Nowosaratowka und Nowgorod 2017

Nowosaratowka und Nowgorod 2017

Bericht von einem Seelsorgekurs in Nowosaratowka/ St. Petersburg und einem Ausflug nach Nowgorod im Oktober 2017

Ich bin wieder einmal in Russland. In St. Petersburg leite ich ein Seelsorgeseminar für die „Evangelisch-Lutherische Kirche im Europäischen Russland (ELKR). Am Stadtrand von St. Petersburg, direkt an der Newa gelegen hat die Kirche eine Aus- und Fortbildungszentrum. Es befindet sich auf einem Gelände, das schon zur Zarenzeit der lutherischen Kirche gehörte und das der Kirche Anfang der 90er Jahre vom Russischen Staat wieder zurückgegeben worden ist. Die lutherische Kirche, die hier einmal stand , hat eine schöne klassizistische Fassade mit Eingangssäulen, Blick zur Newa. Aber die Kirche und das damit verbundene sehr grosse Gemeindehaus ist ein „Rubelgrab“, weil das Gebäude hohe, grosse Räume hat, aber keinerlei Isolation und uralte Fenster.

Als Anfang der 90er Jahre die Lutherische Kirche – und natürlich auch die orthodoxe Kirche – von Unterdrückung befreit, wieder frei ihren Dienst ausüben konnten, errichtete man hier auf diesem früheren Kirchengelände ain Aus- und Fortbildungszentrum für die ganze lutherische Kirche in Russland – von der Ukraine(!) bis nach Wladiwostok. Inzwischen haben viele junge russische Pastoren der lutherische Kirche hier ihre theologische Ausbildung absolviert. Die Ausbildung hat Bachelor-Niveau und hat nur eine kirchen-interne Anerkennung. Aber es ist ein theologisches Niveau, das jedenfalls über das Nivaeu einer Bibelschule hinausreicht und eine einheitliche theologische Ausbildung der Pastoren sicherstellt.

Als ich mit dem Taxi vom Flughafen auf dem Gelände des Seminars in Nowosaratowka ankomme, ist alles menschenleer. Jemad öffnet mir die Eingangstür zum Seminargebäude. Die Außentür ist über einen Magneten zu öffnen, der den Türsummer und die Freigabe des Schlosses auslöst. Ich quetsche mich durch den engen Eingangsbereich und klopfe an die Tür „Hausmeister“. Der alte Wächter liegt mehr, als dass er sitzt in einem abgeschabten Sessel, der Fernseher läuft, der winzige Raum ist warm, der Mann schläft. Er sieht mich mit einem Auge an und reicht mir wortlos meine Schlüsselbund mit Zimmerschlüssel und Magneten für die Aussentür.

Jemand klopft an die Tür und Pawel, ein Kursteilnehmer aus Moskau betritt das Wächterzimmer. Ich kenne Pawel aus einem vorangegangen Kurs. Pawel spricht recht gut Deutsch. Mit seiner Hilfe beginnt ein Gespräch. Pawel und ich stehen. Ich stütze mich auf meinen Koffer. Der Wächter ist plötzlich hellwach. Er beginnt zu erzählen. Davon, dass er beruflich als Ingenieur in Estland gearbeitet und dort lange Zeit gelebt habe. Sein Sohn lebe in St. Petersburg. Er sei Professor an der Universität. Er selbst müpsse sich noch im hohen Alter Geld zur Pension dazu verdienen. Hier seien die Menschen nett zu ihm und viel zu tun gäbe es nicht. So vergeht die Zeit. Kak magu, tak krutschuss! – man tut, was man kann. Seine Pension als Ingenieur würde jedenfalls nicht zum Leben und zum Sterben schon gar nicht reichen. Und seinem Sohn und seiner Familie wolle er nicht auf der Tasche liegen.

Mein Zimmer ist eiskalt. Die Heizung sei entweder kaputt oder würde bei diesen Temeparturen noch nicht angestellt. Das Thermometer zeigt 8 Grad – draussen, wie drinnen. Wenn ich nicht Vorsorge treffe, werde ich mir die besten Teile abfrieren. Für die Nacht hole ich mir aus anderen Zimmer,n die noch nicht von Kursteilnehmern belegt sind, so viele Decken, wie möglich. Ein Deckengebirge türmt sich über mich. Ich werde bestimmt einen Albtraum haben. Aber nein, ich träume von ganz anderen Dingen…. Am nächsten Tag bekomme ich einen elekrtrischen Heizstrahler mit der Empfehlung, ihn Tag und Nacht laufen zu lassen, sonst würde das Zimmer ja nie warm werden. Ich halte mich an den Rat.

Hier habe ich vor fünf Jahren das erste Mal und auch danach Seelsorgefortbildungen angeboten. Jetzt geht es darum, der Seelsorge innerhalb der kirchlichen Arbeit mehr Bedeutung zu verschaffen. Das Bedürfnis der Menschen in der Gemeinden nach Seelsorge ist groß. Das bisherige Angebot jedoch sehr „handgestrickt“. Das heißt, jeder Pastor und Prediger macht Seelsorge, so gut er kann – aber eben ohne jede Ausbildung, die ihn für die Seelsorge qualifizieren könnte. Das soll sich ändern. Die Idee ist, fortlaufend an verschiedenen Orten Seelsorgefortbildungen durchzuführen. Und der Seelsorge in der Ausbildung der Pastoren einen qualifizierten Platz zu geben. (Bezogen auf die kirchliche Situation in Deutschland würden wir von „Mitwirkung in der Vikarsausbildung“ sprechen).

Außerdem ist daran gedacht – ähnlich wie in den U.S.A. Und Deutschland – , eine Organisation zu gründen, die eine fortlaufende qualifizierte Seelsorgeausbildung sicher stellen kann. Gedacht ist an eine Russische Gesellschaft für Seelsorge, Beratung und Supervision.

Der Kurs, den ich hier seit letzter Woche leite, soll als Pilotprojekt zum ersten Mal ein Weiterbildungs-Curriculum anbieten. Das Curriculum sieht drei Blöcke von jeweils 10 Tagen vor. Der erste Block soll Basiskenntnisse vermitteln und die beiden folgenden Blöcke sollen Aufbaukurse sein, die mit einem Zetrifikat abschließen. Danach soll es die Möglichkeit geben, an einem Kurs teilzunehmen, in dem die künftigen Kursleiter und Kursleiterinnen ausgebildet werden, um eigenständig Seelsorgekurse für die russische lutherische Kirche durchführen zu können.

Im jetzigen, ersten Kursblock gibt es 12 Teilnehmende. Sie sind engagiert, wissbegierig und bereit, die neuen Erkenntnisse möglichst schnell an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen umzusetzen. Mal sehen, wie es weitergeht….

Valaam – ein verhinderter Besuch der Klosterinsel

Eigentlich hatte ich geplant, mit einem Ausflugsschiff, das von St. Petersburg ablegt, zur Insel Valaam im Ladogasee zu fahren. Ein berühmtes altes orthodoxes Kloster. Nach der Revolution 1917 wurde es geschlossen und die Gebäude als Lagerräume genutzt. Einige der Mönche wurden umgebracht, die anderen flohen über die Grenze nach Finnland und gründeten dort ein neues Kloster: Neu-Valaam.

Im Sommer 1941 wurde die Insel Valaam beim Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion besetzt Nach der Befreiung Leningrads 1944 wurden die Räume des Klosters Valaam wieder von russischem Militär genutzt. Erst nach 1991 sorgte Putin dafür, dass das Kloster mit allen seinen Gebäuden der othodoxen Kirche zurück gegeben wurde. Jetzt leben hier wieder viele Mönche, und das Kloster Valaam hat für die Russisch-othodoxe Kirche eine ähnliche Bedeutung bekommen wie die Athos-Klöster in Nordgriechenland. Die Ausflugsschiffe fahren die Nacht durch, sodass man einen vollen Tag für den Aufenthalt im Kloster hat. Was ich nicht wußte: Ab Mitte Oktober fahren keine Ausflugsschiffe mehr….

Das habe ich aber erst am Tag nach meiner Ankunft in St. Petersburg von Bradn gehört. Bradn hat vor zehn Jahren einmal einen Seelsorgekurs in Omsk/ Sibirien bei mir gemacht. Er kommt aus Montana (USA), hat in St. Petersburg Russisch studiert, sich in eine Russin verliebt und sie geheiratet. Jetzt arbeitet er für die russische lutherische Kirche als Weiterbildner. Mit ihm zusammen habe ich den jetzigen Seelsorgekurs organisiert. Ich hatte mir extra zwei Tage vor Kursbeginn frei gehalten für den Ausflug nach Valaam. Und nun das. Wir sitzen mitten im Zentrum von St. Petersburg und trinken im ersten Stock des Singer-Hauses – einem prächtigen Bau vom Ende des 19. Jahrhunderts – einen Kaffee.

Nowgorod

Bradn meint, vielleicht sei Nowgorod eine schöne Alternative. Dort sei er einmal für ein paar Jahre Pastor gewesen. Die alte Stadt würde mit bestimmt gefallen. Nowgorod! Ich erinnerte , dass Nowgorod ein Juwel unter den alten Städten Russlands ist. `Patschemu njet?‘ – warum nicht Nowgorod? Ich hatte in meinen kleinen Stadt-Rucksack schon meine Übernachtungs-Utensielien eingepackt, weil ich dachte, dass am Abend das Schiff nach Valaam fahren würde. Also reisefertig bin ich. Wir fahren mit dem Stadtbus ein paar Stationen den Newski-Prospekt rauf und steigen am Moskauer Bahnhof aus. Mein Zug geht in zwei Stunden! Allerdings ein Bumnmelzug. Fahrtdauer: vier Stunden. Also gut. Bradn bestellt telefonisch ein Hotel in Zentrumsnähe für mich und bittet den Pastor der lutherischen Gemeinde in Nowgorod, mich vom Bahnhof abzuholen und in mein Hotel zu fahren. Und los geht’s.

Ich komme gut in Nowgorod an. Spät abeds werde ich von Igor abgeholt. Er ist Pastor in Nowogorod, Auch er hatte schon früher einmal einen Kurs bei mir gemacht. Ich komme mir ein bisschen vor wie der Apostel Paulus, der ja auch überall seine connections hatte. Das Hotel hat verblichenen sozialistischen Charme. Und vor allem: die Heizung funktioniert! Es ist heiß im Zimmer. Die Heizung läßt sich nicht regulieren. Ich schlafe bei offenem Fenster und mit voller Heizung. Geht auch.

Am nächsten Morgen besuche ich Nowgorod – diese zauberhafte alte Stadt am Ilmensee. Von meinem Hotel ist es nur eine viertel Stunde Fußweg bis zum Kreml. Ich breche früh auf, um den Tag zu nutzen für die Stadtbesichtigung. Ich weiß inzwischen, dass Nowgorod ein Kleinod der Geschichte Russlands ist und dass man eigentlich mehrere Tage bräuchte, um einen tieferen Eindruck von der Stadt zu bekommen. Auch in dem von keiner Stadtmauer umgebenen Teil der Altstadt von Nowgorod, in der sich mein Hotel befindet, gibt es viele alte und berühmte Kirchen und Klöster. Einige davon besuche ich, und bin sehr beeindruckt.

Besonders hat mich eine kleine, unscheinbare und etwas eingerückt von der grossen Strasse gelegene Kirche angesprochen. Ich sehe, wie mehrere Menschen in diese Kirche zum Gottesdienst gehen. Auch jüngere Menschen. Um in die Kirche zu gelangen, muß man über einen verwilderten Platz gehen und dann ein parr Stufen auf einer kleinen Holzstiege hochsteigen. Ich beobachte eine Weile, wie Menschen kommen und die Holzstiege hochgehen. Oben steht ein Mensch, der um Almosen bittet. Plötzlich bin ich mir unsicher, ob es sich wirklich um eine Kirche handelt. Auch Männer mit Aktentasche gehen diese Holzstige hoch. Ich bin neugierig, gehe über das verwilderte Grundstück und auch die Stiege hoch, an dem Menschen vorbei, der um Almosen bittet, öffne eine Holztür – und befinde mich in einem sehr kleinen Vorraum einer Kirche, in der – wie üblich – hinter einem Tresen Kerzen und Devotionalien verkauft werden.

Der Kirchraum ist mit Gläubigen gefüllt. Ich höre einen Chor im Wechselgesang mit dem alten Priester, der vor dem Altar und der Wand zum Allerheiligsten agiert. Ich schaue um die Ecke und sehe vier ältere Frauen und einen jungen Mann: der Chor. Sie singen mit Inbrunst. Vor mir viele brennende Kerzen. Eine alte Frau zündet eine Kerze in dem Kerzenhalter an und steckt die anderen brennenden Kerzen um, damit sie gut brennen können. Es ist warm in dem kleinen Raum. Eine familiäre, vertraute Atmosphäre. Wie in einem Wohnzimmer, denke ich.

Ein Fußweg führt durch einen kleinen Park. Um mich herum hohe Bäume mit Herbstlaub. Auch auf dem Boden. Vor mir sehe ich schon die rote Kremelmauer auf der anderen Seite des Wolchow. Und hinter der Mauer die goldenen und silber glänzenden Kuppel der St. Sophienkirche und die Backsteintürme der Stadtmauer. Ich gehe an einem großen Gebäude vorbei, das vielleicht einmal das Palais eines wohlhabenen Bürgers gewesen ist. Auch in dieses Gebäude strömen Menschen. Offenbar Eltern mit ihren Kindern. Eine Veranstaltung? Ich betrete das Gebäude und befinde mich in einer Eingangshalle, die mit Eltern und Kindern gefüllt ist. es gibt eine Garderobe. Davor Bänke.

Eine Frau kommt auf mich zu und fragt, wer ich bin und was ich möchte. Mir ist klar, dass ich als Fremder hier auffalle. Ich sage, dass ich aus Deutschland bin und and diesem Tag die Stadt kennen lernen möchte. Eine zweite Frau kommt auf mich zu. Sie stellt sich als Leiterin dieser Musikschule vor. Heute Morgen wird es eine Vorführung der Kinder geben: Traditioneller russischer Gesang und Tanz. Erst jetzt nehme ich wahr, dass die Kinder um mich herum in traditionellen russischen Kostümen gekleidet sind. Ein farbenprächtiges Bild in den landes-typischen Farben Rot und Blau. Die Leiterin der Musikschule bitte mich als Gast in den Probenraum: Einsingen! Was für ein hinreissendes Bild: die Kinder und Jugendlichen in der traditionellen Kleidung.

Die Musiklehrerin sitzt am Klavier und gibt Anweisungen. Ich bin gebeten worden, an einem Tisch im Probenraum Platz zu nehmen. Mir wird Tee und Gebäck gereicht. Ich nehme das für mich völlig unerwartete Geschehen in mich auf – und bin zu Tränen gerührt. Dann beginnt die Vorführung. Es gibt tatsächlich eine kleine Bühne und eine erhöhte Zuhörer-Empore. Ich werde in die erste Reihe gebeten. Neben mich setzt sich eine hinreissende ältere Dame (wahrscheinlich in meinem Alter). Sie ist offenbar gebeten worden, sich um den Gast zu kümmern und mit ihm Konversation zu machen. Auf Englisch. Wie sich herausstellt: sie ist pensionierte Lehrerin. Englisch und Musik. Sie ist schon ein Leben lang mit der Musikschule verbunden. Kennt alles und jeden.

Dann beginnt die Vorführung. Ein Zauber umgibt mich und nimmt mich mit hineinen in Gesang und Tanz und Märchenwelt. Die Kinder sind hinreissend! Und ihre Eltern und Großeltern vor Stolz und Freude kaum zu bremsen. Ich muss mich losreissen aus dieser wundervollen Atmosphäre: den größten Teil der Stadt habe ich ja noch gar nicht gesehen! Aber dieses Erlebnis steht in einem keinen Reiseführer!

Bis heute ist die Altstadt von Nowgorod mit einer kompletten Stadtmauer umgeben – ähnlich wie Visby auf Gotland. Ich bin begeistert! Ich wußte, dass Nowgorod eine der ältesten Städte Russlands ist. Ich hatte von den Warägern und den Rus gehört. Aber erst beim Besuch in Nowgorod habe ich einen tieferen Einblick in die Geschichte und Bedeutung dieser Stadt bekommen.

In Nowgorod spielt die Gründungsgeschichte Rußlands. In der Mitte des 9. Jahrhunderts entdecken die schwedischen Waräger unter Rurik einen neuen Handelsweg nach Asien: über das Baltikum, den Ladoga-See und die Flüsse Newa und Wolchow bis zum Ilmensee und dann weiter über die Wolga bis zum Schwazen Meer. Dieser Handelsweg wurde über eintausend Jahre benutzt! Die schwedischen Rus errichten eine Handelsniederlassung am Ilmensee und am Fluss Wolchow. Aus ihr entsteht schleißlich ein eigenes Fürstentum: das Nowgoroder Fürstentum, das über Jahrhunderte bestehen bleibt.

In der Mitte des 11. Jahrhunderts entscheidet sich der Nowgoroder Metropolit gegen die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche und für die -byzantinisch-orthodoxe Kirche. Nowgorod wird – neben Kiew – zu einem religiöses Zentrum. Bis heute sind viele der Kirchen mit ihren silber- und gold-glänzenden Kuppeln erhalten.

Nowgorod ist auch das älteste Bildungszentrum Russlands. Bereits zu Anfang des 11. Jahrhunderts wurde hier eine Schule. Diese Schule trug wesentlich zur Alphabetisierung der Bevölkerung bei.

Nowogorod wird zur Hansezeit eine wichtige Handelsniederlassung. Im Jahre 1192 gründet die Hanse in Nowgorod ein eigenes Kontor – den Peterhof. Mit eigener Kirche – der Peterkirche- , einer Brauerei und einer Bäckerei, einem Spital, einem Bad, einem Gerichtsgebäude und Gefängnis. Die Hanse hat auf ihrem „Hof“ eigene Gerichtsbarkeit. Die Händler der Hanse transportieren Rohprodukte nach Westeuropa (Pelze, Wachs, Honig, Holz) und Fertigprodukte nach Nowgorod (Metall, Waffen, Tuche, Glas sowie Wein, Bier, Salz und Heringe).

Im Jahre 1240 schlägt das von Alexander Newskj angeführte Nowgoroder Volksheer am Ufer der Newa das schwedische Heer unter Birger Jarl und zwei Jahre später das Heer der Deutschen Kreuzritter am Peipussee und wenige Jahre später erneut in der Schlacht bei Wesenberg.

Mitte des 15. Jahrhunderts schließen sich die Fürstentümer Nowogorod und Moskau (gegen Litauen) zusammen und legen den Grundstein für das zukünfige Russland. Die Nowgoroder prägen eigene Münzen. Auf ihnen war ein Reiter mit Speer abgebildet. Daher das Wort „Kopeke“, denn Speer heisst auf Russisch kopjo.

Was ich auch nicht wußte, aber bei meinem Gang durch die Stadt auf Schritt und Tritt begriff: Im 2. Weltkrieg war Nowgorod von August 1941 bis Januar 1944 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Nach der Einkesselung Leningrads versuchten im März 1942 die sowjetischen Truppen einen befreienden Durchbruch. Es kam südlich von Leningrad zu einer der verlustreichsten Schlachten des sogenannten „Rußlandfeldzugs“. Die Schlacht kostete auf beiden Seiten hunderttausend Menschen Leben und Gesundheit.

Bis zu meinem Besuch hatte ich ein eher romatisches Bild von Nowgorod: alte russische Stadt mit vielen Kirchen und Klöstern. Die Schrecken des Krieges in dieser Stadt sind mir erst jetzt bewußt geworden.

Mit dem Taxi lasse ich mich an die Stelle fahren, wo der Wolchow aus dem Ilmensee fließt. Eine breite, mit Seezeichen beschilderte Wasserstrasse. Hier also waren die Koggen der Hanse durchgesegelt….

Am nächsten Tag besuche ich den Sonntags-Gottesdienst in der Lutherischen Kirche. Ein unscheinbares kleines Gebäude, aber Nahe der Altstadt gelegen. Igar hält die Predigt. Leider muß ich gleich danach zu meinem Zug zurück nach St. Petersburg. Zum Abendbrot soll sich das erste Mal der neue Kurs treffen! Als ich mir am Schalter eine Fahrkarte kaufen will, werde ich angesprochen, ob ich nicht besser mit einem privaten Kleinbus nach St. Petersburg fahren möchte. Geht doppelt so schnell und ist genau so billig wie der Zug. Das leuchtet mir ein. In einem ordentlichen VW-Bus fahren wir mit durchgehend hoher Geschwindigkeit auf der vierspurigen Strasse nach St. Petersburg. Es gibt kaum Verkehr.

Meine Gedanken gehen zurück an die Waräger und hanseatischen Kaufleute, die hier entlang zogen. Aber auch an die Wolchow-Front und das Elend und die Schrecken des Krieges.

Nach zwei Stunden sind wir an einer südlichen Metro-Station angekommen. Alle Passagiere steigen aus und nehmen die Metro zur Weiterfahrt. Das mache auch ich und bin eine Stunde später zurück im Seminar in Nowosaratowka.

Inzwischen ist mein Zimmer so warm, dass ich beim Betreten das Fenster aufreiße. In meiner Abwesenheit ist hier ja Tag und Nacht der Heizstrahler gelaufen…. Was für eine Energieverschwendung! Es bleibt bei einem schwachen Versuch, mich selbst zu rechtfertigen: die Energiekosten sind in Rußland billig. Man hat doch genügend Gas und Öl….

Der Seelsorgekurs

Und dann beginnt unser Kurs! Es sind 12 KursteilnehmerInnen: 8 Frauen und 4 Männer. 1 ordinierte, alte Pastorin, ein Pastor, der eine Gemeinde auf der Krim hat, ein Superintendent aus Wolgograd und ein weiterer Superintendent aus Saratow – dem alten Zentrum der Wolgadeutschen. Zwei Laien-Predigerinnen kommen aus dem Ural. Eine von ihnen war im ersten Beruf Steinmetzin. Drei Ehefrauen sind mit dabei. Eine von ihnen mit Mann, drei Monate alter Tochter und Babuschka fürs Kind. Alle wohnen in einem genau so kleinen Zimmer wie ich wohne – nur bin ich in meinem Zimmer allein!

Nebenan haben sich Sergeij, der Kollege von der Krim und Pawel aus Moskau im Doppelstock-Bett eingerichtet. Pawel macht schon das dritte Seminar bei mir mit. Er zählt zu meinen Bewunderern. In der mir angeborenen Bescheidenheit beschreibt dies wahrscheinlich seine vorherrschende Motivation, am Seminar teilzunehmen. Pawel ist freundlich, liebenswürdigkeit, wißbegierig und wenn er zu einem Redebeitrag in der Gruppe anhebt, verdrehen alle die Augen: Pawel redet so lang wie das jüdische Exil, und je länger er redet, desto leidenschaftlicher. Wenn ich aber sage: „Pawel, gut so, glaube ich!“ hört er sofort auf. Ein bißchen unheimlich – aber Gott-sei-Dank wirkungsvoll.

Einer der beiden Pröpste, Vladimir ist gleichzeitig auch Stellvertretender Bischof der Europäischen Russischen Kirche und Stellvertretender Erzbischof der Lutherischen Gesamtkirche. Es wird sich am Ende des Kurses herausstellen, dass er „unser Mann in Havanna“ ist – nämlich für das strategische Vorgehen, um eine „Russische Gesellschaft für Seelsorge und Beratung“ zu gründen. Oder zumindest einen entsprechenden Verein. Oder zumindest einen entsprechenden Arbeitskreis…. (Die Bäume wachsen nicht in den Himmel.!) Aber die Gründung des Arbeitskreises ist uns tatsächlich am Ende gelungen.

Oleg, Propst von Wolgograd ist zum Leiter des Arbeitskreies gewählt worden. Das Amt des Propsten macht schon mal etwas her. Tatjana, seine Frau ist Schriftführerin. (Sie wird schon eine Stunde nach der Gründungsversammlung eiun schriftliches Protokoll der Sitzung vorlegen!). Im Übrigen ist sie aus meiner Sicht diejenige in der Gruppe, die immer am schnellsten begreift, worum es gerade geht. Sie hat Agrarökonomie/ Agrarökologie studiert und ist fast fertig mit ihrer Promotion.

Aber irgendwie ist die Berufung zum christlichen Glauben und die Heirat mit einem Pastor dazwischen gekommen Mit ihm hat sie zwei Kinder. Zur Zeit scheint sie mir sehr weit weg zu sein von der Fortsetzung wissenschaftlicher Arbeit. Sie ist Hausfrau, kümmert sich um die Kinder und den Mann und ist ehrenamtlich in der Gemeinde ihres Mannes engagiert. Oleg ist Pastor in Sarepta (am Stadtrand von Wolgograd).

Sarepta

Im Jahr 1765 erreichen die ersten deutschen Siedler aus der Oberlausitz diese Gegegend an der Wolge. Die Zarin Katharina II. weist ihnen sechs tausend ha Land zu. Wegen des salzhaltigen Bodens ist es landwirtschaftlich jedoch unbrauchbar. Die Siedlung ist eine Nachbildung von Herrnhut, einem Zentrum des deutschen Pietismus. Die Siedler beginnen einen regen Handel und betreiben eine erfolgreiche Iundustrieentwicklung ( Baumwoll- und Tabakverarbeitung). Sie gründen unter anderem eine Senf-Fabrik, die Senf und Senföl auch an den Zarenhof liefert. Die etwa dreißigtausend Wolgadeutschen werden während des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion auf Befehl Stalins nach Kasachstan, Kirgisien, Sibirien und in den russischen fernen Osten deportiert.

Oleg ist als Kind von „Wolgadeutschen“ in Kasachstan geboren. Viele seiner Verwandten sind nach der Perestroika (1990) nach Deutschland ausgewandert. Seine Eltern sind in das alte Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen zurückkehrt und Oleg ist jetzt in dem geschichtlich bedeutendenen Ort Sarepta Pastor und Propst in der Propstei Wolgograd.

Sergeij ist ursprünglich einmal Sportlehrer und Boxer gewesen. Er ist in Belgorod geboren. Zwischen Belgorod und Charkow hat mein Vater im August und September 1943 als Soldat gekämpft. Er hat darüber Tagebuch geschrieben. Am 8. September 1943 ist er südlich von Charkow gefallen. Heute grenzt dieses Gebiet an die seit 2014 umkämpfte Ostukraine. Die Begegnung mit Segeij im Kurs hat die Erinnerung an meinen Vater geweckt. Und irgendwie fühle ich mich gerade dadurch mit ihm verbunden.

Krim

Sergeij hat sich von seinem Bischof auf die – von Russland annektierte Krim – „schicken lassen“. Segeij: „Es hat sich niemand sonst gefunden.“ Sergeij ist erst seit Anfang des Jahres als Pastor in einer der fünf lutherischen Gemeinden, die es auf der Krim gibt, tätig. Die Gemeinde ist zerstritten. Aus Gründen, die nicht nur mit dem Ukraine-Russland-Konflikt zu tun haben. Auch innerhalb der Gemeinde gibt es Konkurrenzen und Intrigen. Sergeij sagt: „Hier kann ich nicht mit meiner Frau und unserer kleinen Tochter leben! Ich muss hier weg!“

Mich erinnert dies an meine eigenen Erlebnisse auf der Krim. Auf der Suche nach dem Grab meines Vaters bin ich im Somnmer 2001 zusammen mit meiner Tochter Anna Lena von Charkow mit dem Zug auf die Krim nach Jalta gefahren. In Jalta hatten wir Kontakt mit einer deutschen lutherischen Gemeinde. Wir waren bei einer Frau aus der Gemeinde zu Hause untergebracht. Gleich am ersten Tag erfuhr ich von Konflikten innerhalb der Gemeinde. Von Konkurrenzen und Intrigen – genauso, wie es Sergeij beschrieb. Ich erzähle ihm von meinen damligen Eindrücken, und er antwortet: „In der Gemeinde in Jalta hat sich seit damals nichts verändert!“

Die lutherische Kirche in der Ukraine nennt sich bis heute „Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine“. Es gab viele Diskussionen wegen des Zusatzes „Deutsch“. Aber bis heute keine Entscheidung. Die im und nach dem Krieg völlig zerstörte deutsche lutherische Kirche in Odessa wurde mit Hilfe von deutschen Spendengeldern sehr schön wieder aufgebaut. Auch das Gemeinde- und Pfarrhaus ist saniert und modernisiert worden. Mit mehreren Gästezimmern. Odessa ist der Sitz des lutherischen Bischofs. Dieser Bischof wird von Teilen der Kirche der Korruption und der Selbstherrlichkeit im Amt beschuldigt….

Ein zerrissnes Land. Eine zerrissene Kirche. Zerrissene Gemeinden und Familien. Man könnte denken, das alles irgendwie zusammenhängt. Auf jeden Fall entspricht die Destruktion und Selbst-Destruktion der Logik des Kreml, das Nachbarland so weit wie möglich zu destabilisieren. Offensichtlich ist nur die völkerrechts-widerige Annexion der Krim und die Unterstützung der Freischärler in der Ostukraine. Aber es gibt viele Ebenen der Destruktion, die sich wie ein Krebsgeschwür. ausbreitet Aus der Ost-Ukraine sind fast eine Million Menschen nach Russland geflüchtet und fmehrere Hundertausend als Binnen-Flüchtlinge in die westlichen Teile der Ukraine. Tausende sind in der Ostukraine geblieben und kämpfen täglich ums Überleben.

Die Lutherische Kirche im Europäischen Russland – zu der nach der Annexion irgendiwe oder nicht jetzt auch die lutherischen Gemneinden auf der Krim gehören – hat Anfang des Jahres eine Pastorenkonferenz in eben der Stadt abgehalten, in der Sergeij Pastor ist. Eine Entscheidung des Bischofs. Viele in der Kirche sagen: eine kluge Entscheidung, sich als lutherische Kirche nicht gegen die Putin-Regierung zu stellen. Aber einige Pastoren sind bewußt nicht mit auf die Konferenz gefahren….

Ende gut,alles gut

Ich könnte jetzt noch viel von den anderen KursteilnehmerInnen erzählen. Es würde zu viel werden. Oft sind es bewegende persönliche Geschichten und vieles von dem, was sie aus ihren Gemeinden erzählen, zeichnet ein vielfältiges Bild von der aktuellen Situation der lutherischen Kirche im Europäischen Russland. Ich bin sehr dankabr dafür, dass ich so viel Einblick gewinnen kann.

Der erste Kursteil ist jetzt erfolgreich beendet. Für mich war es eine einzige große Anstrengung, da ich den Kurs alleine geleitet habe. Ich habe den Kurs auf Deutsch (mit Dolmetscherin) und andere Teile des Kurses auf Englisch (mit Dolmetscher) geleitet. Mein Russisch ist weit davon entfernt, einen Kurs ohne Übersetzung zu leiten. Das ständige Übersetzen innnerhalb des Gruppengeschehens ist für alle Beteiligten anstrengend. Auch für die Dolmetscher und die Gruppe. Wir haben alles gut hingekriegt. Alle in der Gruppe sind am Ende sehr zufrieden. Ich bin erschöpft und froh.

Wir haben diesen Kursteil am Nachmittag mit einem Abendmahls-Gottesdienst und dem feierlichen Überreichen (das muß hier so sein!) der Teilnahme-Bescheinigungen gut beendet. Gott sei Dank!

Im Juni 2018 findet dann der zweite Kursteil statt – ebenfalls in St. Petersburg. Dann gibt es hier die berühmten „Weißen Nächte“…

Nowosaratowka bei St. Petersburg, im Oktober 2017

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