanzig Jahren, als ich das erste Mal in Äthiopien war, hatt die Mekane Yesus Kirche etwa dreieinhalb Millionen Mitglieder. Jetzt sind es neun Millionen! Jedes Jahr wächst die Kirche vermutlich um etwa eine halbe Million Mitglieder. Genau weiß man es nicht, weil an den Rändern die Mitgliedschaft oft unklar ist. Viele sind gleichzeitig noch in nder Orthodoxen Kirche geblieben und andere besuchen auch noch die Gottedienste der Pfingstkirche.

Viele Gemeinden der Mekane Yesus Kirche haben sich in den letzten Jahren rapide zu charistmatisch-fundamentalistischen Gemeinden entwickelt, die kaum noch von Pgingstgemeinden zu unterscheiden sind. Viele Gmeindeglieder sind begeistert von den autoritär-fundamentalistischen sogenannten TV-Churches in den USA mit ihren schrillen religiösen Anführern und dem Wunderheilungs-Spektakel in den TV-Show-Gottesdiensten. Die entsprechenden Spendenkonten werden immer wieder eingeblendet. Hohe Summen an Spenden fließen auf diese Konten – und meistens ohne grössere Umwege in die Tasche der religiösen „Showmaster“.

Den Anfang und Anstoß zu diesen gottesdienstlichen Fernseh- und Massenveranstaltungen hat der berühmte Billy Graham gegeben, der kürzlich verstorben ist. Die etablierten alten Kirchen in den USA haben kaum noch etwas dagegen zu setzen.

Ich sehe, daß sich die Dinge in den afrikanischen Kirchen ähnlich entwickleln. Die alten „Missionskirchen“, die einmal das Evangelium nach Afrika gebracht haben verlieren rasant an Bedeutung. Und inzwischen gibt es die umgekehrte Entwicklung: die afrikanischen Kirchen haben begonnen, die Länder im Norden zu missionieren, aus denen einmal die Missionaren kamen, die aber inzwischen weitgehend vom Glauben abgefallen sind. So jedenfalls das Bild, das viele afrikanische Christen von den Kirchen Europas haben.

Ich habe in unserem Gespräch erwähnt, dass viele alte Missionare, die jetzt im Ruhestand in Deutschland leben, auf die Entwicklung der Mekane Yesus Kirche mit Enttäuschung und Trauer reagieren. Und ich habe auch gesagt, dass ich selbst es wahrscheinlich nicht riskieren würde, mit einer deutschen Reisegruppe einen der Gottesdienste in der Mekane Yesus Kirche zu besuchen. Viele der Besucher würden aus meiner Sicht entweder in Ohnmacht fallen oder schreiend das Weite suchen. Darauf mein Gesprächspartner: Pastor Soboka und die Gemeinde in Kotobe gilt in den Augen als sehr konservativ. Da bin ich doch gerne konservativ!

Am Ende unseres Gespräches hat mich mein Gesprächspartner gefragt, was ich denn der Mekane Yesus Kirche für einen Rat geben würde. (Diese Frage oder Bitte um den Rat einer älteren Respektsperson ist typisch für die afrikanische Kultur). Ich habe geantwortet, daß ich der Mekane Yesus Kirche zu mehr Demut rate.

Wenn Pastor Soboka in etwa anderthalb Jahren in den Ruhestand geht, wird vermutlich vieles , was er in seiner Gemeinde aufgebaut keinen langen Bestand haben: die internationale, ökumenische Weite, das Interesse an fundierter, wissenschaftlicher Theologie, der reformatorische Freiheitsgedanke und das Interesse und die Freude dem Anderen und Fremdem zu begegnen. Tatsächlich habe ich die Befürchtung, dass die lutherisch-presbyteriale Mekane Yesus Kirche von der charismatisch-fundamentalistischen Pfingstkirche „geschluckt“ wird. Und viele Gemeinden der Mekane Yesus Kirche werden dies nicht einmal merken…

Gott sei Dank gibt es noch den Yerer als Rückzugsort. Für Soboka und für mich. Der Yerer und das, was dort als lebendiger Ort der Begegnung entstanden ist wird hoffentlich Bestand haben. Als Ort des Friedens mit der Möglichkeit, zu Atem und zur Besinnung zu kommen auf das, was wirklich wichtig ist und trägt.

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Dritter Brief aus Äthiopien 2018 – Groß rauskommen

Dritter Brief aus Äthiopien – Groß rauskommen

Liebe Freunde,

vor der Kirche in Kotobe habe ich zwei Nuer getroffen. Einen von beiden kannte ich schon vom letzten Jahr. Er ist Pastor der presbyterianischen Gemeinde der Nuer, die in der Kirche in Kotobe nachmitttags ihre Gottesdienste feiern dürfen. Die Gemeinde zählt etwa zweihundert Mitglieder. Sie sind alle vor den Bürgerkriegswirren im Südsudan geflohen. Äthiopien hat viele von ihnen aufgenommen. Und nicht nur Nuer, auch geflüchtete Menschen aus Somalia und Eritrea. Vermutlich hat Äthiopien viel mehr geflüchtete Menschen aufgenommen als Deutschland. Nur niemand in der Welt spricht darüber.

Der Südsudan ist der jüngste Staat der Welt. Zwei Jahre nach seiner Gründung im Jahr 2011 versinkt der junge Staat im Bürgerkrieg, der immer noch andauert. Vierzig hochrangige Militärs und Gouverneure sind wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Vier der zwölf Millionen Südsudanesen sind aus dem ölreichen Land vor der Gewalt gefohen. Zehntausende sind getötet. Die UN fordern seit l,angem schon die Einsetzung eines internationalen Gerichtshofs unter Beteiligung der Afrikanischen Union (AU). Länder wie der Südsudan sind Anlaß, an Afrika zu verzweifeln. Und dann begegnen einem Menschen, die sich schon vor Beginn ihres Gottesdienstes draußen versammeln und singen.

Die Nuer sind echt lange, tiefschwarze, beeindruckende Zeitgenossen. Als ich den Nuer-Pastor und dem Evangelisten der Nuer-Gemeinde wiederbegegne, muß ich mir im Gespräch doch ziemlich den Hals verrenken. Ich schlage vor, dass wir uns vielleicht besser im Sitzen unterhalten. Im Laufe des Gespräches muß ich immer wieder auf die „Schmucknarben“ im Gesicht der Männer sehen. Eine in der Kultur der Nuer verankerte Ausdrucksform von Zugehörigkeit. Ich sage: I like your tatoos. Im selben Moment bekomme ich einen Schreck über das, was ich gerade gesagt habe und schäme mich für meine kuulturelle Inkompetenz.

Der Nuer-Pastor fragt mich, ob ich nicht für einige Kinder seiner geflüchteten Gemeindglieder Stipendien organisieren kann. Ich sage ihm zu, seine Bitte an unsere äthiopischen Partner, die Bright Light Commission weiterzugeben. Vielleicht können wenigstens zwei Kinder der Flüchtlinge mit in unser Hilfsprogramm übernommen werden. Aber das will ich nicht entscheiden. Am Schluß unseres Gespräches habe ich jemanden gebeten, noch ein Foto von uns zu machen. Der das Foto machte, mußte sehr weit zurück gehen, um uns alle drei aufs Bild zu bekommen. Er hat sich schließlich entschieden, ein Brustbild von uns Dreien zu machen. Später sehe ich mir das Foto an: Ich sehe zwei lang aufgeschossene schwarze Männer und einen kleinen, dicklichen weißen Mann. Der sehr weiße Kopf des weißen Mannes befindet sich exakt auf Bauchhöhe der beiden schwarzen Männer. Lässig legen diese ihre Arme über die Schulter des weißen Mannes. Dabei blickensie unverwandt und doch gemütvoll in die Kamera. Der kleine weiße Mann dagegen scheint zu ahnen, was er bald zu sehen bekommen wird. Mir gefällt das Foto irgendwie. Es könnte die Überschrift haben: Gernegroß! Ein Foto jedenfalls, das ich mir (im Sinne der Realitätsüberprüfung) ansehen sollte,wenn ich mich gerade für ziemlich groß halte…

Am Abend habe ich mich mit einem früheren Mitarbeiter der Schweizer Hilfsorganisation SELAM in meinem Hotel getroffen. Ich habe den beglückkenden Eindruck, endlich den Mann getroffen zu haben, der in der Lage ist, das von mir seit vielen Jahren verfolgte Projekt einer Landwirtschaftsschule kombiniert mit einer Lehrwerkstatt für Landmaschinenreparatur und Landmaschinenhandel zu verwirklichen. Endlich jemand, der sich auskennt mit den notwendigen formla-bürokratischen Schritten und darüber hinaus die erforderliche technische und wirtschaftliche Kompetenz hat! Allerdings braucht er ein Startrkapital von etwa dreißigtausend Euro….Im nächsten Leben erbe ich hoffentlich eine Schraubenfabirk (oder Ähnliches), die vollautomatisch produziert und Gewinn einfährt, mit dem ich dann sinnvolle Projekte verwirklichen kann….

Jetzt gehe ich erstmal schlafe und träume von den millionen Schrauben und Schräubchen, wie sie in kleine und grössere Behälter fallen und wie ich am Ende jeden Monats zur Bank gehe, und den Gewinn kontrolliere. Ich sehe mich die eingegangenen Geldscheine zähle – immer wieder von vorne. Ich kann es nicht glauben…

Gute Nacht und herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Erster Brief aus Äthiopien – Hahn im Korb

Erster Brief aus Äthiopien – Hahn im Korb

Liebe Freunde,

schon vor längerer Zeit hatte mich mein äthiopischer Freund und Kollege, Soboka gefragt, ob ich bereit wäre, ein Seelsorgeseminar durchzuführen. Ziel des Seminars ist es, in den einzelnen Kirchengemeinden der Evangelischen Mekane Yesus Kirche Frauen als Konflikt- und Krisenberaterinnen fortzubilden und zu qualifizieren. Dieses (nur) einwöchige Seminar hat in der Kirchengemeinde Kotobe stattgefunden. Es war jedoch ein Projekt des neuen Zusammenschlusses (parish) von elf Gemeinden am nordöstlichen Rand der Hauptstadt Addis Abeba. Aus jeder Gemeinde sollte jeweils eine Frau an diesem Seminar teilnehmen und in ihrer Gemeinde weitergeben, was sie im Seminar gelernt und erfahren hat. Hinzu kam eine Frau aus dem Frauendezernat der Kirchenleitung der Mekane Yesus Kirche. Es war ein Seminar „von Frauen für Frauen“. Der einzige Fremdkörper war ich selbst als Leiter des Seminars. Am Ende des Seminars gab es das übliche Gruppenfoto: 12 Frauen und 1 Mann! Als ich zurück in Deutschland war, zeigte ich das Foto in einer Runde und erntete gleich den Spott: Ja, ja – Hahn im Korb!

Zwei Tage vor dem äthiopischen Weihnachtsfest (7. Januar) war ich in Addis angekommen. Auf der Strasse vor meinem Hotel lebhaftes Treiben. Jeder will vor dem Fest noch schnell etwas einkaufen. Traditionell wird in der Familie ein Schaf oder eine Ziege geschlachtet. Die Tiere werden auf den kleinen Märkten überall in der Stadt gekauft. auf dem Markt. Die Preise für Schlachtschafe und – Ziegen sind in den letzten Monaten rasant gestiegen. Die kleinen Leute können sich allenfalls noch ein Huhn leisten. Aber auch die Preise für Hühner sind gestiegen. Restuarants kaufen Kühe ein. Überall sieht man, wie Schafe und Kühe durch die Strassen und oft auch auf den Bürgersteigen zu den Verkaufsstellen getrieben werden. Und weil zumindest die Kühne ahnen, dass es kein gutes Ende mit ihnen nehmen wird, wehren sie sich manchmal aus Leibeskräften. Ich stehe etwas abseits und beobachte fasziniert das Geschehen.

Plötzlich bricht eine Kuh aus und geht auf mich los. Da ich mein rotes Torrerotuch zu Hause vergessen habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als davon zu laufen, bevor ich auf die Hörner genommen wurde. Die Kinder in meiner Umgebung lachen sich kaputt über mich. Aber zwei kräftige Jugendliche packen schließlich das wild gewordene Rind beherzt bei den Hörnern und retteten mich. Aber es könnte sein, dass es für manch einen eine durchaus angenehme Vorstellung ist, wenn ein herum streunender ´forengee´(Ausländer) einmal auf die Hörner genommen wird….

Auf meiner Flucht stolpere ich fast über einen Hühnerkäfig, in dem etwa zehn Hühner und ein bunter Hahn eingesperrt sind. Sehr bald wirdsich ein Käufer finden und das eine und andere Tier für das Festessen nach Hause mitnehmen. Ich sehe um mich herum mehrere Menschen mit einem Bündel lebender Hühner in der Hand, deren Beine zusammengebunden und deren Kopf nach unten baumelt. „Hahn im Korb“ – schön und gut, aber nicht ungefährlich: Zwischen Kikerie und Kopf ab bleiubt manchmal nur wenig Zeit…

Die Weihnachts-Deko vor und in den kleinen Läden kommt ganz klar aus den 1-Euro-Shops aus Hannover: Flitter, Gltzer. Knallbunt. Auf der riesigen Baustellen der neuen orthodoxen St. Mikael Kirche sehe ich die Bauarbeiter auf den Gerüsten um die Kuppel herum turnen. Es sieht aus wie eine Zirkusnummer. Unterhalb der Baustelle reihen sich über ein Länge von etwa hundert Meter kleine Baugeschäfte: Hier werden Zement, Vierkanthölzer, Armierungseisen, Werkzeuge verkauft. Alles, was man zum Hausbau benötigt. Die Läden sind zur Strasse offen. Im Eingang eines Ladens, der Armierungseisen verkauft, sehe ich einige junge Männer Karten spielen. Sie warten auf Kunden und vertreiben sich die Zeit. „Ashama!“ – Hallo, sage ich. Wie geht´s? Wer gewinnt gerade? Und spielt ihr etwa um Geld? – Ja, klar spielen wir um Geld, forengee. Willst du mitspielen? – Ja, gut, Wie hoch ist der Einsatz? – Zehn Birr!. – Okay, das kann ich mir leisten. Ich spiele ein paar Runden. Die kleineren Geldscheine aus meiner Hosentasche sind schnell weg. Bevor mir die grösseren aus der Tasche gezogen werden, frage ich, ob sie Lust haben, Skat spielen zu lernen. (Da kenne ich mich besser aus). Nein, dazu haben sie keine Lust. Später sehe ich sie auf der Ladefläche eines Kleintransporters, wie sie mir zuwinken.

Auf der Straße ist immer etwas los. Ich genieße diese Straßenszenen. Zwischen einer Bude, in der eine rohe Rinderhälfte hängt und einem Laden, in dem Plastikgeschirr angeboten wird befindet sich ein Verschlag mit Bündeln von Khat. Dahinter erscheint das Gesicht eines jungen Mannes . Ein sichtbar verliebtes Pärchen kauft bei ihm gerade einen Zweig Khat, das leicht berauschende Wirkung hat. Mehr als einen Zweig Khat können sich die jungen Leute nicht leisten. Sie zahlen die verlangten zehn Birr, und ich sehe, wie sie eng umschlungen und vergnügt davongehen. Der junge Verkäufer fragt mich, ob ich vielleicht auch Bedarf habe. Ich überlege kurz und sage: Nein, meine Frau ist heute nicht dabei. – Okay, sagt der junge Mann. Na, dann nächstes Mal….

Der Kathstrauch ist eine Pflanze aus der Familie der Spindelbaumgewächse. Eine Alltagsdroge im Jemen, Somalia und Äthiopien. Ich habe gehört, dass vor dem aktuellen Bürgerkrieg im Jemen die meisten Abgeordneten bei den Parlamentssitzungen in Sannaa gerne und ausdauern Khat gekaut haben. Vielleicht wäre das auch für die eine und andere Debatte im Bundestag zu empfehlen… Die jungen Blätter des Khatstrauchs werden als leichtes Rauschmittel im Mund zerkaut, in der Backentasche gesammelt und zwischendurch immer wieder mit Wasser oder einem Süßgetränk befeuchtet.

Der Wirkstoff Cathin wird über die Mundschleimhaut aufgenommen. Khat muss schnell nach dem Pflücken konsumiert werden, um seine Wirkung nicht zu verlieren. Der Geschmack der zerkauten Blätter ist süß und und bitter zugleich. Die Wirkung von Khat ähnelt der anderer Amphetamine. ist jedoch deutlich schwächer. Khat macht körperlich nicht abhängig. Größere Mengen führen zu einer behaglichen Müdigkeit – ideal für entspanntes Chillen und Rumhängen…In einigen Gebieten (z.B. Nord-Kenya) war das kath-Kauen ein Privileg der geronto-kratischen Gesellschaftsschicht und des Adels. Während der Kolonialzeit sahen sich Briten, Franzosen und Italiener am Horn von Afrika mit Khat als Droge konfrontiert. Ein britischer Appell an den Völkerbund im Jahre 1936 Khat zu verbieten blieb allerdings genauso erfolglos wie ein Verbot des Imports, Handels und Konsums von Khat in der britischen Kronkolonie Aden.

In Saudi-Arabien wird der Konsum von Khat auch heute noch mit 40 Stockhieben bestraft. Vom Khat-Schmuggel nach Saudi-Arabien profitierten im Jemen bis zu eine Million Menschen. Khat-Gelder spielen in Somalia eine wichtige Rolle in der Finanzierung der islamistischen al-Shabab-Milizen am Horn von Afrika. Im aktuellen jemenitischen Bürgerkrieg wird Khat als Motivator an die jeweiligen Soldaten und Milizen verteilt. Der Anbau von Khat ist lukrativ. Er hat an vielen Orten in Äthiopien den Anbau von Kaffee und Gemüse verdrängt. Der Anbau von Khat verbraucht allerdings hohe Mengen an Wasser. (So wie auch der Anbau von Blumen in riesigen Gewächshaus-Anlagen in Äthiopien und Kenia den Wasservorrat in der traditionellen Landwirtschaft bedroht). In Dänemark soll nach Auskunft der Polizei Khat auf dem Schwarzmarkt einen Wert von 60 Euro pro Kilogramm haben. Da muß man schon eine große IKEA-Tragetasche dabei haben, um die entsprechende Mange Khat-Zweige unterzubringen….

Auf meinen Wunsch hin habe ich in meinem Hotel ein wunderbar ruhiges und komfortables Zimmer bekommen. In dem vorherigen Zimmer brach morgens um sieben Uhr schlagartig ein Höllenlärm aus: In der unmittelbaren Nachbarschaft des Hotels wird ein neues Hochhaus gebaut. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren das erste Mal in Äthiopien war, machte die Hauptstadt den Eindruck eines großflächigen Dorfes. Zwar gab es im Zentrum verschiedene zwei- und dreistöckige Häuser aus der Zeit um 1900 und aus der der italienischen Besatzungszeit (dreißiger Jahre), aber die Mehrzahl der Häuser war bis vor wenigen Jahren ein- oder zweistöckig. Ich erinnere mich daran, wie in Addis die ersten Ampeln installiert wurden. Eine der Ampeln war am zentralen Mesquel-Square aufgestellt. Sie wurden von den Autofahrern am Anfang mehr bewundert als beachtet.

In den letzten sieben Jahren hat sich das Gesicht der Hauptstadt jedoch vollkommen verändert. Addis Abeba ist in kurzer Zeit zu einer modernen Metropole geworden. Es sind zahllose hohe Bürotürme, Einkaufs- und Konferenzzentren und Hotels gebaut worden. Die Chinesen haben innerhalb von wenigen Jahren eine vierspurige Stadtautobahn gebaut, welche die Stadt umgibt. Und Anfang des letzten Jahres wurde „the train“ eingeweiht: eine S-Bahn, die ebenfalls in einem Ring um das Zentrum führt und mit mehrere Abzweigungen einen wesentlichen Teil des Personenverkehrs aufnimmt. Die berühmte Bahnlinie vom damals französischen Hafen Djibouti in die äthiopische Hauptstadt war völlig marode geworden. Wenige Wochen bevor ich hier ankam, wurde die neue Linie Addis Abeba – Djibouti eröffnet. Ebenfalls ein chinesisches Projekt.

Die Chinesen treiben es mit Handel statt mit Kanonenboot-Politik. Sie haben große Flächen von fruchtbarem Land langfristig und günstig pachten können. Sie haben das Strassen- und Schienennetz schon jetzt erheblich verbessert. Weitere Strecken bis an die Grenze zum Sudan und im Norden entlang der Grenze zu Eritrea sind in der Planung. Dafür haben sie von der Regierung in großem Umfang die Schürfrechte für bisher unentdeckte Mineralien bekommen. Die USA und die EU transferieren grosse Geldmengen an die äthiopische Regierung, denn Äthiopien gilt als Bollwerk gegen die islamistischen Milizen in Somalia.

Viele fragen sich – wie ich selbst auch – , wie die moderne urbane Metropole finanziert eigentlich finanziert wird. Woher kommt das Geld und wer hat dafür das Geld? Die verbreitete Meinung ist, dass es vor allem diejenigen sind, die in der Regierung sind oder ihr nahe stehen. In erster Linie ist das die Ethnie der Tigray. Die Tigray bildeten im Bürgerkrieg (das Ende war 1991) gegen das kommunistische DERG-Regime eine bewaffnete Koalition mit Eritrea und Oromia. Die führende Elite des kommunistischen Regimes kam vor allem aus der (historisch gesehen führenden) Ethnie der Amharen. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes erreichte Eritrea sein eigenes Kriegsziel, nämlich die staatliche Unabhängigkeit. Aber sehr bald kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb der gerade gebildeten Koalitionsregierung zwischen Tigray und Oromo. Die Oromo fühlten sich (zu Recht) ausgebootet von den Tigray und gingen in die Opposition, während die Tigray im präsidial-demokratischen System Äthiopiens faktisch die alles dominierende und von allem profitierende Ethnie wurden. Man sieht, dass „den Tigray“ das neue Addis Abeba gehört: alles, was in den letzten sieben Jahren in Addis aufgebaut wurde. Dazu gehören auch mehrere ausgedehnte Neubau-Wohnviertel.

Natürlich weckt dies Neid und Hass der anderen Ethnien. In den letzten Jahres ist es wiederholt zu blutigen Zusammenstößen gekommen zwischen demonstrierenden Oromo und dem Regime. Mehrere tausend Regimegegner sitzen in den Gefängnissen. Es gibt seit langem eine latente Bürgerkriegsstimmung im Land. Insbesondere in Oromia. Nach dem Tod des ersten und langjährigen Ministerpräsidenten Meles Zenewi wurde (bewusst) ein schwacher Nachfolger gewählt. Er gehört zu einer kleinen Ethnie innerhalb des Zusammenschlusses der „Southern People“. Alle sind sich darin einig, dass er eine puppit der herrschenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite der Tigray ist und jederzeit abgelöst werden könnte. Viele sagen auch, dass – kurz bevor ich eingereist bin – das Militär drauf und dran war, die Regierung an sich zu reißen, um die massiven Unruhen unter den Oromo in den Griff zu bekommen.

Ich selbst befürchte dies ebenfalls. Alle Versuche eines friedlichen politischen Prozesses sind gescheitert oder gar nicht erst versucht worden. Die Unterdrückung der Oromo (und in gewißem Maße auch der Amharen) wird immer massiver und brutaler. Vieles deutet darauf hin, dass es zum Bürgerkrieg kommen wird. Das Szenario, das mir vorschwebt ist folgendes: Ein Militärregime wird versuchen, die Macht der herrschenden Tigray zu sichern, wird aber letztlich scheitern und ein Chaos auslösen. Die Mehrheit der Oromo wird für ein unabhängiges Oromia plädieren. Die Provinz Tigray wird entmachtet werden und den Preis für dreißig Jahre Unterdrückung, Korruption und Ausbeutung der anderen Ethnien zahlen müssen. Es wird so etwas wie eine Rückkehr zu jenem „Abessynien“ geben, dass es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat – bevor Kaiser Menelik II den Süden des heutigen Äthiopiens eroberte. In den Augen der Oromo ist Menelik II ein „Kolonialherrscher“ so wie es die Engländer, Franzosen und Italiener ringsum auch waren.

Die Mekane Yesus Kirche hält sich auffällig heraus aus dem politischen Geschehen. Viele sagen, dass sie vom jetzigen politischen System geduldet wird, weil sie sich heraushält aus politischen und gesellschaftlichen Fragen. Viele sagen auch, dass die evangelische Mekane Yesus Kirche – mit einerrasant wachsenden Mitgliederzahl – seit der Zeit der Unterdrückung kirchlicher Aktivitäten im Kommunismuis von pentecostalen Strömungen unterwandert und durchsetzt ist und ihre Identität als reformatorische Kirche längst aufgegeben hat. Aufgrund eigener Beobachtung teile ich diese Einschätzung

Vor diesem Hintergrund wird in wenigen Tagen das Seelsorge-Seminar stattfinden.

Ich bin gespannt….

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Zweiter Brief aus Äthiopien -Januar 2018 – Gadaa und die Humanistische Psychologie

Zweiter Brief aus Äthiopien – Gadaa und die Humanistische Psychologie

Liebe Freunde,

nun hat das Seelsorgeseminar begonnen. Die Rahmenbedingungen sind ungewöhnlich: Elf Teilnehmerinnen, eine Co-Leitung und ich als einziger Mann und in der Leitung. Das Ziel des Seminars ist ebenfalls ungewöhnlich: Auf der Ebene von Kirchengemeinden soll ein Beratungssystem geschaffen werden, in dem kompetente Frauen als Ratgeber rat-suchenden Frauen in Krisen und Konflikten unterstützen. Eine Beratung von Frauen für Frauen. Und dies in einer männer-dominierten, patriarchalen Gesellschaft. Die Herausforderung besteht darin, die „Frauenberatung“ in vorhandene kirchliche und gesellschaftliche Strukturen zu integrieren. Traditionell spielt der Gemeindepastor bei Konfliktlösungen eine große Rolle. Diese Bedeutung soll nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt werden durch kompetente Beratungsarbeit, die von entsprechend ausgebildeten Frauen innerhalb eines Kirchenkreieses (parish) wahrgenommen werden soll. Natürlich müssen auch die Ehemänner und Kirchenvorsteher (elders) mit eingebunden werden, denn ohne ihre Unterstützung würde dieses „Frauenprojekt“ nicht funktionieren. Das Seminar soll ein erster Schritt sein für ein Gemeinde-bezogenes Beratungsangebot, das es weiter zu entwickeln gilt. In einem einwöchigen Training kann selbstverständlich keine hinreichende Beratungskompetenz erworben werden. Aber die Kompetenz kann in anschließenden Seminaren weiter entwickelt werden.

Eine weitere grosse Herausforderung ist der kulturelle Aspekt:. In der Kultur und Tradition der Oromo (der grössten Ethnie im heutigen Äthiopien) spielt ein seit sechshundert Jahren ( vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts) praktiziertes Gesellschaftsmodell eine bedeutende Rolle: das Gadaa-System. Es betrifft den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und familiären Aspekt. Gadaa kann mit Recht als ein erfolgreiches Gesellschafts- und Staatsmodell betrachtet werden, das im Selbstverständnis egalitär und demokratisch ausgerichtet ist und alle Aspekte des Zusammenlebens definiert und regelt. Es betont die Elemente von dezentraler Machtteilung und wirksamer Kooperation.

Schon früh werden hier Menschenrechte beachtet und die Gleichheit und Würde der Einzelnen betont. Das Gadaa-System zielt ab auf ein friedlich-geregeltes und harmonisches Zusammanleben und -wirken. Von Geburt an hat ein Mensch das verbriefte Recht auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit. Asylsuchenden Fremden werden die gleichen Rechte gewährt und gleichen Pflichten auferlegt wie den eigenen Leuten. Gadaa umfasst ausserdem starke ethisch-moralische und religiöse Aspekte.

Im Kontext unseres Seminars ist Gadaa vor allem deshalb interessant, weil es Elemente geregelter und gewaltloser Konflikttlösung und Beratung zur Verfügung stellt. Ein Beratungs- und Konfliktlösungsmodell, das von außen kommt und das indigene kulturelle Erbe nicht beachtet, wird scheitern. Nun ist es jedoch so, dass das Beratungskonzept, das ich vertrete und zur Verfügung stelle, seine Wurzeln in der Aufklärung und in der Humanistischen Psychologie des vergangenen Jahrhunderts hat. Dabei steht das Individuum im Mittelpunkt des Interesses: die Entdeckung der eigenen Ressourcen, die Arbeit an den persönlichen Problemen und die Unterstütztung bei der Entwicklung und Entfaltung einer hinreichend gelungenen persönlichen Lebensgestaltung. Im Gegensatz dazu ist das traditionelle Gadaa-System fokussiert auf den Gedanken der Gemeinschaft und ihr Wohlergehen. Ohne harmonische Gemeinschaft kein individueller Friede. Das Gadaa-System steht für „Gewaltenteilung“ und „check and balance“. Es steht für Rechtssicherheit und Frieden (nagaa).

Bereits vor Beginn des Seminars war ich mir bewußt, dass die beiden „Ansätze“ – das „westliche“ und das „Oromo“ Modell – nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass beide Ansätze sich gegenseitig (!) befruchten und ergänzen könnten. Dies hat u.a. die Entstehung des systemisch-familientheraputischen Ansatzes bei uns gezeigt. Auf der anderen Seite sieht sich die Gesellschaft und auch die Kirche in Äthiopien durch die rapide wachsende Urbanisierung herausgefordert. Dies ist besonders augenfällig in Addis Abeba. Jeden Tag strömen mehrere Tausend Menschen vom Land in die Hauptstadt. Eine Situation, die vergleichbar ist mit den großen Städten in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als durch die Industriealisierung neue Arbeitsplätze in den Fabriken geschaffen wurden. Allerdings zu miserbalen Bedingungen.

Aber in Äthiopien entshenen kaum neue Arbeitsplätze. Für die grosse Mehrheit der Menschen gibt es keinen wirtschaftlichen Aufschwung – nicht in den grossen Städten und schon gar nicht auf dem Land, wo immer noch die meisten Menschen leben. Viele junge Menschen kommen nach Addis und sind in kurzer Zeit völlig desillusioniert. Wenn sie Glück haben, finden sie eine Gruppe anderer Jugendlicher, der sie sich anschliessen. Sie hängen in Abbruchhäusern und Rohbauten herum. Sie sind entwurzelt, haben keine Perspektive und wollen und können nicht dorthin zurück, von wo sie voller Hoffnung aufgebrochen sind,

Das ist der gesellschaftliche und soziale Hintergrund auf dem das traditionelle Gadaa-System keine Hilfe mehr sein kann. Aber womöglich der auf den einzelnen notleidenden Menschen fokussierte Hilfeansatz, der auf Methoden der Humanistischen Psychologie zurückgreift. Vor diesem Hintergrund findet unser Seminar statt. Manche Betrachter sehen im Gadaa-System als Defizit, dass Frauen nicht angemessen repräsentiert sind und keinen angemessenen Einfluß haben. Andere dagegen unterstreichen, dass die Rechte der Frauen durchaus respektiert sind und Frauen geradezu die „tragenden Säulen“ sind. Tatsächlich existiert innerhalb des Gadaa-Systems eine besondere Institution, welche die Rechte der Frauen herausstellen. Es ist die Siiqqee-Institution, durch die Frauen in der Oromo-Tradition selbstorganisiert für ihre Rechte eintreten:

Am Hochzeitstag übergibt die Brautmutter der Braut den Siiqqee-Stab. Durch die Institution und Symbolkraft des Siiqqee hat eine Frau Anspruch auf materielle Ressourcen, sozialen Status, persönliche Unversehrtheit, Respekt und Schutz der eigenen Privatsphäre. Sie erfährt Solidarität in der Gruppe anderer Frauen. Wenn zum Beispiel eine Ehefrau von ihrem Mann mißhandelt wurde, kann diese sich an ihre Frauen- Peer-Gruppe (hirriya) in ihrer Nachbarschaft wenden. Jede der Frauen führt dann ihren persönlichen Siiqqee-Stab mit sich und wendet sich an die für einen solchen Fall vorgesehene Gruppe von „Älteren“ (Shane), die dann den Fall untersucht.

Außerdem wird den Oromo-Frauen durch die Siiqqee-Institution Macht und Kompetenz übertragen, private Konflikte zu einer Lösung zu bringen und Versöhnung zwischen verfeindeten Familien zu ermöglichen. Dies ist der Anknüpfungspunkt für eine verstärkte Rollenwahrnehmung von Frauen bei der Krisenintervention und Konfliktlösung in Kirche und Gesellschaft. Hier sehe ich auch einen Anknüpfunghs- und Verbindungspunkt zwischen „humanistischem“ und „Gadaa“-Ansatz.Mit anderen Worten, dies ist sozusagen die gemeinsame Basis, auf der das von uns entwickelte Beratungskonzept beruht.

Das kulturelle Erbe des Gadaa-Systems steckt in der DNA jedes Oromo. Ich bin mir bewußt, dass es nicht einfach sein wird, im Seminar das europäische kulturelle Erbe zu vermitteln: Aufklärung, Humanismus, Wertschätzung des Einzelnen. So etwa wie „Einzelberatung“ ist praktisch unbekannt. „Selbsterfahrung“ und „tiefenpsychologische Spurensuche“ ebenso. Und auch die „Aufararbeitung eines Problems“ scheint mir nicht von großem Interesse zu sein. Vielmehr läuft alles hinaus auf „Versöhnung“ (reconciliation) Es gibt in der Regel kein „face-to-face-counseling“, also die individuelle Beratung. Vielleicht, weil sie unter dem verdacht steht, ineffektiv zu sein, weil die andere Seite nicht präsent ist. Auch die Paarberatung in der Form, wie wir sie kennen, scheint es hier nicht zu geben. Vielleicht, weil es üblich ist, Konflikte in größerer Gemeinschaft zu lösen.

Heute haben wir im Seminar daran gearbeitet, welche Vor- und Nachteile Beratungsformen in einer modernen, urbanen Gesellschaft haben. Im verbreiteten ländlichen Kontext ist die Frau nicht zuletzt ökonmisch von ihrem Mann abhängig. Nach einer Trennung oder Scheidung ist die Frau faktisch unversorgt. Oft muß sie zu ihren Eltern zurück gehen. Das ist schambesetzt, weil sie wieder „Tochter“ wird und ihren sozialen Status als „Ehefrau“ gefährdet. Darüberhinaus ist es in der Regel der Mann, der das sehr viel von ihren Männern. Recht auf die gemeinsamen Kinder hat – jedenfalls wenn sie aus dem Säuglingsalter heraus sind. Auf diesem Hintergrund erdulden viele Frauen. Eine Teilnehmerin sagte: Ich würde mir lieber das Leben nehmen, als geschieden zu werden.

Die Teilnehmerinnen sind sehr wißbegierig, die „europäische“ Form der Beratung kennen zu lernen. Aber sie spüren auch deutlich, dass diese Beratungsform im afrikanischen Kontext an Grenzen stößt. In der am westlichen Humanismus orientierten Beratung geht es um Wertschätzung des Individuums, um Toleranz und Empathie. Das Ziel ist, eine Ratsuchende zu unterstützen und zu ermutigen, die eigenen Ressoucen zu entdecken und den eigenen Lösungsweg zu finden. Dabei werden jedoch sozio-ökonomische und politisch-rechtliche Strukturen vorausgesetzt, die es aktuell weder in Äthiopien, noch in den meisten anderen afrikanischen Ländern gibt. Was nützt also alle Einfühlung und Eremutigung, wenn eine Ratsuchende kaum eine Chanmce hat, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern?

Und dennoch ist deutlich, dass es einen großen Unterschied macht, ob ich in einer Krisen- und Konfliktsituation allein (gelassen) bin oder ob ich durch eine peer-group von Frauen (siehe: Siiqqee!) oder in einer professionellen Beratung Verständnis, Solidarität und Einfühlung erfahre – von einer weiblichen Beraterin! Auch wenn das männlich-chauvinistische System nicht von heute auf morgen verändert werden kann, würde eine solche Beratung dennoch etwas verändern können: Es würde dem desolaten Gefühl von Hilflosigkeit und, Einsamkeit und Ausweglosigkeit etwas entgegen setzen und helfen, ein lebensförderliches und die Lebenskräfte stärkendes Bewusstsein zu bekommen.

Methodisch lehre ich ohne Lehrbuch und häufig in „Bildern“: Ich demonstriere in der Mitte der Gruppe, was ich sagen will. Ich verwende Metaphern und „zeige“ eher, als dass ich verbale Erklärungen gebe. Wir arbeiten viel mit „Anwärm-Übungen“, Rollenspiel und lösen die Gruppenrunde auf durch das Arbeiten in Duos und Trios. Dadurch wird auch die Anstrengung reduziert, dass alles Gesagte übersetzt werden muß. Das ganze Lehr- Lerngeschehen ist buchstäblich ständig in Bewegung. Wir lachen viel miteinander und die Teilnehmerinnen drängen darauf, so viel wie möglich zu erleben und zu lernen. Das ist ganz wunderbar für mich.

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

Counseling by Women for Women

Report on an one-week womens seminar on counseling in the church context (Erer-Bole Parish): „Counseling by women for women“
http://www.karl-lemmermann-haus.de/
January 8 – 12, 2018 at Kotobe Congregation, Addis Ababa
http://www.karl-lemmermann-haus.de/
1. Introduction

Two years ago I have been conducting a similar seminar for women in leading positions in the Mekane Yesus Church. That seminar was organised by the Womens Department of the Mekane Yesus Church (EECMY) in coopetration with the United Evangelical Lutheran Church in Germany (VELKD).

This time the focus was on parish level. The participating women have been sent each from one of the eleven congregations of Erer-Bole-Parish. In this way the seminar had eleven participants plus sisiter Abebech and me as instructors. Just recently the Erer-Bole -Parish has been established. The seat of this new parish is EECMY Kotobe Congregation. Counseling by Women for Women weiterlesen