Libanon

Liebe Freunde,

ohne Wendland keine Libanonreise! Für meine Kollegin Karin, mit der ich schon viele Seelsorge-Fortbildungen in Rußland gemacht habe, kommt das Paradies gleich nach dem Wendland – oder ist vielleicht schon das Wendland das Paradies? Im Wendland hat sie mit einem Pastoren-Ehepaar zusammen gearbeitet, das inzwischen in der deutschen Auslandsgemeinde in Kairo arbeitet: Nadia und Stefan. Ich selbst habe Nadia und Stefan kennen gelernt, als sie noch im Vikariat waren und an einem von mir geleiteten Seelsorgetraining teilgenommen haben. Nadia und Stefan haben Karin und mich gefragt, ob wir bereit sind, im Rahmen der EKD-Nahost-Konferenz gruppen-supervisorisch zu arbeiten. Wir haben gerne Ja gesagt.

Die EKD-PastorInnen im Nahen Osten treffen sich einmal jährlich zu einer einwöchigen Konferenz. Dieses Mal im Libanon. Diese Konferenzen haben einen festgelegten dienstlichen sowie einen „beweglichen Teil“: Die Kollegen in der jeweils gastgebenden Gemeinde organisieren immer einen kleinen Ausflug, um nicht den ganzen Tag nur auf Stühlen herum zu sitzen. Dieses Mal soll der Ausflug ins Ausflug ins Chouf-Gebirge und zu den Zedern gehen – und wir sind eingeladen, daran teilzunehmen.

Die Kollegen aus der deutschen Gemeinde in Beirut hatten ein schönes Tagungshaus organisirt. Etwa 40 Kilometer südlich von Beirut und nicht weit entfernt von der Mittelmeerküste, aber schon im Chouf-Gebirge gelegen. Das Tagungshaus Dar Assalam versteht sich als Treffpunkt für inter-kulturelle und inter-religöse Begegnungen. Es fördert vor allem die Begegnung zwischen der arabischen und europäischen Kultur. Das Tagungshaus wurde gegründet von engagierten deutschen und libanesischen Sponsoren, die den europäisch-arabischen Dialog fördern wollten – und dies mitten im Krieg. Der Libanon stand wieder einmal vor der Zerreißprobe: rivalisierende Kräfte im Land destabilisierten das Land und und machten es zum Spielball der Mächte von außen.

Am Ende des Bürgerkriegs erwies sich Syrien als neue Ordnungsmacht. Der Libanon wurde praktisch zum syrischen Protektorat. Vom Südlibanon aus beschoß weiterhin die vom Iran unterstützte Hisbolla den Norden Israels. Mitten in dieser Zeit und Mitten im Südlibanon entstand hier aus bescheidenen Anfängen das interkulturelle Tagungshaus Dar Assalam – Haus des Friedens. Jetzt hat das Tagungshaus 24 Zimmer, Konferenzräume und einen schönen Garten. Ein richtig guter Tagungsort.

Die Teilnehmenden an der Nahost-Konferenz (NOK) arbeiten in Beirut, Jerusalem, Kairo, Alexandria (Seemannsmission), Istanbul, Teheran, Doha, Dubai und Amman. An manchen Einsatzorten ist die Gemeindearbeit mit einer deutschen Schule verbunden (Kairo, Beirut, Istanbul), die zum Ansehen der Gemeinde in der Gesellschaft oft sehr beiträgt. Manche Gemeinden werden von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleitet und im Hinblick auf pastorale und pfarramtliche Dienste von anderen Gemeinden mitversorgt – zum Beispiel wird Doha von der Gemeinde in Teheran und Amman von der Gemeinde in Jerusalem mit versorgt und begleitet.

Die Gemeinden sind sehr unterschiedlich. Aus den Berichten der Konferenz-TeilnehmerInnen hier ein paar Auszüge: Die Gemeinde in Istanbul besteht zwar seit 1842, ist aber seit 1923 ( Staatsgründung der heutigen Türkei als säkularer, kemalistischer Staat ) ohne rechtlichen Status. Nur die griechisch-orthodoxe und die armenische Kirche hat einen anerkannten Rechtsstatus. Angesichts der aktuellen politischen Situation sind viele Gemeindeglieder nach Deutschland zurückgekehrt. Und viele sind weg aus dem Zentrum an die Peripherie der Stadt gezogen. Die Zahl der Gemeindeglieder (Familienvorstände und Einzelne) ist um ein Drittel gesunken.

Nadia und Stefan beschreiben ihre Situation in Kairo zwischen fascinosum et tremendum. Wer über den Präsidenten spottet, landet schnell im Gefängnis. Die Inflation liegt bei dreißig Prozent und die Währung ist um mehr als die Hälfte abgewertet worden. Wer bisher noch seine Familie ernähren konnte, kann es jetzt nicht mehr. Viele Menschen wollen das Land verlassen. Erstaunlicherweise haben viele Deutsche in Kairo großes Interesse an den Aktivitäten der Gemeinde – aber wenig Interesse an einer Mitgliedschaft in der Gemeinde. Es gibt ein regelmäßiges Gottesdienstangebot, Schulgottesdienste, Kindergottesdienst – und immer wieder Gelegenheit zu Begegnungen mit Besuchern und Referenten aus Deutschland. Der Weihnachtsbasar mit Weihnachtsmusik, Geschichten, Theater, Selbst-Gebasteltem ist ein Höhepunkt in der Gemeinde. Er zieht jedes Jahr mehr als siebentausend Menschen an.

Die Begegnungen mit der koptisch-orthodoxen Kirche werden von der Gemeinde als grosses Geschenk erlebt. Zwei Tage nach dem Ende unserer Nahostkonferenz im Libanon kam es zu Bombenanschlägen in koptischen Kirchen, bei denen – wie schon im Dezember letzten Jahres – mehr als 25 Menschen getötet und viele Verletzt wurden. Man sagt, dass diese terroristischen Anschläge von radikalisierten islamistischen Gruppen ausgehen, die vom Sinai aus operieren. Zum Luther-Jubiläum hat die Gemeinde islamische Kalligraphie-Künstler gebeten, Zitate der großen Reformatoren Luther, Calvin, Zwingli und Melanchton ins Arabische zu übersetzen, kalligraphisch zu gestalten und in der Kirche auszustellen.

Eine andere Konferent-Teilnehmerin, Karin leitet mit ihrem Mann Markus das Seemannsheim in Alexandria.(Nach unserer Rückkehr hörte ich zufällig im Autoradio ein Interview mit ihr: Sie war gerade von unserer Konferenz zurück nach Alexandria gekommen, als ganz in ihrer Nähe ein Bombenanschlag auf eine koptische Kirche verübt wurde…)

Das Seemannsheim in Alexandria ist für viele Seeleute ein heimatlicher Ort. Kaum jemand weiß, dass auf dem Mittelmeer viel mehr in Seenot geratene Flüchtlinge von den Frachtschiffen aufgenommen werden, als von Seenot-Rettungsschiffen. Es sind traumatische Erlebnisse für die Seeleute, wenn sie hilflos miterleben müssen, wie vor ihren Augen während der Rettungsmanöver Menschen ertrinken – aus Entkräftung oder weil Frachtschiffe nicht ausgelegt sind für Seenotrettung.

Aus Jerusalem waren gleich mehrere TeilnehmerInnen zur NOK angereist: der Propst von Jerusalem, zusammen mit seiner Frau, Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts, der Sondervikar der Erlöser-Kirchengemeinde (der jedoch immer ein ordinierter Pastor ist), eine Mitarbeiterin, deren Aufgabe die Besucherbetreuung ist und eine von der EKD entsandte Pastorin, die für das „Studium in Israel“ verantwortlich ist. (Zur Zeit begleitet sie 13 Studierende der evangelischen und katholischen Theologie im Iwrit (Neuhebräisch)-Studium und 12 PfarrerInnen, die ein Studiensemester in Jerusalem machen.

Die evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Jerusalem ist offen für alle, die für kürzere oder längere Zeit im Heiligen Land leben: Besucher, Pilger, Touristen, Diplomaten, Lehrer und Studierende und für Menschen, die mit jüdischen oder arabischen Ehepartnern verheiratet sind. Der Propst vertritt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in der Gemeinschaft der etwa 60 verschiedenen christlichen Kirchen in Jerusalem, die ihre Gottesdienste auf Arabisch, Griechisch, Aramäisch, Armenisch, Russisch, Hebräisch, Koptisch, Englisch, Deutsch und in mehreren anderen Sprachen feiern. Eine besonders enge partnerschaftliche Beziehung besteht zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELCJHL). Die evangelische Gemeinde in Jerusalem bemüht sich um gute Beziehungen zu ihren jüdischen und muslemischen Nachbarn. Ein wichtiges Anliegen ist der Gemeinde die Förderung des christlich-jüdischen Verhältnisses. Die Gemeinde hat etwa 50 MitarbeiterInnen. „Evangelisch in Jerusalem“ – das heißt für sie: Schwerpunkte zu setzen im Bildungsbereich, in der Pflege von Begegnungen sowie die inter-religiösen und inter-konfessionellen Kontakte zu pflegen. Traditionell gibt es eine gute Beziehung zur Deutschen Botschaft in Tel Aviv und zum Palästinischen Vertretungsbüro in Ramallah.

Die gemeindliche Tätigkeit ist in Teheran vollkommen beschränkt auf die Deutsch sprechenden Christen. Es gilt ein absolutes Missionsverbot. So gibt es auch keine Bibelübersetzungen in Farsi. Es gibt viele – manche sprechen von über eintausend – von iranischen Christen gegründete Hausgemeinden, die jedoch sehr evangelikal und pentecostal sind. Sie arbeiten als isolierte Zellen. Es ist vermutlich klug, als deutsche evangelische Gemeinde keinen Kontakt zu ihnen zu haben. Es gibt im Land einige englisch-, französisch- oder italienisch-sprachige christliche Gemeinden – besonders unter den Chaldäern und Armeniern. Die iranische Bevölkerung ist – anders als es durch die westlichen Medien den Anschein hat – eher weltoffen und säkular. Viele haben den Wunsch, das Land zu verlassen. Außer der Pastorin gibt es in der Teheraner Gemeinde eine ehrenamtlich tätige Lehrerin, die ein Frauen-Café leitet. Dorthin kommen viele deutsche Frauen, die durch ihre Heirat Muslima geworden sind (ebenso ihre Kinder) und hier eine sprachliche und kulturelle Verbindung zu ihrer Heimat suchen.

Die Pastorin in Teheran versorgt durch Pastoralreisen auch die deutschen evangelischen Gemeinden in Doha und im Oman, die von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen geleitet werden. In Oman findet der Gottesdienst in der deutschen Botschaft statt. In Doha gibt es ein abgegrenztes Areal, das für die Aktivitäten der verschiedenen christlichen Kirchen zur Verfügung steht. Das Gelände hat einen einzigen, bewachten Zugang. Christliche Kreuze sind jedoch auch auf diesem besonderen Areal ebenso wie religiöse Musik verboten. Nur wenn der deutsche Botschafter hin und wieder am Gottesdienst teilnimmt, gibt es mehr als zehn Gottesdienstbesucher.

Die etwa zwölftausend Deutschen und dreitausend Österreicher und Schweizer in Dubai leben durchschnittlich von drei Monaten bis zu drei Jahren hier. Es sind überwiegend junge Geschäftsleute mit Arbeitsvisum, die hier doppelte bis dreifache Gehälter verdienen. Sie haben wenig Kontakt zur Gemeinde. Die EKD entsendet einen Pastor für die Deutsche Auslandsgemeinde in Dubai. In der Gemeinde gibt es faktisch keine alten Menschen und deshalb auch nicht die in Gemeinden übliche Seniorenarbeit. Kindergottesdienst und Kirchenkaffee werden gut angenommen. An Ostern und Weihnachten, ebenso wie am Erntedankfest und am Frühlingsfest versammeln sich gerne die Familien in der Gemeinde. Sie sind mit der Gemeinde aber nur punktuell verbunden. In Dubai leben überwiegend junge Familien mit kleinen Kindern und Single. Statt am Sonntagsgottesdienst nehmen sie lieber an den Gemeindenachmittagen teil, die mit einem Kinderprogramm und gemeinsamen Essen verbunden sind.

Eine besondere Aufgabe besteht in der seelsorglichen Begleitung, denn es gibt viele arme und zum Teil verwahrloste Deutsche in Dubai: deren Firma Pleite gegangen ist, die den rechtzeitigen Absprung zurück nach Deutschland nicht geschafft haben und viel Geld bezahlen müssten, um ausreisen zu dürfen (verbunden mit einem Wieder-Einreiseverbot). Wenn sie das Geld nicht aufbringen können, leben sie faktisch illegal im Land. Ausländer, die überschuldet sind, werden mit einem „travel ban“ belegt. Wenn sie ihre Schulden – oft mehrere zehntausend Euro – nicht bezahlen können, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, sich behördlich zu stellen und ggfl. ein Gnadengesuch einzureichen. Nicht wenige von ihnen müssen eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen.

Last not least: Beirut! Die gastgebende Gemeinde für die NOK. Die deutsche Auslandsgemeinde in Beirut wurde Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet. Mit Hilfe der EKD hat die Gemeinde ein mehrstöckiges Haus in attraktiver Wohngegend erwerben können. In diesem Haus befinden sich die Dienstwohnungen und Gemeinderäume. Aus der Vermietung der übrigen Räume muss sich die Gemeinde selbst finanzieren. Die etwa einhundert Gemeindeglieder gehören vor allem der älteren Generation an. Viele haben in den 50er und 60er Jahren einen libanesischen Partner geheiratet. Unter den politischen, gesellschaftlichen und religiösen Bedingungen im Libanon ergeben sich dadurch – insbesondere für Frauen – oft große Probleme. Frauen haben so gut wie keine Rechte, und alles geht nach der Religion des Mannes. Viele Frauen möchten im Alter gerne nach Deutschland zurückkehren.

Neben gottesdienstlichen Angeboten bilden Seelsorge und kirchliche Sozialarbeit die Schwerpunkte. Seit über fünf Jahren besteht die Situation, dass 1.5 Millionen Flüchtlinge in diesem Land mit etwa 4.5 Millionen Einwohnern leben – davon mehr als eine Million syrische Flüchtlinge (die genaue Zahl ist nicht bekannt) und eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge, die hier schon seit mehreren Generationen in Lagern wie Sabra und Schatila leben – Lager, die traurige Berühmtheit erhielten durch die israelische Bombardierung und das anschließende Gemetzel durch mit Israel verbündete christliche Milizen. Die vielen Flüchtlinge schaffen eine angespannte Lage im Land. Die Flüchtlinge belasten die Sozial-, Gesundheits- und Schulsysteme. Zudem ist die Lage an der nordöstlichen Grenze zu Syrien gespannt.

Bisher war die Grenze zwischen Syrien und Libanon für Flüchtlinge völlig offen. Viele von ihnen versuchen, irgend eine (schlecht bezahlte) Arbeit in Libanon zu finden, um ihre Familien durchzubringen. Sie leben in von Bomben halb zerstörten Häusern und oft zu zehn oder mehr Personen in einem einzigen Zimmer. Viele Libanesen reagieren inzwischen gereizt und ablehnend gegenüber den syrischen Flüchtlingen. Sie befürchten, dass ihre Löhne durch das Angebot billiger Arbeitskraft der Flüchtlinge noch weiter sinkt. Inzwischen benötigen die hier lebenden Syrer eine Aufenthaltsgenehmigung, die für ein Jahr pro Person 200 USD kostet – eine Summe, die viele Menschen nicht aufbringen können. Das bedeutet, dass viele syrische Familien nun illegal im Land leben – mit allen damit verbundenen Unsicherheiten.

Unter anderem mit Hilfe der deutschen Regierung wurden vielerorts Beschulungs-Programme initiiert. Geschätzt 300 000 Kinder müssen beschult werden – oder gehen einfach nicht zur Schule. Auch viele ältere Kinder sind noch nie in ihrem Leben zur Schule gegangen. Und die meisten Kinder haben die Schule nur bis zur sechsten Klasse besucht. Mit Hilfe finanzieller Unterstützung aus Europa wurden „Conatinerschulen“ aufgebaut und Lehrkräfte eingestellt. Anderswo findet vormittags Unterricht für einheimische SchülerInnen und nachmittags für syrische SchülerInnen statt. Für die syrischen Kinder muß ein relativ hohes Schulgeld bezahlt werden. Das schafft Konflikte, da die syrische Flüchtlingskinder kein Schulgeld bezahlen müssen.

Einige Abiturienten von Flüchtingscamp-Schulen an denen das syrische Unterrichts-Curriculum unterrichtet wird, konnten die Abiturprüfung in Damaskus machen und so einen anerkannten Abschluss mit Studienberechtigung bekommen. Die Gemeinde-MitarbeiterInnen machen Hausbesuche, geben – so weit es geht – finanzielle Nothilfe und halten telefonischen Kontakt. Der (nur noch telefonische) Kontakt nach Aleppo geht über „Zwischentelefon“ mit Anrufen im Süden Syriens und Weiterleitung der Telefonbotschaften von dort nach Aleppo. Immer wieder gibt es Anfragen von nach Deutschland geflüchteten syrischen Familien, den im Libanon zurück gebliebenen Familienmitgliedern zu helfen. Zum Teil leben diese Menschen auf der Flucht an abgelegenen Orten in den Bergen. Und oft leben sie unter erbärmlichen Bedingungen. Aus Mangel an Informationen finanziellen Möglichkeiten trauen sie sich nicht, mit dem Bus unterwegs zu sein, aus Angst, an einem Check-point entdeckt zu werden. Die Mitarbeiterinnen der Gemeinde versuchen – so gut es geht – auch diesen Menschen mit Rat und finanzieller Hilfe beiszustehen.

Eine weitere Zielgruppe sozialer Arbeit der Gemeinde sind deutsch-sprachige Frauen in schwierigen familiären Situationen – so z,B. zu Alleinerziehenden, denen die Gesellschaft ohnehin ablehnend gegenüber steht.

 

Unser supervisorisches Angebot

Von all den vielen neuen Informationen und Erzählungen aus den Auslandsgemeinden waren Karin und ich im ersten Augenblick doch sehr erschlagen. Wie, um alles in der Welt sollten wir jetzt mit den Teilnehmenden der Konferenz sinnvoll arbeiten? Worin konnte unser Supervisionsangebot bestehen? Gott sei Dank hatte das Vorbeitungsteam der Konferenz schon vorher verschiedene Themen ausgewählt, die für die supervisorische Arbeit relevant erschienen – zum Beispiel:

Partnerschaft und Familie – wie geht es uns in der Fremde?“ / Mein Leben zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen“/ Ich als fernes Kind – die Sorge um meine alten Eltern“/ Leben in einbem Unrechtsstaat – zwischen Diplomatie und Gewissensnot“

Es zeigte sich schnell, dass wir gut und intensiv miteinander arbeiten konnten. Karin und ich haben jeweils mit der Hälfte der Teilnehmenden, also in zwei Teilgruppen über zwei Tage gearbeitet. Am zweiten Tag wechselten wir als Leitung in die jeweils andere Teilgruppe. Das Format unserer Arbeit war eine Kombination aus thematischem Gruppengespräch (TZI) und psychodramatischer Arbeit an den eingebrachten Fällen (Fallsupervision). Wir hatten insgesamt sechs Arbeitseinheiten in den jeweiligen Teilgruppen.

Mich hat überrascht, dass alle Teilnehmenden ganz überwiegend gerne in ihren Auslandsgemeinden leben und arbeiten und von ihrer Zeit im Ausland als Herausforderung und ausgesprochen bereichernde Erfahrung erzählen. Aber es gibt auch manches, das für die Ausland tätigen Kolleginnen und Kollegen schwer erträglich ist. Zum Beispiel, wenn Israelis beim Vorbeigehen vor dem Propst ausspucken. Und es gibt Fragen: Wie verarbeite ich die Situation, wenn ich Augenzeuge bin, wie vier junge Palästinenser von israelischen Soldaten erschossen werden? Die jungen Leute kamen in ihrem Auto fröhlich vom Baden und wurden an einem Checkpoint angehalten. Es kommt zu Missverständnissen. Sie werden erschossen. Vorher hatten andere junge Palästinenser auf die israelischen Soldaten mit Steinen geworfen. Was kann man tun, wenn der Pastor einer deutschen Auslandsgemeinde in einen Autounfall verwickelt ist und damit rechnen muss, eine mehrjährige Haftstrafe zu verbüßen, obwohl er nach unserem Rechtsverständnis unschuldig ist? Wie gehe ich mit der Situation um, wenn Familienangehörige oder nahe Freunde in Deutschland schwer krank werden oder im Sterben liegen? Wie oft werde ich das Flugzeug nehmen um ihnen nahe zu sein? Wie halte ich die Zerrissenheit aus zwischen meiner Arbeit (und Familie) am fremden Ort und dem manchmal dramatischen Geschehen in der Heimat?

Wo können wir eine gute Unterstützung bekommen, wenn es uns als Paar und als Familie im Ausland schlecht geht?  Karin und ich hatten neben der supervisorischen Gruppenarbeit auch seelsorgliche Einzel- und Paargespräche. Ich habe selbst viele Jahre als Seelsorger gearbeitet und weiß, wie wichtig es ist, ein verlässliches und kontinuierliches Gesprächsangebot zu machen. Vielleicht bin ich ja zu eng in meiner Wahrnehmung, aber mir scheint dies vielleicht die größte Herausforderung und die am schwersten zu ertragende Verzichtleistung zu sein: keinen hilfreichen, kompetenten Gesprächspartner zu haben, wenn ich ihn dringend brauche. Am Ende unserer Zeit mit den Kollegen und Kolleginnen haben wir uns reich beschenkt gefühlt und blicken mit Freude und Dankbarkeit auf die NOK im Libanon zurück.

Am vorletzten Tag der Nahost-Konferenz wurden wir eingeladen, an einem Ausflug ins Choufgebirge und zu den Zedern des Libanon teilzunehmen. Das war ganz wunderbar! Mit einem großen Bus fuhren wir von der Mittelmeerküste hoch ins bis zu 2000 m hohe Choufgebirge. Die Strassen sind gut, aber sehr kurvig bis man Deir el Qamar erreicht – das einzige christliche Dorf im drusischen Chouf. Um den malerischen Platz (Midan) in der Mitte des Ortes stehen mehrere Gebäude aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts wie selbstverständlich neben einander: der beeindruckende Regierungssitz (Serail) und die durch ihre Schlichtheit ebenso beeindruckende kleine Mosche. Auf der Rückseite des Platzes eine große christliche Kirche aus dem 19. Jahrhundert.

Wir fsetzen die Fahrt fort. Fahren über eine schneebeebedeckte Kuppe, auf der hohe Funkmasten stehen. Von hier aus haben wir einen herrlichen Blick über die Bekaa-Ebene und den dahinter liegenden 2800 m hohen Berg Hermon. Auf seiner Südseite ist der Hermon von Israel besetzt (Golan-Höhe). Die fruchtbare Bekaa-Hochebene ist zwischen 800 und 1100 m hoch gelegen. Die wasserreiche und klimatisch durch zwei höhere Gebirge geschützte Hochebene ermöglicht mehrere Ernten im Jahr. Hier werden hauptsächlich Getreide, Gemüse, Obst und Wein angebaut. Hier befinden sich die besten Weingüter des Landes! Vor uns im Tal liegt die berühmte Johann-Ludwig-Schneller-Schule mit ihrer langen Familientradition.

Die Anfänge liegen in Jerusalem. Hierher kam 1854 der Lehrer und Missionar Johann Ludwig Schneller, um das dortige Brüderhaus der St. Chrischona-Pilgermission wieder aufzubauen. Als es 1860 im – damals syrischen – Libanon zu einem Bürgerkrieg zwischen Drusen und (christlichen) Maroniten kam, nahm sich Schneller, gemeinsam mit seiner Frau mehreren Waisenkinder an und brachte sie nach Jerusalem. Hier begann er mit dem Bau eines Waisenhauses. Die Verfolgung der Armenier seit 1894 machte sein Engagement nochmals dringlicher. Nach seinem Tod führten seine Söhne Theodor und Ludwig die Arbeit fort. Um 1900 war das Gebiet des „Syrischen Waisenhauses“ fast so groß wie das bebaute Stadtgebiet von Jerusalem. Nach dem Ersten Weltkrieg stand das Syrische Waisenhaus bis 1923 unter amerikanischer Leitung. In den 30er Jahren begannen Juden in Reaktion auf den Boykott jüdischer Geschäfte in Deutschland die Produkte des Waisenhauses zu boykottieren. Die Beschlagnehme des Geländes durch die britische Verwaltung im Jahre 1940 bedeutete das Endes des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem. Die Söhne Theodor Schnellers konnten nach 1951 die Arbeit im jordanischen Amman und in der libaneischen Bekaa-Ebene fortsetzen.

Während der israelischen Bombardierung des Libanons im Sommer 2006 fanden viele Familien hier Schutz und Aufnahme. Heute erhalten mehr als 250 Jungen und Mädchen eine Chance auf gute Schulbildung bis zur 10. Klasse und eine Handwerksausbildung. Nach kurzer Weiterfahrt erreichen wir das Naturreservat Cedars of ech Chouf – ein Naturresrevat mit mehren hundert bis zu 3000 Jahre alten Zedern. Auf einer kurzen Wanderung sehen wir diesen atemberaubend schönen uralten Bäume. König Salomon hat von hier die Zedern für den Tempel in Jerusalem geholt. Die Ägypter für ihren Schiffbau. Genauso wie später die Griechen und Römer. Bis es am Ende fast keine Bäume mehr geb. Heute versucht man die Zedern wieder aufzuforsten. Das ist mühsam, denn eine Zeder braucht 60 Jahre, um einen halben Meter hoch zu wachsen… Auf der Rückfahrt halten wir in Beit ed Dine. Hier steht ein Palast, den sich der Drusen-Emir Beschir II. Dschihab Mitte des 19. Jahrhunderts von italienischen Architekten bauen ließ. Der Emir hatte nur wenige Jahre, um sich hier am Luxus, an schönen Frauen und herrlicher Landschaft zu erfreuen. Die Engländer – in Absprache mit den Türken – zwangen den guten Mann nach Malta ins Exil zu gehen. Vermutlich ist es ihm dort aber auch nicht so schlecht gegangen.

Drusen. Die Religionsgemeinschaft der Drusen ist aus der ismaelitischen Schia hervorgegangen. Sie wurde um das Jahr 1000 von dem ägyptischen Sultan al-HakimBiamrillah gegründet, der vermutlich ermordet wurde. Nach der Glaubensüberzeugung der Drusen ist er jedoch in die „Ära der Verhüllung“ entrückt worden. An seinem tausendsten Tag des Verschwindens soll er jedoch wiederkommen und über ein goldenes Zeitalter herrschen. Die Zeit bis dahin ist für seine Anhänger eine Zeit der Prüfung. Der Name Druse geht vermutlich zurück auf den schiitischen Gelehrten Mohammed-al Darazi, der ein für die Drusen grundlegendes theologisch-philosophisches Werk schuf. Daraza ist das arabaische Wort für Studieren. Druse heißt demnach: „Anhänger des Darazi“ oder „Studium der heiligen Bücher“. Der Glaube der Drusen beruht auf der Ismael-Tradition innerhalb des Islam. Weil diese Glaubensrichtung in Ägypten verfolgt wurde, breitete sich der Glaube statt dessen im Libanon aus.

Für die Drusen ist Mohammed nicht der eigentliche Prophet und der Koran nicht die verbindliche Offenbarung. Vielmehr spielt der Glaube an die Seelenwanderung eine entscheidende Rolle. Die Seele strebt nach vollkommener Erkenntnis und Wahrheit und wandert solange von einem menschlichen (!) Körper zum anderen bis sie ihr Ziel erreicht und sich mit dem Religionsstifter Imam al-Hakim vereinigt hat. Die sieben heiligen Bücher der Drusen erläutern dies ausführlich. Sie dürfen jedoch nur von „Eingeweihten“ (Uqqal) gelesen werden. Sie sind die Hüter der letzten Geheimnisse und des Wissens. Auch Frauen können Uqqal sein. Zu den Grundüberzeugungen des Glaubens gehören Verschwiegenheit, Verantwortungsbewusstsein und Treue. Druse kann man nur durch Geburt werden. Weder findet eine Missionstätigkeit statt noch ist ein Übertritt zu diesem Glauben möglich. Vom offiziellen Islam werden sie als Abtrünnige angesehen und oft verfolgt.

Im Libanon haben sich die Drusen in die abgelegenen Gebirgsregionen des Chouf zurückgezogen. In Israel auf den Karmel. Im Libanon leben etwa eine halbe Million Drusen. Am Anfang des 16. Jahrhunderts entstand im Libanon ein Drusen-Emirat, das fast zweihundert Jahre bestanden hat. Traditionell sind die Drusen vollkommen loyal gegenüber den jeweils Herrschenden oder sie ziehen sich zurück und rstellen sich auf massive Verteidigungsbereitschaft ein.

Die jahrhunderte-lange freundschaftliche Beziehung zu den maronitischen Christen im Libanon schlug um in erbitterte Feindschaft, als die Drusen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Dienst der Hohen Pforte (osmanischer Regierungssitz) gegen die christlichen Maroniten vorgingen. Dabei kam es zu Massakern, die ganze Dörfer auslöschten. (Dies wiederum war dann ein willkommener Vorwand für Franzosen und Engländer in das Geschehen einzugreifen). Das einzige Land, in dem die Drusen eine größere Rolle spielen ist der Libanon. Hier sind sie die fünft-grösste Religionsgemeinschaft. Ihr Zentrum ist das Choufgebirge. Im libanesischen Bürgerkrieg verfügte die drusische Minderheit und ihre progressiv-sozialistische Partei über eine schlagkräftige Miliz. Entsprechend der Verfassung haben die Drusen im Libanon das Recht auf Selbstverwaltung und eigene Gerichtsbarkeit. In Israel sind sie voll integriert in den Staat. Sie sind akzeptierte und geschätzte Staatsbürger und dienen in der Armee ebenso wie im Geheimdienst. Die syrischen Drusen auf dem Golan sind überzeugte Anhänger des Alewiten Assad. Als Minderheit fühlen sie sich von ihm geschützt, weil er elbst einer Minderheit – der Alewiten – angehört.

Vor dem letzten Tag der Nahostkonferenz verabschieden wir uns von den Teilnehmenden, da jetzt nur noch konferenz-interne Dinge besprochen werden. Statt dessen besuchen Karin und ich Sidon/ Saida und Tyros/ Sour. Für diesen Ausflug nehmen wir uns ein Taxi. Das klingt ein bisschen neureich, ist im Libanon aber durchaus üblich und – im Vergleich zu deutschen Taxitarifen – günstig. Wir vereinbaren, wie üblich einen Festpreis. Es scheint gar nicht so einfach zu sein, mit einem der öffentlichen Busse von einem Ort zu einem anderen Ort zu fahren , weil die Abfahrtszeiten und -orte und die Verbindungen in der Regel nicht angezeigt sind. Wenn man dies alles nicht kennt, muß man sich erst mühsam durchfragen. Wir fanden die Möglichkeit, mit dem Taxi durchs Land zu fahren jedenfalls ziemlich komfortbabel.

Von unserem Tagungshaus ist Sidon – oder Saida, wie es im Arabischen heißt, nur ein Katzensprung entfernt.. Wir sind in zehn Minuten am Meer und sehen schon bald die (ursprünglich )von den Kreuzfahrern 1228 erbaute Seefestung Qualaát al Bahr, die dem Hafen vorgelegt war und ihn schützen sollte. Die Festung ist über einen künstlich aufgeschütteten Damm zu erreichen. Schon sechzig Jahre später wird die Festung von den Mameluken eingenommen. Sidon ist jedoch als Stadtgründung viel älter als die Kreuzritterburg. Die vermutlich phönizische Gründung erlebte im 6. – 4. Jahrhundert v.Chr.unter den Persern (333 v.Chr.: Alexander der Große!) ihre goldene Zeit. Sidon war immer eine offene Handelsstadt mit vielen kulturellen Einflüssen. Unter römischer Herrschaft entwickelte sich Sidon zur Hochburg des Mithras-Kultes, der in Persien die Sonne als Gottheit verehrt. Im 3. und 4. Jhd. n.Chr. Ist der Mithraskult im Römischen Reich verbreitet. Eine Mysterienreligion, von der es bewußt keine genaue Überlieferung gibt und vom sich ausbreitenden Christentum verdrängt wird.

In den Suqs der Altstadt taucht man ein in morgenländische Atmosphäre. Nach der Eroberung der Stadt erbauten die Mameluken die Omari-Moschee auf den Mauern einer Kreuzritter-Kirche. An einigen Innengewölben der Moschee ist dies noch gut zu erkennen. Hier in der Omari-Moschee kommt es zu einer bemerkenswerten Begegnung mit zwei jungen Studentinnen, die in Sidon aufgewachsen sind und hier studieren. Sie erklären uns die Bedeutung der einzelnen sakralen Gegenstände in der Moschee und stellen mich in der Moschee einem jungen Mann vor, der gerade sein Gebet beendet hat. Auf meine Bitte hin erklärt er sich bereit, mit mir zu beten.

Das wollte ich schon seit langer Zeit. Ich stelle mich also neben ihn, übernehme seine Gebetsbewegungen und murmel seine arabisch gesprochenen Worte mit. Ich bin ziemlich beeindruckt und habe am Ende etwas davon gespürt, dass dieses Gebet durch seine fortgesetzte Wiederholung verbunden mit körperlicher ritueller Bewegung etwas sehr Meditatives hat. Die beiden Studentinnen zeigen uns auch das „Handelshaus der Franzosen“ – den Khan al Franji. Unten im weitläufigen Innenhof wurden Pferde und Waren untergebracht und in den oberen Räumen lagen Büros und Wohnräume. Ursprünglich war der Bau als Harem konzipiert.Statt für die erotische Variante entscheid sich der damaligen Emir jedoch für die kapitalistische Form der Geldvermehrung durch Handelsbeziehungen mit Europa. Fragt sich nur, wovon er mehr gehabt hat.

Das heutige Tyros heißt auf arabisch Sour (Felsen). Die Altstadt liegt auf einer weithin sichtbaren Landzunge. Schon im 2. Jahrhundert vor Christus spielte Tyros eine führende Rolle im Mittelmeerhandel. Herodot weiß zu berichten, dass die Königstochter Europa aus den Mauern von Tyros geraubt und nach Kreta verschleppt worden sein soll. Um 800 v.Chr.gründeten Seefahrer aus Tyros die Stadt Karthago im heutigen Tunesien, deren Anführer Hannibal den Römern dann ziemlich viel Ärger machte. Andere Quellen berichten, dass Seefahrer aus Tyros den afrikanischen Kontinent umsegelt haben sollen. Sie brauchten dafür drei Jahre. Das wäre keine schlechte Leistung. Fragt sich nur, was sie bei ihren Landgängen erlebt haben…Das römische Tyros muss beeindruckend gewesen sein – und ist es noch heute. Hinter dem Ehrenbogen für Kaiser Hadrian reihen sich mehrere Sarkophage aneinander, die zum Teil mit Reliefs geschmückt sind. Sie stellen mythologische Themen dar, geflügelte Liebesgötter, Löwen und Greifvögel. Das Hippodrom fasste 20 000 Zuschauer für die Wagenrennen!

Nach der Besichtigung von Tyros fahren wir noch etwa fünfzehn Kilometer weiter nach Süden in die Berge zum Dorf Qana – den letzten Ort, den man ohne Probleme bis zur nahen Grenze zu Israel erreichen kann. Manche behaupten Qana sei der Ort, wo Jesus sein erstes Wunder getan hat. Er bewahrte einen Bräutigam vor der öffentlichen Beschämung, bei seiner Hochzeitsfeier keinen Wein mehr für seine Hochzeitsgäste zu haben. (Meine äthiopischen Freunde, die dem Wein nichts abgewinnen können, überschlagen dieses wunderbare Geschehen regelmäßig und beginnen die Aufzählung der biblischen Wunder weiter hinten in der Bibel). In jedem Fall ist Qana ein zauberhafter Ort. Man hat von hier einen weiten Blick über das Land. Und es ist so wunderbar ruhig an diesem Ort. In weiter Ferne ist eine Ziegenherde zu sehen. Von fern dringen die Rufe der Hirten her zu uns. Die Ziegen bewegen sich wie kleine schwarze Punkte am felsigen Hang.

Von Mitte der 1970er Jahre bis 1990 erlebte Libanon den ersten Bürgerkrieg. Es gibt dafür verschiedene Ursachen: Nach ihrer Vertreibung aus Jordanien hatte die Palästinische Befreiungsorganisation (PLO) unter Arafat ihr Hauptquartier im Libanon aufgerichtet. Wie zuvor schon in Jordanien wurde dadurch das labile Gleichgewicht der unterschiedlichen religiösen und ethnischen Parteien im Libanon erheblich gestört.Im Jahr 1975 kommt es zu offenen Gefechten zwischen der christlich-maronitischen Phalange-Miliz und muslimisch-libanesischen Milizen, die von der PLO unterstützt werden. Es kommt zu mehreren Anschlägen. Wenig später marschierten syrische Soldaten im Libanon ein. Sie greifen in die Kampfhandlungen zunächst auf Seiten der maronitischen Phalangisten ein. Nach weiteren Anschlägen der PLO in Israel besetzt die israelische Armee den südlichen Libanon bis zum Litani-Fluß. Dabei werden mehrere Tausend Menschen (überwiegend Zivilisten) getötet. Viele Bewohner werden vertrieben. Die israelische Armee zwingt schließlich die PLO zum vollständigen Rückzug. Die PLO verlegt daraufhin ihr Hauptquartier nach Tunesien. Am Ende marschieren syrische Soldaten in den Libanon ein, die zunächst jedenfalls auf der (christlich)maronitischen Seite zu kämpfen. Israel fordert, die iranische Hisbolla-Miliz im Südlibanon zu entwaffnen – was jedoch bis heute nicht geschehen ist. Am Ende dieses erfüllten Tages fahren wir mit unserem Taxi zurück in unser Hotel nach Beirut, wo wir vor Beginn der Nahostkonferenz angekommen waren.

Beirut. Während meines Studiums begegnete ich einem Angehörigen der Deutschen Botschaft in Beirut. Ich erinnere mich gut, wie sie vom Libanon als der „Schweiz des Orient“ schwärmte: diesem wunderbaren und faszinierenden kleinen Land, wo europäische und arabische Geschichte und Kultur sich friedlich begegnen und verschiedene christliche Religionen und islamische Glaubensrichtungen in gegenseitigem Respekt miteinander auskommen. Ein Land, das in mehr als 5000 Jahren seiner Geschichte viele Machthaber, Religionen, Kulturen erlebt hat. Sieger und Besiegte. Und am Ende habe doch immer der Wille nach weltweitem Handel und die Bereitschaft zur Toleranz gegenüber allem Anderen und Fremden überwogen. Und ich erinnere mich, wie fasziniert sie von der Hauptstadt des Libanon, von Beirut war – dieser sehr christlich geprägten Stadt, in der man sich mit französisch gut verständigen konnte. Drei Jahre nach unserer Begegnung bricht der erste Bürgerkrieg im Libanon aus. Zwischen der (christlich)maronitischen Phalange-Miliz und palästinensichen sowie libanesisch-muslimischen Milizen. Nach einem Anschlag auf eine Kirche massakrierten die Phalange-Milizen die palästinensichen Insassen eines Busses, der auf dem Rückweg in ein Flüchtlingslager war.

Seit mehr als 40 Jahren herrscht im Libanon Krieg und der Friede, den es es seit wenigen Jahren gibt oder zu geben scheint, ist zerbrechlich. Der Libanon ist – vielleicht schon immer in seiner Geschichte – auch ein Spielball benachbarter Mächte gewesen. Heute sind es Syrien und der Iran, Israel, Saudi Arabien und die Golfstaaten, auch Russland und die USA . (Zwischen Israel und Libanon existiert seit der Vertreibung der palästinensichen Araber aus dem damals neu gegründeten Staat Israel kein Friedensvertrag). Im Sommer 2006 beginnt der sogenannte „Zweite Libanonkrieg“. Die schiitische, vom Iran und Syrien unterstützte Hisbolla-Miliz greift den Norden Israels mit Raketen an. Israel antwortet mit Luft- und Artellerie-Angriffen und schließlich mit einer groß angelegten Boden-Offensive, die zu schweren Zerstörungen im Süden des Libanon und im südlichen Stadtteil von Beirut führt. Ein Jahr später neuer Bürgerkrieg in dem es darum geht, den angewachsenen Einfluss der Hisbollah und Syriens zurückzudrängen. Dies gelingt auch – jedenfalls zum Teil.

Inzwischen ist Syrien – und dies schon seit Jahren – in einen Krieg im eigenen Land verwickelt. Über die offene Grenze haben zwei Millionen Menschen aus Syrien Zuflucht im Libanon gefunden. Die Altstadt von Beirut, die einmal das Herz der Stadt war, ist den Bomben und Artellerien-Beschüssen zum Opfer gefallen. Das neu aufgebaute Downtown-Viertel wirkt großartig und luxuriös – aber steril. Es gibt eine Reihe von modernen Geschäften, die internationale Markennamen vertreten. Auch Kaufhäuser, die sich nicht von Kaufhäusern in Deutschland unterscheiden. Die alte maronitische Georgs-Kathedrale ist erhalten geblieben und der Uhren-Turm auf dem Place de l´Étoile. In unmittelbarer Nähe befindet sich der große Komplex der neuen Mohammed-al-Amin-Moschee, die vom sunnitischen Ministerpräsidenten Hariri gesponsert wurde. Er fiel 2005 einem politischen Attentat zum Opfer.

Ganz in der Nähe liegt auch der Grand Serail, das Parlamentsgebäude. Vom alten nicht zerstörten Beirut zeugen nur noch wenige Strassen in downtown. Die alten Häuser, die stehen geblieben sind und von einer vergangen Zeit zeugen, muten beschaulicher und irgendwie menschlicher an, als die gleich daneben erbauten Hochhausklötze mit ihrem kalten Protz. In der wieder aufgebauten downtown wird alter und neuer Reichtum zur Schau gestellt. Aber die Bewohner der Stadt halten sich bis jetzt weitgehend fern aus diesem Stadtteil. Das Leben spielt vielmehr im westlichen Stadtteil Hamra mit seinen vielen Läden, Geschäften, Restaurants, Cafés, Banken und Hotels. Die Hamrastreet ist die HauptgeschäftsSstrasse in Beirut. Sie grenzt an das reiche Mara-Viertel rundum den Alten Leuchtturm an.

Hier befindet sich die American Univeristy of Beirut (AUB) , das Amerikanische Krankenhaus –und die Near East School of Theology liegen (NEST). Die NEST macht sich stark für gelebte Ökumene der christlichen Kirchen im Libanon und für den christlich-muslimischen Dialog in einem multireligiösen Land. Sie sieht ihre Wurzeln in den westlich-protestantischen Prinzipien – wie christliche Freiheit und Verantwortlichkeit der einzelnen Person – , aber sie hat auch den Anspruch, ein eigenes, spezifisch libanesisches Profil zu entwickeln. In einer Region, in der die Zukunft des christlichen Glaubens immer ungewisser erscheint, geht es immer deutlicher um die Legitimierung der Präsenz des Protestantismus im Nahen Osten. Einen stimmungsvollen Sonnenuntergang über dem Meer kann man am besten an der Uferpromenade der Corniche erleben. Die Taubengrotte – ein Tor in einem aus dem Meer ragenden Felsen und die daneben befindliche Felsnadel gehören zu den Wahrzeichen der Stadt.  Wir haben es genossen, abends in einem traditionell libanesichen Lokal die Shisha (Wasserpfeife) zu rauchen und gemütlich den Tag ausklingen zu lassen.

Byblos, Tripoli und das Heilige Tal

Am nächsten Tag machen Karin und ich einen Ausflug nach Byblos, Tripoli und zum Heiigen Tal (Wadi Qadisha). Nachdem wir die östlichen Stadtbezirke Beiruts hinter uns gelassen haben, sind wir in eine Gegend gekommen, die von den Beiruter gern zur Naherholung aufgesucht wird. Die Dörfer hier liegen etwa 700 m hoch, es gibt viele reiche Villen, deren Besitzer reiche Beiruter sind oder aus den Golfstaaten kommen. Es gibt schöne Ausblicke bis zum Meer. Bei Nahr el Kelb fließt ein kleiner Gebirgsfluß ins Meer, der dem Ort und dem Tal den Namen gab. Hier, unmittelbar an der Strasse finden sich in die Felsen gehauene, jedoch sehr verwitterte Reliefs und Inschriften ägyptischer, assyrischer und babylonischer Invasoren, die hier durchkamen. Briten und Franzosen haben der Versuchung nicht wiederstehen können, sich ebenfalls als Invasoren hier ebenfalls im Felsen zu verewigen.

Byblos (arab. Jbail) ist eine Perle an der libanesischen Küste. Der idyllische kleine Hafen, die vielen kleinen Gärten und gut erhaltenen Häuser neben den Relikten längst vergangener Kulturen – alles das wirkt einladend. Byblos war von altersher ein bedeutender Handelsplatz. Für die Region zwischen Euphrat und Tigris war Byblos als Hafen von großer Bedeutung. Der Seehandel mit Ägypten basierte vor allem auf der Ausfuhr von Zedernholz. Assyrer und Perser lösten sich in der Herrschaft ab. Byblos war der Haupthandelsplatz für ägyptisches Papyrus. Die Griechen unter Alexander dem Großen nannten es ´byblos´ und gaben so der Stadt ihren Namen – und der Bibel. Baalat, die Herrin von Byblos zierte die städtischen Münzen, die auch als Isis mit Sonnenscheibe zwischen Kuhhörnern als Krone dargestellt wird. Pompejus leitete um 60 v.Chr. Die römische Phase der Stadtgeschichte ein. Ein paar hundert Jahre später folgten die byzantinischen Kaiser, die Omaijaden-Kalifen und die Kreuzritter, die um 1100 mir Hilfe der genuesischen Flotte die Stadt einnahmen. Zweihundert Jahre später wurden sie endgültig von den Mameluken vertrieben.

Kurz vor Tripoli zweigt eine kleine Strasse nach Osten ab, die zur Kreuzritterburg Belmont und wieder zurück zur Küste führt. Die Aussicht vom heute griechisch-orthodoxen Kloster auf die umliegenden Olivenhaine ist ganz wunderbar. Ein junger Mann führt uns durch die ehemalige Festung und heutige Klosteranlage. Er erzählt, dass hier nur noch drei Mönche leben. Er zeigt auf das alte Mauerwerk der fränkischen Festung und auf einen rostigen Nagel in der Mauer, der die Stelle bezeichnet, wo vor 1000 Jahren eine Sonnenuhr zu den Stundengebeten rief. Auf Betreiben von Bernhard von Clairvaux waren Zisterziensermönche im Tross des zweiten Kreuzzuges hierher gekommen.

Tripoli (arab. Trablous) war zur Zeit der Kreuzfahrer wichtigster Exporthafen für Seide, Papier und Glas. Nach 1516 – also zur Zeit der lutherischen Reformation in Deutschland! – herrschten hier die türkischen Osmanen, die den Hafen noch weiter ausbauten. Bei der Anfahrt auf Tripoli sieht man von weitem schon die großen Raffinerieanlagen. Vor dem Bürgerkrieg wurde über eine Pipeline irakisches Erdöl in den Hafen gepumpt. Unser Taxifahrer riet uns ab, nach Tripoli reinzufahren. Es sei hier immer noch nicht sicher für Touristen. Er hatte aber offenbar vor allem Angst um sich selbst. In der Tat hatte es hier noch vor zwei Jahren heftige Kämpfe zwischen der libanesischen Armee und syrisch-alewitischen Milizen gegeben. Die syrischen Alewiten haben großen Einfluss auf den Norden Libanons. (So wie die iranische Hisbollah im Süden des Landes). Lag es daran, dass sich die Angst unseres Fahrers auf uns übertragen hatte oder am einsetzenden Dauerregen: irgendwie war uns mulmig zumute.

Die Stadt macht von den südlichen Außenbezirken kommend einen grauen und tristen Eindruck auf mich. Wir bitten unseren Fahrer, uns in der Nähe der Großen Moschee abzusetzen und auf uns zu warten. Wir befinden uns mitten in den Suqs der Altstadt. Um uns zerstörte und verfallene Gebäude. Elekrische Leitungen, die wirr aus den Mauern ragten. Regen, Regen, Regen. Es ist Sonntag. So gut wie kein Verkehr in den Strassen. Ich fragte mich: warum eigentlich nicht? Ist nicht der Freitag der religöse Feiertag? Nach wenigen Schritten gelangen wir zur Großen Moschee. Ihr heutiges Minarett war einmal der Glockenturm der Marien-Kathedrale, die hier Ende des 13. Jahrhunderts stand. Am Platz nördlich der Moschee liegt die Medrese Al Ilmiya (Haus des Wissens). Es ist die Bezeichnung für die berühmte Bibliothek von Tripoli aus dem 11. Jahrhundert. Bei der Eroberung der Stadt durch die Kreuzritter verbrannten ihre über einhunderttausend Bände.

Wir gehen durch das Gassengewirr des Suq. Fast alle Läden sind geschlossen. Die Rolläden heruntergelassen. Nur einige Juweliergeschäfte haben geöffnet. Plötzlich stehen wir vor einem Hinweisschild auf eines der drei alten Bäder aus dem 14. Jahrhundert. In der schmalen Gasse davor sind Wäscheleinen gespannt, an denen grosse Handtücher trocknen. Das Hammam an Nuri wird gerade geschlossen als wir vor der Tür stehen. Ich frage, ob wir doch noch einen schnellen Blick hinein werfen dürfen. Wir werden beide herzlich willkommen geheissen, den großen Vorraum zu betreten. Mein erster Eindruck vom Raum ist: eine sehr gemütliche, warme und schöne Atmosphäre. Dazu tragen auch die freundlichen Bediensteten bei. Es ist eine andere Welt hier als draußen. Alles scheint in großer Ruhe und Gelassenheit vonstatten zu gehen. Wenn das Hamam nicht gerade schließen würde: ich hätte große Lust, den halben Tag hier zu verbingen. In aller Ruhe. Unter Männern, versteht sich.

Als wir wieder im Gassengewirr des Suq stehen, haben wir die Orientierung verloren. Wo wartet unser Taxifahrer auf uns? Wir haben vergessen, uns seine Handynummer geben zu lassen. Alles sieht irgendwie gleich aus. Schließlich sind wir raus aus dem Suq. Vor uns eine größere Geschäftsstrasse. Mehrere Militärfahrzeug stehen am Rand der Strasse. Soldaten mit umgehängten Maschinengewehren. Ich frage einen von ihnen nach dem Weg zur Großen Moschee. Von dort ist es nicht weit bis zum verabredeten Ort mit unserem Fahrer. Er hört freundlich zu, versteht auch mein Englisch, weiß aber offenbar selbst nicht, wo er hingeraten ist. Ich mache ein paar Fotos von den zerschossenen Häusern und der Kuppel einer Moschee. Sofort kommt ein Offizier auf mich zu. Er will die Fotos sehen, die ich gerade gemacht habe. Fragt, ob ich militärische Objekte fotographiert habe. Nein habe ich nicht. Nur die vom Militär zerschossenen Häuser. Das ist okay für ihn. Der Regen, die angespannte Situation mit den Soldaten und nicht zu wissen, wie wir zum verabredeten Ort zurückfinden lässt ein kleines Panikgefühl in mir aufsteigen. Karin fragt eine junge Frau nach der Großen Moschee. Sie kennt den Weg. Führt uns schnellen Schrittes wieder durch das Gassen-Gewirr und plötzlich stehen wir geradewegs vor unserem Taxi.  Auf einer kleinen Mauer sitzen ein paar Jugendliche, die uns kommen sehen und offensichtlich Sprüche über uns machen. Ich gehe auf sie zu und plaudere ein bisschen mit ihnen. . Nachdem wir so miteinander ins Gespräch gekommen sind, wollen sie gern, dass ich von jedem von ihnen ein Portrait mache und außerdem ein Gruppenbild – gemeinsam mit mir. Sie helfen mir auf die Mauer, plazieren mich zwischen sie und machen von uns allen ein Foto. Ich sehe auf dem Foto nicht glücklich aus. Eher wie ein alter Sack zwischen vergnügten, energiegeladenen jungen Männern… Ich gebe zu, dass ich irgendwie froh bin, als wir Tripoli ohne weitergehende militärischen Operationen wieder verlassen.

Jetzt also ins Heilige Tal der maronitischen Christen– das Wadi Qadisha.  Der Regen hat nachgelassen. Die Sonne ist wieder herausgekommen. Die tiefe, breite Schlucht des Wadi Qadisha ist von Terrassenfeldern umrahmt. Zwischen denen Dörfer, Klöster und Kirchen eingestreut sind. Dahinter die schneebedeckten Berge des Libanongebirges. Wegen der frühchristlichen Klöster und der bis zu 5000 Jahre alten Zedern erklärte die UNESCO das Tal zum Welterbe. Wir fahren bis zum Städtchen Bscharré, dem Zentrum der Region. Hier ist Khalil Gibran geboren (1883 – 1931). Dem berühmtesten Dichter des Libanon ist hier ein Museum gewidmet, das wir besuchen. Hier sind seine Bücher und einige private Alltagsgegenstände von ihm ausgestellt. .An den Wänden ringsum hängen von Khalil Gibran selbst gemalte Bilder. Vor allem Motive mit nackten Frauen. Mich erinnern die Bilder an Klimt und Munch. Ich frage mich: Wie passen diese Bilder wohl in diese Gesellschaft? Natürlich sind auch seine

Ganz unterhalb von Bscharré liegt das Kloster Deir Quannubine. Es beherbert die Grabmäler maronitischer Patriarchen. Dazu passen die Worte von Khalil Gibran: „Ich schaue auf die Stadt , den Sitz der reichen, ich schaue auf die Friedhöfe, einen Ort der reichen , wo aber verweilen die Armen? Intuition sagt mir: im Himmel.“ Oberhalb von Bscharré stehen im Horsh Arz el-Rab in 2000 m Höhe die ältesten Zedern des Libanon. Die Maroniten nennen sie Zedern Gottes. Früher war der ganze Libanon bewaldet. Jetzt bemüht man sich um Wiederaufforstung. Der Park mit den Zedern hat nach der Winterpause gerade einen Tag vor unserer Ankunft wieder geöffnet. Glück gehabt! Denn es lohnt sich, den schmalen matschigen Pfad durch den kleinen Park zu gehen und die alten Bäume mitten in den vom Winter zurück gebliebenen Schneeflächen zu betrachten. Ich denke an Psalm 139: „Herr Gott, wie wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war…. Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz… und leite mich auf ewigem Wege.“ Wir fahren zurück in unser Hotel nach Beirut. Was für ein Tag! So randvoll mit Erlebnissen gefüllt.

Am nächsten Tag, dem Tag unserer Abreise nach Deutschland machen wir einen Ausflug nach Baalbek. Hassan, unser Fahrer ist guter Stimmung. Er kommt aus einem Dorf in der Nähe von Baalbek und freut sich, uns seine nähere Heimat zu zeigen. Baalbek. Von Beirut sind es zweieinhalb Stunden bis Baalbek. Wir fahren durch die weite und fruchtbare Bekaa-Hochebene, die zwischen Libanon- und Anti- Libanon ausgebreitet ist. Das Wasser der Flüsse aus beiden Gebirgen führt fruchtbares Schwemmland mit sich auf dem Gemüse und Weizen ebenso wie hervorragender Wein gedeihen. In der Beeka-Ebene gibt es mehrere Flüchtlingslager für syrische Flüchtlinge. Vor dem Staädchen Zahlé und auch vor Baalbek. Schon außerhalb von Tyros kamen wir an einem Flüchtlingslager vorbei, das ich besuchen wollte. Aber man sagte uns, dies sei verboten. Und Fotos von außen seien auch nicht erlaubt. Ich habe vermutet, dass es ein von der Hisbollah unterhaltenes oder kontrolliertes Flüchtlingslager war.

Als wir kurz vor Baalbek sind, kommen wir wieder an einem großen Flüchtlingslager vorbei. Es liegt direkt an der Fernstraße. Ich mache einen neuen Versuch, das Lager zu besuchen. Dieses Mal ist alles ganz unproblematisch. In der Berichterstattung im Fernsehen habe ich natürlich viele ähnliche Flüchtlingslager gesehen. Aber ich will mir gerne selbst einen Eindruck verschaffen. Ich sehe viele große Familienzelte, die entlang den schmalen Lagergassen aufgestellt sind. UNHCR lese ich auf einer Zeltplane. Eine Schar von Kindern umgibt mich. Vor einem der großen Zelte mache ich mich bemerkbar. Ob ich hereinkommen dürfe. Eine junge Frau mit Kleinkind auf dem Arm kommt heraus – und zieht sich gleich wieder zurück. Eine alte Frau begrüßt mich und bittet mich herein. Ich ziehe die Schuhe aus. Sie zeigt mir den abgetrennten Küchenraum. Hinter einer anderen Zeltwand ,ein abgetrennter Waschraum, in dem Wäsche auf der Leine hängt. Zu meiner Überraschung sehe ich eine Waschmaschine, die läuft. Ich hatte keine Vorstellung davon, dass es in den Lagern Strom gibt. In einem anderen Raum sitzen Kinder um einen Ofen, der in der Mitte steht. Ich frage, ob ich Fotos machen darf. Natürlich keine Fotos von den Frauen. Die Kinder führen mich durch das Lager. Sie laufen vorweg und kündigen mich lautstark an. Ich betrete mehrere Familienzelte. Mein Arbeitszimmer zu Hause sieht nicht so aufgeräumt aus wie diese Zeltwohnungen. Draußen auf den Lagerstrassen sehe ich wenig Abfall. Es gibt überall Wasseranschlüsse. Ein Junge trinkt vom fließenden Wasser aus einem Gartenschlauch. Jetzt sehe ich auch einige Männer. Ich gehe auf sie zu, sage, dass ich aus Deutschland komme und gerne dieses Flüchtlingslager besuchen möchte. Sie reagieren sehr freundlich. Einer von ihnen führt mich in einen kleinen Lebensmittelladen. Ebenfalls in einem Zelt untergebracht. In meiner Vorstellung hat ein Flüchtlingslager viel chaotischer und heruntergekommen ausgesehen. Jetzt habe ich einen völlig anderen Eindruck.

Viele Libanesen gehen auf Distanz zu den syrischen Flüchtlingen in den Lagern. Sie verstehen nicht, dass die Flüchtlinge – wenn sie denn offiziell registriert sind – Finanzhilfen bekommen, obwohl sie nichts arbeiten. Ich frage mich, wie es den Jugendlichen im Lager gehen mag. Welche Träume haben sie? Welche realistische Perspektive? Ich verlasse das Flüchtlingslager mit neuen, eigenen Eindrücken. Darüber bin ich froh.

Der Ort Baalbek ist nichts weiter als ein kleines Landstädchen. Aber das Weltkulturerbe Baalbek ist einfach: Wow!!! Mit dem Bau der beindruckenden und zum Teil hervorragend erhaltenen Tempelanlagen wurde unter dem bekannten Kaiser Augustus begonnen. Unter Kaiser Nero (54 – 68 n.Chr.) wurde der Sonnengott-tempel in Baalbek vorangetrieben, da Nero sich mit Apollon, dem römischen Sonnengott und Schutzpatron der Musen gleichsetzte. Aber erst einhundert Jahre später unter Kaiser Septimus Severus gewann Syrien für das Römische Reich wieder an Bedeutung, weil dessen Frau die Tochter des Baal-Oberpriesters war. Sie nahm als Entourage eine große Anzahl von Frauen mit nach Rom. Zur Zeit ihres Sohnes Kaiser Caracalla war sie die graue Eminenz, die die Politik bestimmte. Sie war es auch, die maßgeblich den Ausbau des Tempelbezirks von Baalbek betrieb.

Mit den christlichen Kaisern Konstantin (306-337) und Theodosius (379-395) ging dann die Ära der Jupiter-Helios-Verehrung zu Ende und christliche Basiliken wurden im Tempelbezirk errichtet. Auf Römer und Byzantiner folgten ab Mitte des 7. Jahrhunderts die Omajiden-Kalifen. Kurzfristig besetzten die Kreuzritter Balbek bis ein Mameluken-Sultan den Tempelbezirk zur Festung ausbaute und das Erdbeben von 1759 weite Teile des Tempelbezirks zerstörte. Vor dem Häuschen für die Eintrittskarten stehen Kamele und Pferde für die – allerdings nur wenigen – Touristen bereit, um die Tempelanlage zu umrunden. Wir betreten den Tempelbezirk über die mächtige Freitreppe der Propyläen: Zwölf Säulen aus ägyptischem Rosengranit wurden hierher geschafft, um die vergoldeten korinthischen Bronzekapitelle und das Giebeldach zu tragen. Inschriften weisen darauf hin, dass hier die Götter Jupiter, Venus und Merkur verehrt wurden. Wir gehen durch das große Portal in den sechseckigen Vorhof. Wie bei den Propyläen finden sich kunstvolle Reliefs mit Pflanzen- und geometrischen Motiven. In den Nebenräumen wurden die Pilger auf den Besuch der Tempel vorbereitet. Durch drei Türen schritten sie dann in den riesigen Zeremonial- und Opferhof.

Die Ränder der zwei Wasserbecken im Zeremonialhof sind mit Reliefs verziert: Neben Tieren und Blumen sind Genien, Nymphen , Faune, Sirenen, kleine Liebesgötter und die Geburt der Venus dargestellt. Vom größten Tempel des Römischen Reiches, dem gewaltigen Jupitertempel stehen nur noch sechs gigantische Säulen. Von der Cella – dem Allerheiligsten und dem Götterbild des Jupiter ist nichts mehr übrig. Alles zerstört durch das Erdbeben. Faszinierend die Ornamente an den herabgestürzten Dachgebälk- und Giebelstücken, vor allem die Löwenköpfe.

Wir gehen den Burgweg hinauf zum „Tempel des Bacchus“, der jedoch vermutlich eher der Liebesgöttin Venus geweiht war. Er ist außergewöhnlich gut erhalten. Beim Anblick dieses Tempels muß man sich den (zerstörten) Jupitertempel vorstellen, dessen Äußeres vermutlich ähnlich aussah, der aber dreimal so groß war. Die hohen Säulen der Säulenhalle sind gut erhalten. Ebenso der riesige Torbogen, an dessen Unterseite das gut erhaltene Relief eines Adlers zu sehen ist, der das Blitzbündel des Jupiter und den Stab des Merkur umkrallt. Der Gesamteindruck dieser Tempelanlage ist atemberaubend. Was für ein Höhepunkt unserer Reise durch den Libanon! Aber Hassan, unser Fahrer möchte uns unbedingt noch die Ruinen von Aanjar zeigen, die nur wenige Kilometer entfernt sind.

Aanjar gehört ebenfalls zum UNESCO-Kulturerbe – etwa dreihundert Jahre später als die Tempelanlage von Baalbek erbaut. Wahrscheinlich für den omaijadischen Kalifen Al Walid I. (705- 714). Ein Lutschloß. Eine Sommeresidenz. Aber was für eine! Zwei große Kolonnadenstrassen teilen das Areal in vier gleiche Teile. Das zentrale Tetrapylon mit seinen 16 Säulen ist dem Tetrapylon von Palmyra nachgebildet. Auch diese Anlage ist sehr beeindruckend und auf jeden Fall einen eigenen Besuch wert. Die meisten Touristen lassen Aanjar jedoch links liegen, weil die Tempelanlagen von Baalbeck noch so viel beeindruckender sind. „Das Große schlägt das Kleine“ , sagt Hassan, und: „Eigentlich ungerecht!“

Zum Schluß hat Hassan noch eine Überraschung für uns. Er lädt uns ein, mit ihm in „seine“ Moschee zu kommen und dort den Gottesdienst zu besuchen. Die Moschee ist über der Stelle errichtet, wo eine der Enkeltöchter des Propheten Mohammed auf dem Weg von Damskus starb. Ihre Mutter Fatima soll an der Stelle, wo ihre Tochter starb ein Stück Holz in die Erde gesteckt haben. Daraus wurde ein großer Baum. Um ihn herum ist die Moschee errichtet worden.  Vor der Moschee sind Hunderte Menschen versammelt. Hassan führt Karin und mich durch die dicht gedrängte Menschenmenge vor die beiden Eingänge der Moschee: ein Engang für Männer und ein anderer Eingang für Frauen. Was ist, wenn wir hier verloren gehen? Und: Dürfen wir als Ungläubige die Moschee überhaupt zur Gottesdienstzeit betreten? Wir ziehen unsere Schuhe aus und Hassan sorgt dafür, dass sie sicher in einem der unzähligen bewachten Fächer untergebracht sind. Klaustrophobie sollte man jetzt nicht haben. Karin geht allein in den Teil der Moschee, der den Frauen vorbehalten ist, während ich mit Hassan den „Männerraum“ betrete. Der Raum ist gefüllt mit Betern, die auf den Knien sitzen, mit vorgestreckten, geöffneten Händen beten oder sich tief zum Boden hin verneigen. Im Hintergrund sehe ich tatsächlich den verehrten alten Baum im Raum stehen. Trotz des vielen Hin und Hers der unterschiedlichen Bewegungen nehme ich eine konzentrierte Ruhe wahr. Am Ausgang treffen wir wieder auf Karin.

Unterwegs läd uns Hassan in ein Restaurant ein, wo es offenbar seine Lieblingsspeisen gibt. Das Restaurant ist eine Mischung aus Supermarkt und Schnellimbiß. Immerhin gibt es auch Sitzgelegenheit für uns. Hassan hat eine Art Falafel mit Hackfleischbällchen, Zaziki und Gemüse für uns besorgt. Lecker. Dazu eine kleine Tasse süßen Tee… Der Feierabendverkehr nach Beirut ist weniger heftig als befürchtet. Nach diesem letzten Ausflug sind wir erfüllt – und platt. Wir werden jetzt irgendwo gemütlich etwas essen und trinken gehen. Auf der Hamra-Street gibt es dafür viele Möglichkeiten. In fünf Stunden müssen wir am Flughafen einchecken. Das Taxi vom Hotel zum Flughafen ist bestellt. Jetzt noch ein bisschen Shisha rauchen und die Fülle der wunderbaren Eindrücke vor dem inneren Auge vorüberziehen lassen…

Hannover im April 2017

Kurt Jürgen Schmidt

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