Liebe Freunde,
seit meinem letzten Brief ist einige Zeit vergangen. Inzwischen waren Karin und Holger für zwei Wochen hier. Das war sehr schön. Wir haben eine interessante und erfüllte Zeit miteinander verbracht. Interessant nicht zuletzt deshalb, weil wir heiße Diskussionen über alles mögliche geführt haben. In Deutschland kommt man ja nicht dazu.
Es ging nach meiner Erinnerung eher am Rande um Putin, Trump und Erdogan. Wichtiger war schon das Thema Weltreligionen. Und richtig heiß wurde es – nein, falsch gedacht – beim Thema: Glauben. Unsere Gespräche hatten zwar nicht unbedingt etwas zu tun mit der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck aus dem Jahre 1519, waren aber fast ähnlich bedeutungsvoll. Damals konnte die Disputation nur durch die Befürwortung von Herzog Georg dem Bärtigen (albertinisches Sachsen) zustande kommen. Dieses mal war es Holger. Die Wittenberger zogen damals unter Begleitung von 200 bewaffneten Wittenberger Studenten in Leipzig ein. Die fehlten jetzt natürlich. Die Disputation wurde eröffnet mit einem Gottesdienst in der Thomaskirche unter Mitwirkung des Thomanerchores. Dieses mal hatten wir zuvor gemeinsam ein Abendlied in der Kirche neben der Küche gesungen. Eine Woche lang geht die Leipziger Disputation. Thema: Der freie Wille, die guten Werke und die Gnade Gottes. Bei uns ging es etwas fokussierter um den Glauben an sich. Damals, so schreibt der Chronist, saßen die Theologieprofessoren, die der Disputation beiwohnten „allezeit neben Dr. Eckio und schliefen ganz sanft“. Es wäre gelogen, wenn ich dies von Holger sagen würde.
Nein, was ich eigentlich sagen wollte: Wir hatten es ganz wunderbar zusammen. Abends, gegen sechs Uhr wird es ja schnell dunkel hier. Bevor Karin und Holger kamen, habe ich meistens am Schreibtisch gesessen (alte Gewohnheit). Aber als das Pfarrhaus endlich mit Gästen voll war, haben wir die Abende erst mit UNO und Kniffel verbracht, aber dann hat Karin (endlich) Skat spielen gelernt – und Holger und mir ist Hören und Sehen vergangen.
Tagsüber waren wir überwiegend draußen (wenn es nicht gerade aus Eimern schüttete). Das gemeinde-eigene Auto war seit Wochen in Reparatur. Es stellte sich heraus, dass ein wichtiges Ersatzteil aus den USA eingeflogen werden musste. Aber es gab grad niemanden aus der Gemeinde, der es von dort hätte mitbringen können. Fürs Handgepäck wahrscheinlich ohnehin nicht geeignet. Jedenfalls waren Gewicht und Größe dieses Objektes und auch die Zollvorschriften nicht geklärt. Vorgestern ergab sich aber zufällig, dass es irgendwo in Costa Rica doch ein gebrauchtes entsprechendes oder ähnliches Ersatzteil gibt. Bin gespannt, ob es noch vor meiner Abreise eingebaut werden kann. Wir haben also einen Mietwagen genommen, und sind sanft über alle Schlaglöcher und Schotterstraßen hinweggeschwebt.
Unser erster Ausflug ging zu zwei indigenen Gemeinden. Wir wurden eingeladen und begleitet von einer Pastorin der Iglesia Lutheran Costaricensis. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die pastorale Betreuung von indigenen lutherischen Gemeinden. Es gibt in Costra Rica – verstreut in etwa zwanzig Reservaten – zehn verschiedene indigene Ethnien deren Bevölkerung insgesamt jedoch nicht mehr als 25 000 Menschen umfasst. Schon bei der Eroberung durch die Spanier war Costa Rica dünn besiedelt mit indigenas, weil Regen- und Nebelwälder und zahlreiche Vulkane das Land schwer zugänglich machten. Ein noch gewichtigeres Argument für die sehr späte Besiedlung des Landes durch Europäer war der heftige kriegerische Widerstand der Indios und die Erkenntnis, dass es hier – anders als zum Beispiel in Peru – kaum Gold zu holen gab.
Die beiden Gemeinden, die wir besuchten, lagen anderthalb Autostunden von San José entfernt in der Nähe von Puriscal und waren nur mit einem Auto mit Vierradantrieb zu erreichen. Unterwegs hatten wir Lebensmittel für die Gemeinde eingekauft. Die Pastorin war schon voraus gefahren und erwartete uns in der ersten der beiden Gemeinden. Es waren dort mehrere Frauen und einige Kinder versammelt. Die Männer und auch etliche Frauen waren auf Arbeit. Wir erfuhren, dass sie in verschiedenen Dienstleistungen in der näheren Umgebung tätig waren: als Tagelöhner auf Fincas, als Hausangestellte in privaten Häusern, in Supermärkten und als Reinigungskräfte in Bürogebäuden.
Unsere Begegnung begann mit einer kurzen Andacht und einer ausführlichen Vorstellungsrunde. Ich hatte nicht erwartet, dass die Frauen so frei, ausführlich und selbstbewußt von sich erzählten. Im zweiten Dorf begegneten wir einer „Kräuterfrau“, die Heilkräuter bei sich aufzog und auf dem Wochenmarkt verkaufte. Ich fragte sie, ob sie vielleicht auch ein Heilkraut gegen das Leiden alter Männer hat. Sie antwortete ohne zu Zögern, dass sie ein sehr gutes Naturmittel habe gegen Prostataleiden. (Ich habe gleich ein paar Flaschen erstanden, möchte die Sache aber doch erstmal bei anderen ausprobieren).
Ein Tagesausflug führte uns zu den Cascade La Paz. Eine private Anlage und Touristenattraktion. Der Waserfall stürzt eindrucksvoll in Kaskaden herunter. Die Besichtigung des Wasserfalls ist verbunden mit dem Besuch von verschiedenen Tieren: Vögeln, Schmetterlingen, Schlangen, (giftigen) Fröschen und auch von einigen größeren indigenen Wildtieren wie Puma und Jaguar. Am meisten gefreut habe ich mich über den Puma – er war weit genug weg.
Dann endlich zum Pazifik! Von San José aus kann man den Pazifik – bei entsprechender Verkehrslage – in anderthalb Stunden erreichen. (Die Karibikküste in drei Stunden). Als wir – schon in der Nähe der Küste – über eine Brücke fuhren, sahen wir das Schild: cocodrillo. Trotz der leichten Verschiebung des Buchstaben r war doch klar: es waren Krokodile. Und davon ziemlich viele. Sie lümmelt sich am morastigen Flussufer. Zwischen ihnen ein Gummistiefel. Der Rest fehlte …
Ich hatte Zimmer für uns reserviert. Am Telefon war da die Stimnme eines ausserordentlich freundlichen und – auf Englisch – redegewandten jungen Mannes zuz hören. Er stellte sich schon im Telefonat vor: Just call me Willy. Deutsche Vorfahren? Nein, einfach nur ein schöner Name. Als wir in dem Städtchen Quepos, wo wir die Zimmer reserviert hatten, ankamen, gelang es nur mit Hilfe unseres Waze-Navi das richtige Haus zu finden. Ich hielt Ausschau nach einem Hotel oder wenigstens einer Pension, aber da war nichts. Selbst der doorman vor der Bank, die in unmittelbarer Nähe liegen mußte, hatte keine Ahnung, wo das sein könnte, was wir suchten. Aber da kam Willy uns schon entgegen. Genau so hatte ich ihn mir vorgestellt: Jung, schlank, sportlich und mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Hola! Me llamo Willy. Bienvenidos! Schon klar.
Willy hat uns dann unsere Zimmer gezeigt. Es waren zwei Kleiderschränke. Ohne Fenster. Gefängniszelle ist geräumiger. (Kenne ich mich aus). Willy war nicht wirklich überrascht, dass wir uns schnell entschieden, eine andere Unterkunft für uns zu suchen Hätte uns auch nur den Preis für eine Übernachtung gekostet. Da lädt uns der Nachbar von Willy, ebenfalls ein junger Mann, ein, doch einmal sein Zimmerangebot anzusehen. Kurzum, wir haben das Angebot angenommen: ein sauberes, neues Appartment – mit Aircondition. Perfekt!
Der Deal war, dass wir dann die Mahlzeiten bei Willy eingenommen haben. Genauer gesagt bei seiner Mutter. Wir hatten also jetzt chönes Appartement und: Familienanschluß. Wiilly und sein Vater aßen mit uns. Die Hausfrau und Mutter blieb im Hintergrund. Ich habe mich mit Willy´s Vater blendend unterhalten. Über Fußball. (Alle sind stolz auf die costricanische Mannschaft). Über seine Arbeit in der Fischfabrik. Über das staatliche Sozialsystem. Über die Frauen. Alles ohne sprachliche Probleme – auf Spanisch. Kommunikation eben.(Karin und Holger schienen mir zwischendurch etwas genervt zu sein).
Wir waren hierher gefahren, um den berühmten Nationalpark Manuel Antonio zu besuchen. Ach wäre der Manuel Antonio doch weniger berühmt! Wir fuhren aus der Stadt und ein paar Kilometer weiter bis zum Park hinauf. Links und rechts tolle Privatvillen und ein Hotel neben dem anderen. Dazwischen imnmer wieder herrliche Ausblicke auf den Pazifik. Oben angekommen sind wir von einem wild gewordenen Hornissenschwarm umzingelt: Zehn, zwanzig guides, die sich anbieten, uns durch den Park zu führen. Jeder mit einem beeindruckend großen Teleskop bewaffnet, um die Tiere im Park den Besuchern gefällig zu präsentieren. Auf dem einzigen Pfad durch den Park befinden sich immer wieder Besuchergrüppchen, die mit Hilfe des Teleskop eine zwanzig Meter entfernte Heuschrecke beobachten. Oder – etwas größer – ein Dreifingerfaultier oder einen Grünen Leguan oder einen Pfeilgiftfrosch oder eine Scharlachbürzeltangare. Ein sehr lehrreiches, aber auch schweißtreibendes Unternehmen – bis endlich der Strand und die Wellen des Pazifik uns Erholung verschaffen.
Als wir uns von Willy verabschieden, revanchiere ich mich mit einer kleinen sprachlichen Ersten Hilfe, wenn er demnächst Hamburg besucht. Ich: Die Norddeutschen sind anders als ihr. Er: Pero no es possible! Doch Willy, is so: Zum Beispiel die Begrüßung. : Ich: Moin! Der andere: Moin. Ich: Wie geit? Der andere: Mutt ja. Ich: Jau. Ich warne Willy: jedes weitere Wort würde ihn zum Ausländer machen. Willy hat einen deutschen Kollegen, an dem will er das Gelernte ausprobieren….
Wir waren auch an der Karibikküste! Das ist eine ganz andere Sache! Aber erstmal mussten wir den Höhenzug des Braulio Carillo überwinden. Der größte Nationalpark des Landes. Bis zu 3000 m hoch. Seine gewaltige Ausdehnung reicht von der Karibikebene bis zur Gipfelregion mehrerer erloschener Vulkane. Die Niederschlagsmenge ist extrem hoch. Die Folgen: eine Vielzahl von Flüssen und Wasserfällen und eine üppige Vegetation. Im Jahr 1978 baute man eine Strasse, die von San José zur Karibik führt. Alles andere als eine Autobahn, vielmehr sehr kurvig und schmal, aber asphaltiert und weitgehend ohne Schlaglöcher!
Im selben Jahr erklärte man das ganze Gebiet um die Strasse herum zum Nationalpark, um Rodungen und neue Siedlungen zu verhindern. Dennoch ist diese Strasse für die Tierwelt eine ständige Bedrohung.
Und dann fahren wir durch die karibische Küstenebene und kommen endlich an in Puerto Limon. Vor zwanzig Jahren noch eine Perle an der karibischen Küste. Mit schönen alten Holzhäusern, mit Wohlstand durch den Hafen und einer offenen und freundlichen Bevölkerung, die zu leben versteht. Ein buntes Völkergemisch von Menschen mit europäischer, afrikanischer (Jamaika!) und asiatischer (China!) Herkunft. Der Karneval der Stadt ist bis heute berühmt. Auf einer kleinen Insel gegenüber von Puerte Limon hat vorzeiten Christoffer Kolumbus auf seiner vierten Reise angelegt, aber das Landesinnere hat er nie betreten.
Heute ist Puerto Limon eine heruntergekommen Hafenstadt ohne Hafen. Menschen aus der Deutschen Lutherischen Gemeinde haben mir geraten, nicht nach Puerto Limon reinzufahren und schon gar nicht dort zu parken. Man würde gleich bestohlen und ausgeraubt werden. Wir sind in das Zentrum von Puerto Limon gefahren und haben dort geparkt. Wirklich eine alte, heruntergekommene Schöne. Und – wie überall im Land, wie ich es erlebt habe – auch hier: freundliche, offene Menschen. Aber auch viel Armut und Elend.
Man sagt, die Gewerkschaften hätten verhindert, dass der Hafen der Stadt für größere Schiffe vertieft wird, indem sie immer neue Forderungen an die Satadtverwaltung stellten. Der Containerhafen mit entsprechender Tiefe für größere Schiffe wurde dann ein paar Kilometer entfernt angelegt – in einem Städtchen, dass es schon gab, bevor es San José und Puerto Limon gab. Der Name des Ortes: Moin. (Echt wahr!).
Und dann sind wir in unserem Appartement in Cahuita angekommen. Eine wunderschöne kleine Ferienanlage mit vier kleinen Appartement-Häusern. Geleitet von einer beeindruckenden Frau, die in Puerte Limon aufgewachsen ist. Eine Frau mit dunkler Hautfarbe. Verheiratet mit einem Italiener aus Milano. Puerto Limon ist bedeutend geworden durch ie Eisenbahnlinie, die vom Landesinneren bis hierher gebaut wurde, um den Kaffee und die Bananen zu transportieren und nach Übersee auszuführen. Für den Bau der Eisenbahnlinie wurden damals viele Arbeiter aus Jamaika angeworben – vor allem Schwarze. Und auch Chinesen. Beide Volksgruppen sind an der Karibikküste geblieben und leben seit 150 Jahren hier. Sie führten lange Zeit ein rechtloses Leben, völlig ignoriert und verachtet von der Bevölkerungsmehrheit. Erst nach dem Bürgerkreig 1948 bekamen sie die gleichen Rechte wie alle anderen.
Ein schwerer Schlag für Puerto Limon und die karibische Küste war das Erdbeben im Jahre 1991 (!). Dabei hob sich das der Küste vorgelagerte Korallenriff um anderthalb Meter und ruinierte nahezu dieses empfindliche Ökosystem. Gleichzeitig wurde der Hafen von Limon unzugänglich für große Schiffe. Nur eine Vertiefung hätte ihn retten können, was jedoch nicht geschehen ist. Unsere Unterkunft in Cahuita war nur einhundert Meter vom schönen Strand entfernt. Alles, was man sich vorstellt unter karibischem Strand: hier ist es zu finden! Es gibt hier und im nahen Puerto Viejo viele junge Rucksack-Touristen. Und man sagt, dass der wunderbar süßliche Geruch , der hier Tag und Nacht verführerisch in der Luft liegt, dazu beiträgt, das Leben heiter und beschwingt zu machen. Am letzten Abend gab es ein Internationales Calypso-Festival direkt bei uns am Strand. Da haben wir uns natürlich mitreissen lassen…
Vor ein paar Tagen sind Karin und Holger wieder zurück geflogen nach Deutschland. Es war eine sehr schöne Zeit mit den beiden. Jetzt bin ich zurück in meiner mönchischen Einsamkeit. So oft es geht, singe ich morgens, mittgags, abends und nachts vor dem Schlafengehen liturgische Gesänge aus dem Gesangbuch.
Ich fühle mich durch diese immer gleichen liturgischen Formen irgendwie hineingenommen in eine große Geschichte der christlichen Kirche und des spirituellen Erlebens. Ich emfinde dies als ausgesprochen wohltuend und tröstlich.
Übermorgen erwarte ich meinen nächsten Besuch. Da kommt mein guter alter Freund Michael. Mit ihm werde ich die restlichen Tage hier verbringen und dann gemeinsam mit ihm nach Südmexiko fliegen, um in Yucatan die Maya Kulturstätten zu besuchen und anschließend ist Havanna angesagt!
San José, Costa Rica, 25. Juli 2017
Herzliche Grüße,
Kurt Jürgen