Nowosaratowka 2016
Bericht von einer Reise nach St. Petersburg und einem Seminar mit Pastoren und kirchlichen Mitarbeitern der lutherischen Kirche in Russland im März 2016
St. Petersburg! Nun bin ich schon öfter in dieser schönen und faszinierenden Stadt an der Newa gewesen – und immer wieder von neuem beeindruckt und bezaubert. Bei jedem Wiedersehen entdecke ich Neues. Vor zwei Jahren war es Zarskoje Selo mit dem prachtvollen Katharinenpalast und die Wassiljewskij-Insel wo in der Mitte des 19. Jahrhunderts vierzigtausend Deutsche gelebt haben. Letztes Jahr war es das Alexander-Newskij-Kloster mit dem Tichwiner- und Lazarusfriedhof, wo die Gräber von Dostojewskij, Tschaikowskij, Rimskij-Korsakow und anderen Petersburger Berühmtheiten zu finden sind.
Dieses Mal habe ich die Petrograder Seite der Stadt für mich entdeckt. Den ältesten Teil von St. Petersburg. Hier errichtete Zar Peter der Große sein kleines Wohnhaus aus Holz – unweit der Peter-Paul-Festung. Wenn man durch die Straßen dieses Stadtteils schlendert hat man eher den Eindruck, in Paris, Wien oder Berlin der Jahrhundertwende zu sein.
Hier findet man die älteste Moschee Russlands und die ersten russischen Filmstudios aus dem Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Hier wohnte Maxim Gorkij und nach seiner Rückkehr aus dem Exil eilte Lenin vom Finnischen Bahnhof hierher, um vom Balkon der Villa Kschessinskaja seine Begrüßungsrede an das Volk zu richten. Es war ein taktisches Manöver der Obersten deutschen Heeresleitung, Lenin von seinem Züricher Exil im verplombten Zug zehn Tage über Sassnitz, Stockolm und Finnland nach Russland einreisen zu lassen, um einen Separatfrieden mit Deutschland zu bewirken.
Hier wohnt auch mein Kollege Bradn. Ihn hat es aus Montana nach St. Petersburg verschlagen, wo er seine russische Frau kennenlernte. Hier lebt er mit ihr und den drei Kindern seit vielen Jahren schon. Sie haben kürzlich in Petrograd eine geräumige Kommunalka gekauft. Nach der Revolution gingen die Stadtvillen des Adels und Großbürgertums in staatlichen Besitz. In den großen herrschaftlichen Häuser wurden viele Familien untergebracht. Die Häuser wurden nicht zu diesem Zweck umgebaut, sondern so an das Volk übergeben wie man sie vorfand. In der Praxis bedeutete es, dass viele Familien sich ein WC und ein Küche teilen mussten. Die Häuser verfielen, weil notwendige Reparaturen nicht erfolgten. Beschwerden über die oft unerträgliche Wohnsituation wurden ideologisch beantwortet, indem das beengte Zusammenleben als sozialistische Errungenschaft gefeiert wurde.
Noch heute gibt es viele Kommunalkas in St. Petersburg. Zum Teil sind es billige, aber herunter gekommene Mietwohnungen. Zum Teil werden die Wohnungen von der Stadt verkauft. In den letzten Jahren sind viele solcher Wohnungen günstig aufgegekauft, mit viel Geld modernisiert und mit Gewinn weiter verkauft worden. Eine Gentrifizierung wie im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Ich habe mich auf der Petrograder Seite der Stadt wie nirgendwo sonst wgleich sehr wohlgefühlt. Wenn ich in St. Petersburg leben würde, dann hier! Bradn ist einer der Dozenten am Theologischen Seminar in Nowosaratowka. Wir können und schätzen uns schon seit einigen Jahren.
Die russische lutherische Kirch und ihr Ausbildungszentrum in Nowosaratowka
Nach den großen Veränderungen Anfang der 90er Jahre, in deren Folge sich die Sowjetunion auflöste und das „neue Russland“ wie Phönix aus der Tasche hervorging brach auch für die Kirche in Russland eine neue Zeit an. Die Russisch-Orthodoxe Kirche wurde – wie zur Zarenzeit – in dem für die Gesellschaft insgesamt und für viele Menschen existenz-bedrohlichen Chaos unter Gorbatschow und Jelzin zu einem dringend benötigten Stabilisierungs-Faktor. Die orthodoxe Kirche wurde und wird systematisch gefördert – und benutzt.
Für die in der ganzen Sowjetunion verstreuten kleinen lutherischen Gemeinden und Hauskreise war der politische Umbruch eine Zeit der Befreiung. In den ersten zehn Jahren nach diesem Umbruch sammelten sich plötzlich lutherische Gemeinden, die es zuvor so nicht gab oder sich als Gemeinden gar nicht öffentlich zeigen konnten. Diese neuen Gemeinden blühten für eine kurze Zeit auf – und sie welkten ebenso schnell wieder dahin, als der große Aderlass begann und mehr als eine Million sogenannte Russlanddeutsche das Land verließen. Vor allem in Richtung „alte Heimat“: nach Deutschland.
In diesen Jahren organisierte sich die Evangelisch-Lutherische Kirche Russlands und anderer Staaten (ELKRAS). (Die lutherischen Kirchen in Kasachstan und der Ukraine gehörten damals noch dazu). Als Gliedkirche entstand die Evangelisch-Lutherische im Europäischen Russland (ELKER) mit Sitz in Moskau und die Evangelisch-Lutherische Kirche Ural-Sibirien-Russischer Ferner Osten (ELKUSFO) mit Sitz in Omsk.
Von Beginn an war die so organisierte lutherische Kirche ein Dach für Gemeinden mit unterschiedlicher Geschichte und unterschiedlich geprägter Frömmigkeit. Gemeinsam war allen die pietistisch-fundamentalistische Grundüberzeugung. Dazu kamen anderen lutherische Kirchen wie die Ingermannländische Kirche, die starke Verbindungen nach Finnland hat und wie auch die lutherische Kirche dort hoch-kirchlich geprägt ist.
Niemand weiß, wie viele Mitglieder die ELKRAS und ihre Gliedkirchen hat. Manche vermuten, dass es sich um zehntausend Mitglieder handelt. Andere sagen, dass es weit mehr sind.
In dieser Zeit entstand als Initiative der Gesamtkirche am Stadtrand von St. Petersburg ein Theologisches Seminar, das der theologischen und kirchlichen Aus- und Fortbildung dienen sollte. Hier in Nowosaratowka gab es bis zum Beginn der Bolschewistischen Zeit eine lutherische, deutsch-sprachige Gemeinde: Kirche und Gemeindehaus lagen direkt an der Newa . Auf altem „lutherischen Boden“ entstand nach der Perestroika das Theologische Seminar. Das vorhandene, große Gebäude konnte für das Seminar genutzt werden. Später kamen weitere, neue Gebäude hinzu.
Über mehr als zwanzig Jahre hindurch wurde hier der theologische und kirchliche Nachwuchs ausgebildet. Inzwischen gibt es nur noch wenige Pastoren, die aus Deutschland entsandt wurden. Die Gemeinden haben weitgehend ihre deutsche Prägung verloren. Junge, in Russland geborene Pastoren leiten die Gemeinden, die sich nicht mehr als deutsch-sprachige „Inseln“ im weiten Russland begreifen, sondern als lutherische Gemeinden im weiten Russland.
Fortbildung für Pastoren und kirchliche Mitarbeiter in der russischen lutherischen Kirche – unser Seminar
Gemeinsam mit meiner Kollegin, Pastorin Karin Ludwig-Brauer habe ich hier in den letzten Jahren mehrere Seelsorge-Seminare angeboten. Im aktuellen Seminar ging es um das Thema „Predigt“. Außer uns gab es zwei Dozenten und 15 Teilnehmende aus der Gesamtkirche. Unsere Aufgabe als Referenten bestand darin, Predigten zu besprechen mit dem Schwerpunkt: Wie authentisch wird gepredigt, wie kommt das Gesagte beim Hörer an und wie wird der biblische Text an die Hörer vermittelt.
Unsere russischen Kollegen haben auf dieser Fortbildung einen interessanten Input gegeben. Sie haben an die Teilnehmenden den Text einer Rede des russischen Landwirtschaftsministers verteilt und darum gebeten, dass sie aus dieser Rede in sprachlicher Hinsicht eine „Predigt“ machen. Also einschjägiges „religiöses Vokabular“ in dieser politischen Rede verwenden. Das ist offenbar sehr spannend gewesen.
Wir haben die Teilnehmenden gebeten, ein bekanntes Gedicht von Puschkin als Tier vorzutragen. Also: als Katze, als Giraffe, als Schlange, als Igel usw. Und während des Gedicht-Vortrags sich körperlich so zu bewegen, als seien sie dieses Tier. Es wurde zu einem Höhepunkt unseres Seminars! Die Teilnehmenden sind auf so geniale und überzeugende Weise in ihre jeweiligen Tier-Rollen geschlüpft als ginge es um die Präsentation der Abschlussklasse einer Hochschule für Schauspiel und Musik.
Wir haben uns gebogen vor Lachen, und es stockte uns der Atem vor Bewunderung. Gleichzeitig war der Inhalt des von einem Teilnehmer (!) ausgewählten Gedichtes auch nach fast zweihundert Jahren so aktuell, dass es einem wiederum den Atem verschlug. (Gedicht siehe Anhang).
Das Puschkin-Gedicht aus dem Jahr 1823 ist ein bitteres Gedicht: „… Weidet nur weiter, ihr friedlichen Völker! … Wozu den Herden die Gaben der Freiheit?/ Sie sind da, um geschlachtet oder geschoren zu werden./ Ihr Erbteil ist von Geschlecht zu Geschlecht/ das Joch mit den Schellen und die Peitsche.“ Puschkin stand den Dekabristen nahe. Die Dekabristen (nach dem Monat dekabr = Dezember) , junge Offiziere, verweigern 1825 dem neuen Zaren Nikolaj I. den Treueeid. Sie fordern die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Autokratie. Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. Die Anführer hingerichtet. Viele der Offiziere werden zur Zwangsarbeit nach Sibirien (Irkutsk) geschickt. Zwölf Jahre später stirbt Puschkin im Duell.
Einer der Seminarteilnehmer hatte für uns dieses Gedicht ausgesucht. Wir waren darüber genau so überrascht wie die Gruppe. Das Gruppengespräch über das Thema: „Politisch predigen?“ nahm natürlich Bezug auf das Puschkin-Gedicht. Ein Pastor aus einer Gemeinde in Sibirien sagte: „Wir sind uns darin einig, dass politische Äußerungen – welcher Art auch immer – bei uns in der Gemeinde tabu sind“.
Wir helfen in Not, aber wir wir führen keine politischen Gespräche. Bei uns gibt es mehrere hundert russische Flüchtlinge aus der (Ost)Ukraine. Sie bekommen vom Statt nur über drei Monate finanzielle Unterstützung. Dann müssen sie selbst sehen. Wir als Gemeinde versorgen sie mit Kleidung und Nahrung und anderen Hilfen.“ Ein anderer Pastor aus dem Wolgagebiet, das bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts eine überwiegend deutsche Bevölkerung hatte (aufgrund der Ansiedlungspolitik Katharina I.), die jedoch von Stalin zwangsweise umgesiedelt wurde – nach Sibirien, Kasachstan, Kirgisien, in den Altai und anderswohin: „ Wir haben einen Probst, der sich leider immer wieder politisch äußert. Das gefährdet doch unsere Gemeinden. Und ich versuche dann, die Menschen zu besänftigen, damit wieder Harmonie in die Gemeinden einkehrt.“ Und wiederum ein anderer Pastor: „ Wenn wir als evangelische Gemeinden nicht den Mund aufmachen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Situation, die wir haben, dann sind wir auch nicht besser als die Orthodoxen, die sich den Herrschenden schon immer unkritisch angedient haben. Wo Unrecht ist, müssen wir das als Christen benennen!“
Im Gruppengespräch wurde auch auf das augenblickliche Dilemma hingewiesen, in dem sich die Lutherische Kirche in Russland befindet. Die lutherische Kirchenleitung pflegt ein enges, geschwisterliches Verhältnis zu den lutherischen Gemeinden in der Ostukraine und der Krim. Noch vor wenigen Jahren lebte man unter einem gemeinsamen kirchlichen Dach. Es soll nicht sein, dass die veränderten politischen Verhältnisse das geschwisterliche Band zerreißt, dass bisher alle verbunden hat. In Begegnungen und gemeinsamen Verlautbarungen wurde immer wieder von allen betroffenen lutherischen Kirchen das Verbindende betont, nämlich das Wort Gottes, das ausgerichtet ist auf ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker.
Die lutherische Kirche in Russland wird von der Orthodoxen Kirche noch nie als gleichwertige Kirche und meistens nicht einmal als Kirche wahrgenommen. Seit mehr als 150 Jahren gibt es die Lutherische Kirche in Russland. Sie ist – wenn man so will – die zweit-älteste christliche Kirche in Russland. Vor den Baptisten und anderen evangelische Gemeinschaften. Völlig unerwartet gibt es Kontaktangebote des orthodoxen Patriarchen an die lutherische Kirche. Und jeder versteht, was dies bedeutet: Entweder ihr vertretet mit uns die nationalen russischen Interessen (und profitiert davon) oder ihr werdet behandelt wie andere „ausländische Agenten“ auch.
In informellen Gesprächen außerhalb des Seminars habe ich die Frage aufgeworfen, wo die lutherische Kirche wohl in zehn oder zwanzig Jahren sein wird. Unsere russischen Gesprächspartner haben sich nicht in der Lage gesehen, so weit voraus zu denken. Und wenn sie es taten, dann eher skeptisch und wenig hoffnungsvoll.
Für das nächste Jahr haben wir ein gemeinsames neues Seminar in Nowosaratowka oder anderswo in Russland geplant. „ Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber Gott lenkt seinen Schritt…“ Mit Dankbarkeit blicke ich zurück auf alle Begegnungen und Erfahrungen in dieser Zeit und bitte um Gottes Segen für all unser Tun Lassen.
Hannover und Bienenbüttel, März 2016
Kurt Jürgen Schmidt