Strastwutje Sibir! – Krasnojarsk 2014
Moskau zuerst
Im Oktober 2014 bin mal wieder unterwegs in Sibirien. Gemeinsam mit meiner Kollegin und alten Freundin Karin habe ich in Moskau in der Lutherischen Gemeinde ein Seminar zum Thema „Krisenintervention im Kontext der Gemeinde“ gehalten. Mein Eindruck war, dass die Teilnehmenden alle Ideen wie ein Schwamm aufgesogen haben. Und Probleme gibt es offenbar genug… Moskau zuerst. Ähnlich wie Paris im zentralistisch strukturierten Frankreich so auch Moskau in Russland: alle Wege führen über Moskau. Jedenfalls die Luftwege. Wieder einmal hat mich diese Stadt beeindruckt. Ihre Größe. Ihre Geschichte. Und ihr westliches Gesicht. Im Zentrum gibt es genauso viele Schickimicki-Läden wie in Hamburg oder München. Für mich auffallend: auf den Straßen und Plätzen, in den Fußgängertunnel oder U-Bahnstationen: nirgendwo auch nur ein Fitzelchen Unrat. Alles wie geleckt. Als wäre es gerade zurecht gemacht für den Besuch des Zaren. Aber nein: es ist immer so. Wenn ich da an Hannover denke – ach du meine Güte!
Und dann diese sehr angenehme Höflichkeit in den Restaurants. Gewöhnungsbedürftig für uns ist allerdings, dass die Bedienung einem den kaum geleerten Teller wegnimmt, kaum dass man fertig essen konnte. Zeitweise hatte ich den Eindruck, es sei vielleicht eine Art Sport unter der Bedienung, wer dem Kunden just in dem Mund den Teller wegräumt, wenn von ihm der letzte Bissen runter geschluckt wurde.
In der lutherischen Gemeinde in Moskau trafen wir den Pastor einer kleinen lutherischen Gemeinde an der Grenze zur Ukraine. Er erzählte davon, wie seine Gemeindeglieder geschlossen aus einer Siedlung der Wolgadeutschen zur Arbeit in den Fabriken der Stadt transportiert wurden. Geächtet und isoliert von den russischen Bewohnern, die in ihnen „Hitler-Faschisten sahen. Feinde. Kriegsverbrecher. Erstaunlicherweise hat sich seit den 90er Jahren in diesem Umfeld eine kleine lutherische Gemeinde gründen können
In unserem Gespräch stellt sich heraus, dass die Gemeinde nicht weit entfernt liegt von der Stadt KURSK. KURSK – wie zuvor STALINGRAD – symbolisiert die kriegsentscheidende Wende im Krieg zwischen Deutschland und Russland. Nicht weit entfernt liegt CHARKOW/ CHARKIV (ukrainisch)– ein Ort, der im aktuellen ukrainisch-russischen Konflikt immer wieder erwähnt wird und ein Ort, der für mich seit frühester Kindheit so bedeutungsvoll ist. Die Erde ist hier über viele Kilometer blutgetränkt und Hunderttausende liegen noch in dieser Erde.
Dieser Pastor plant, eine Friedens- Kapelle außerhalb der Stadt zu bauen und diese Kapelle zu einem
Ort der Versöhnung werden zu lassen für Deutsche und Russen. Ich habe gesagt, dass ich unbedingt daran interessiert bin, seine Gemeinde und diesen Ort eines Tages zu besuchen. Im Gespräch mit ihm erwähne ich, dass mein Vater in der Nähe von CHARKOW gefallen ist und dass er die Panzerschlacht am Kursk er Bogen und die Schlacht um Charkow mitgemacht hat. Ich erzähle, dass eine der letzten Tagebuch-Eintragungen meines Vaters lautet: „Als letzter deutscher Offizier das brennende Charkow verlassen“.
Charkow, die Stadt, die im Krieg viermal den Besitzer wechselte bis nichts mehr übrig geblieben war von ihr. Und ich erzähle von der letzten Tagesbucheintragung meines Vaters, drei Tage bevor er fiel: „Wir Deutschen haben uns versündigt an den russischen Menschen und wir werden dafür bestraft werden.“ Ich erzähle ihm auch davon, wie ich mich auf die Suche nach dem Grab meines Vaters begeben habe – und es tatsächlich fand. Und wie ich dabei einen inneren Frieden gefunden habe, nach dem ich mich ohne es zu wissen vielleicht schon immer gesehnt hatte.
In Gesprächen mit politisch wachen, regierungskritischen Menschen hören wir oft, dass in Russland nur sehr zögerlich der Weg in eine Bürgergesellschaft beschritten wird. Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten der russischen Verfassung sprechen viele Anzeichen dafür, dass dieser Weg offenbar verlassen werden soll. Es hat jedenfalls den Anschein, dass die Verwirklichung der Grundprinzipien der eigenen Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention immer bedeutungsloser wird.
Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) – insbesondere diejenigen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen – werden mit andauernden behördlichen Überprüfungen schikaniert und das im November 2012 in Kraft getretene „Agentengesetz“ wird jetzt konsequent umgesetzt. Die Formulierung „Organisationen, die die Tätigkeit eines ausländischen Agenden erfüllen“ lässt Spielraum für staatliche Willkür. Es geht offenbar um lückenlose Kontrolle des öffentlichen Raums.
Der Schriftsteller Viktor Jerofejew, dessen Vater Stalins Dolmetscher war und der selbst als „unberechenbarer Intellektueller“ in seinem Land bezeichnet wird, weil er mal für und mal gegen Putin ist hat mit seinem neuen „Die Akimuden“ eine literarische Satire auf Russland geschrieben. Eine Mischung aus Historien- und Science-Fiction-Roman: Die Toten werden wieder lebendig, übernehmen die Macht und sehen sich als Retter Russlands.
Jerofejew will zeigen, dass Russland „ein Land der Toten ist“ Während der kommunistischen Revolution gab es Massenerschießungen und Massengräber. Viele Leichen verwesten auf den Feldern. Man brachte Menschen willkürlich und oft aus Habsucht oder Neid um und keineswegs nur aufgrund politischer Überzeugung. Aber, so Jerofejew, die Fähigkeit zur Besinnung auf die eigene Geschichte und zur kritischen politischen Analyse seien in Russland nie weit verbreitet gewesen. Wenn es den Menschen schlecht geht, werden die Umstände dafür verantwortlich gemacht und nicht die handelnden Personen. So wurde der Zar mit all seinem Prunk und seiner Volksferne eingetauscht gegen „die Partei“, der Kommunismus gegen den ungebremsten Kapitalismus und jetzt möchten viele den Putinismus wiederum gegen etwas Besseres tauschen. Aber gegen was?
„Inzwischen kennen wir uns besser aus mit Mobiltelefonen als mit dem Sinn unseres Lebens“. Der Westen wird von vielen Menschen in Russland als agnostischer Sumpf erlebt. Ohne Glauben an irgend wen und irgend was. In Russland scheint es das Gegenteil zu sein. Jeder kritische Gedanke versinkt in Metaphysik und Mysterium. Das führte ganz unerwartet zu einer prachtvollen Auferstehung der bereits tot geglaubten orthodoxen Kirche. In ihren Gottesdiensten geht es immer schon darum, dem Himmel näher zu sein als der Erde. Das religiöse Erleben des Unbegreiflichen gilt mehr als der kritische Verstand.
In einem seiner Bücher schreibt Jerofejew, man müssen den Russen die Demokratie so streng verordnen, wie einst Katharina die Große den russischen Bauern die ungeliebte Kartoffel verordnet hat. Jerofejew: „Alexander Puschkin hat im 19. Jahrhundert gesagt, der einzige Europäer in Russland sei die Regierung. Das gilt bis heute…. Putin ist wahrscheinlich liberaler als 80% der Bevölkerung…. Wenn der ganze Westen Putin als Diktator oder als Halbdiktator ansieht, er aber liberaler als als 80% der Russen ist, dann sind wir in einer verzweifelten Lage.“ Putin könne sich selbst nicht so richtig entscheiden, wer er sein will, und das ganze Land schwankt mit ihm hin und her.
Jerofejew: „Es gibt viele verschiedene Russlands: das nationalistische, das kommunistische und auch das religiöse… Vor dem Erstarken der orthodoxen Kirche sollten wir uns am meisten in Acht nehmen…“. Gehört Russland zu Europa? Das Gesicht des Westens ist geprägt durch den Wunsch nach vollkommener Sicherheit. Dafür steht der Brüsseler Verordnungswahn. Was Russland von diesem Westen unterscheidet: Das Chaos, die Bereitschaft, auch starke Gefühle auszuleben und vor Tragödien nicht zurück zurückzuschrecken, sondern ein tragisches Ende geradezu heraufzubeschwören.
Im heutigen Russland sind die berühmtesten Dissidenten drei junge Frauen von Pussy Riot. Die russischen Frauen hätten die Nase von von den Männern, die nur dominieren und saufen wollen. Die Frauen in Russland seien interessanter als die Männer. Deshalb wollen viele moderne russischen Frauen auch lieber andere Frauen als Partner. Die Frauen von Pussy Riot trafen mir ihrer Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale auf den Punkt.
Zur Feier des Sieges über Napoleon hatte Zar Alexander I. 1839 den Bau der prunkvollen Kathedrale in Auftrag gegeben. Allein die goldenen Kuppeln waren mit 400 kg Gold verziert. Als Stalin an die Macht kam, duldete er keine anderen Götter neben sich, und da die Kathedrale in Sichtweite des Kreml lag, ließ er sie kurzerhand sprengen.
Ab 1993 wurde an dieser Stelle mit dem Neubau einer Kathedrale begonnen, die wie keine sonst die Symbiose von Staat und orthodoxer Kirche repräsentiert. Das Innere ist mit 100 Tonnen Blattgold verziert. Hier ist die Skulptur der Krönung des kleinen Hirtenjungen David zum König zu sehen. Er hatte Goliath niedergestreckt. Und gegenüber befindet sich, in gleicher Größe, die Krönung eines frühen Zaren durch seine Soldaten. Pussy Riot traf den Nerv der „heiligen Allianz“ von Thron und Altar als die protestierenden Frauen vor dem Altar ihre Brüste entblößten und die „nackte Wahrheit“ zeigten.
Spät abends auf dem Roten Platz. Alle Gebäude und Mauern ringsum illuminiert. Die Zwiebeltürme, die lange Fassade des Kaufhaus GUM, das Lenin-Mausoleum. (Kommt der Ausdruck „mausetot“ eigentlich daher?). Wie aus dem Märchenbuch….Moskau unterirdisch zu erleben ist allein schon eine Reise wert. Die U-Bahnstationen in ihrem stalinistischen Prunk. Und das zeitlich parallel zur Vorstellung von wahrer und schöner Kunst in Nazi-Deutschland. Diktaturen sind offenbar bis ins Detail alle gleich. Aber genug erzählt von Moskau, denn Moskau war ja nur Zwischenstation.
Unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn
Es folgen (fast) vier Tage und Nächte mit TRANSSIB über den Ural und das westliche Sibirien bis in die geografische Mitte Russlands: nach Krasnojarsk. Wieder in der TRANSSIB. Ich genieße es ganz unmittelbar so zu reisen. So gemächlich. So laut wie es sich für eine Eisenbahn gehört. Rums, rums, rums antworten die Räder bei jedem neuen Stück Gleis. Und draußen zieht die wohltuend gleichförmige, unspektakuläre weite Landschaft vorüber. Einladung zu meditativem Nachdenken. Eine Form der klassischen philosophischen peregrinatio .
Aber wenn man gedacht hat, dies sei eine gute Gelegenheit sei, endlich den Roman zu lesen, den man schon so lange lesen wollte, der hat sich vielleicht getäuscht. Es ist so ähnlich wie beim Segeln: über lange Zeit kann das ein ziemlich gleichförmiges und in gewisser Weise lang-weiliges Geschehen sein. Aber zum Bücherlesen bin ich da auch niemals gekommen. Irgendetwas gibt es immer zu beobachten: die Mitreisenden, die Wagen-Schaffnerin, die Frauen die den Reisenden Nüsse und Wurstwaren und getrockneten Fisch anbieten.
Man sollte für den notwendigen Gang auf die Zugtoilette den Zugfahrplan im Blick behalten. Eine halbe Stunde vor einer Station und eine halbe Stunde nach Abfahrt aus einer Station bleiben die Zugtoiletten geschlossen. Warum? Da, gospadin. War schon immer so. Und in der Not gibt es keine wirklichen Alternativen Allenfalls zwischen den Waggons. Man verlässt seinen Wagen und steht plötzlich im Freien. Der Übergang zwischen den Waggons ist gewöhnungsbedürftig.
Die Wagen machen während der Fahrt unterschiedliche Bewegungen Während man mit einem Fuß noch auf der Plattform des einen Wagens steht und gerade den anderen Fuß auf die Plattform des anderen Wagens setzen will, merkt man, dass die Wagen während der Fahrt unterschiedliche Bewegungen machen. Ich komme mir vor wie auf dem Kinderspielplatz auf einer dieser Seilbrücken. Die Kinder rennen wie Nichts darüber. Mit gut koordinierter Körperbewegung. Aber alte Knochen wollen doch lieber stabilen Boden. Hinzu kommt, dass die Plattform zwichen den Wagen im Winter ziemlich zugeschneit ist…
In der TRANSSIB gibt es oft interessante Begegnungen. Im Speisewagen kamen wir mit einer Geigerin aus den Niederlanden ins Gespräch. Tanja. Sie war auf dem Weg von Amsterdam nach Peking. Mit der TRANSSIB wegen ihrer Flugangst. Sie leitet ein kleines Orchester, das eine Tournee durch China geplant hat. Alle anderen Mitglieder des Orchesters fliegen nach Peking. Im Gespräch haben wir festgestellt, dass wir gemeinsame Bekannte haben – aus meinem Dorf! Tanja war einmal befreundet mit dem jüngsten Sohn des damaligen Dorfpfarrers.
Meine Mutter hatte viele Jahre unter seiner Leitung im Kirchenchor gesungen. Und bei der Trauung meiner Tochter hat er mit einem Streichquartett musiziert. Über die Musik hatte auch Tanja Kontakt mit der Familie. Nun soll ich versuchen, den Kontakt zur alten Jugendliebe wieder herzustellen…
In unserem Vierer-Abteil begegneten wir auch Sergej. Er kümmerte sich sehr um uns. Zeigte uns, wie man die Betten ordentlich bezieht und wo das Reisegepäck am besten zu verstauen ist. Sergej bewegte sich in dem engen Zugabteil sehr gelenkig. Geradezu akrobatisch. Wir dachten schon, dass er irgend etwas mit Zirkus zu tun haben könnte. Aber dann stellte sich heraus, dass Sergej Schauspieler ist und gerade von einem Engagement in Moskau kam und jetzt zurück nach Hause fuhr.
Sergej macht sowohl klassisches Schauspiel wie auch Puppentheater. Ich bitte ihn, uns doch einmal aus einer seiner Rollen etwas vorzusprechen. Sergej überlegt kurz, ob wir das ernst meinen. Ich nicke ihm vergewissern zu. Als erstes nimmt Sergej nimmt eine Körperhaltung ein, die ihn in Übereinstimmung mit der Rolle bringt, um die es gleich gehen wird. Er gestikuliert und rezitiert leiden-schaftlich. Spannungs-geladene Pausen. Variationen von lautstark und leise. Es geht um eine Figur aus Hendrik Ibsen´s „Das Puppenhaus“. Sergej ist phänomenal! Und wir sind hingerissen. Wo hat man das schon: eine solche Vorführung. In der TRANSSIB. Gerade als der Zug den Ural überquert…
Nachdem Sergej seinen gebührenden Ruhm genossen hat, fragt er uns, was wir so machen. Und als wir ihm sagen, dass wir Psychodramatiker sind, ist Sergej nicht mehr zu halten. Dramatiker! Großartig Er springt auf und bedrängt uns , ebenfalls eine Rolle vorzusprechen. Was tun? ch will Sergej nicht enttäuschen. Also setze auch ich mich in eine konzentrierte Ausgangsposition. Aber wie weiter. Ich sehe aus dem Zugfenster. Verschneite sibirische Landschaft zieht an uns vorüber. Birken. Holzhäuser. Und dann deklamierte ich so dramatisch wie möglich das, was sich vor meinen Augen abspielt: sibirische Landschaft, Birken, Holzhäuser.Und was sich abspielen könnte hinter den beleuchteten Fenstern und in den verschneiten russischen Wäldern. Es könnten dramatische Ereignisse sein….
Als ich fertig bin mit meiner Vor-stellung klatscht Sergej begeistert Beifall. Ich bin ganz verblüfft. Er war offensichtlich angetan von meiner Darbietung und fragt: „Hamlet?“ Das erschreckt mich. Und ich stotterte: „Nein, Richard II.
Eine kriminelle Bande gründen – auf intelligente Weise
Nun sind wir in Krasnojarsk angekommen. Moskau ist 4000 km entfernt. Gleb, unser russischer Kollege empfängt uns am Bahnhof. Gleb hatte vor zwei Jahren einen Kurs in Omsk gemacht, den Karin und ich geleitet haben. Als er Abitur machte war die Zeit der Perestroika unter Gorbatschow und dann herrschte über Jahre das Chaos in Russland. Viele Menschen geraten ins Straucheln und in die Armut. Angesehene Wissenschaftler verkaufen auf der Straße, alles was zu Geld zu machen ist. Und im Kaufhaus GUM gibt es nur noch Gläser mit Gurken aus den Datschen zu kaufen.
In dieser Zeit entschließt sich Gleb, eine kriminelle Bande zu gründen und reich zu werden. Gleb will die Bande so organisieren, dass sie „auf intelligente Weise kriminell“ ist. Gleb weiß nicht, dass gerade in diesem Moment etliche andere dabei sind, auf „intelligente Weise“ zu Reichtum zu kommen. Die Leiter von industriellen und landwirtschaftlichen Kombinaten, die viel Geld, das ihnen nicht gehört in die Hand nehmen und privatwirtschaftlich investieren. In kurzer Zeit bildet sich ein Kreis von wenigen super reichen Wirtschaftsoligarchen, die die Jahre des „alles geht“ für sich nutzen.
Gleb wird von Mitgliedern einer konkurrierenden Bande auf der Straße zusammengeschlagen, mit Füssen getreten und auf die Straße geworfen, wo ein Auto ihn anfährt. Schwer verletzt kommt er in ein Krankenhaus. Er hat Glück, dass er überlebt. Gleb, der radikale Sinnsucher wählt jetzt einen anderen Weg. Ein orthodoxer Priester aus seiner Heimatstadt Uljanowsk – Geburtsstadt von Lenin – bringt ihn auf den Weg des Glaubens. Er rät ihm, zu studieren. Gleb studiert Astrophysik, Kunst und Geschichte. Das Angebot seines Professors, zu promovieren schlägt er aus. Statt dessen studiert er in der einzigen Ausbildungseinrichtung für Pastoren der lutherischen Kirche in Russland evangelische Theologie.
Mit entsprechender Protektion hätte Gleb wahrscheinlich einer der Wirtschaftsoligarchen werden können oder in der Hierarchie der russisch-orthodoxen Kirche aufsteigen oder eine wissenschaftliche Karriere machen können. Gleb entscheidet sich dafür, als Pastor einer kleinen lutherischen Gemeinde nach Sibirien zu gehen.
Lutherische „Kirche“ in Krasnojarsk
Gleb hat uns eingeladen, einen einwöchigen Workshop für Pastoren und kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verschiedener lutherischen Gemeinden in Sibirien anzubieten. An diesem Workshop sollen auch Vertreter anderer christlicher Kirchen der Stadt teilnehmen: aus der orthodoxen Kirche, aus verschiedenen baptistischen und pfingstlerischen Gemeinden und aus der kleinen lutherischen ingermannländischen Gemeinde in Krasnojarsk.
Gleb hat in kurzer Zeit einen „Runden Tisch der Leiter christlicher Gemeinden in Krasnojarsk“ organisiert, der das Zustandekommen dieses ungewöhnlichen Seminars ermöglicht hat. An den meisten anderen Orten in Russland gibt es heftige Konkurrenz der verschiedenen, zum Teil sehr kleinen lutherischen Gemeinden untereinander. Auch zwischen den anderen evangelischen Gemeinden, die sich theologisch und kirchenpolitisch wenig zu sagen haben. Und die mächtige, durch den Staat protegierte orthodoxe Kirche hat insgesamt wenig Neigung, mit Andersgläubigen überhaupt Kontakt zu haben. Sie ist spätestens seit Putin zu einer staatstragenden Größe herangewachsen. Hoch subventioniert durch den Staat. Sie war immer schon ein Instrument der Herrschenden in Russland.
Überall sind neue orthodoxe Kirchen entstanden. Vor allem aber in der kommunistischen Zeit zerstörte Kirchen an derselben Stelle wieder aufgebaut. Mit staatlichen Geldern. In staatlichem Interesse. Ein wesentlicher Beitrag nationale Identität zu stiften. Solange orthodoxe Liturgie als „göttliches Ereignis“ verstanden wird, solange die „weltlichen Dinge“ die Kirche nicht wirklich interessiert und weder bestehende politische Verhältnisse noch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation in Frage gestellt wird – solange ist diese Kirche als verlässlicher Stabilisierungsfaktor gar nicht hoch genug zu schätzen.
Die lutherische Kirche ist zwar die älteste nicht-orthodoxe Kirche in Russland – nämlich seit dem 18. Jahrhundert – , aber sie ist zahlenmäßig verschwindend klein. In ihr hat die pietistisch geprägte brüdergemeindliche Tradition zu Anfang des 18. Jahrhunderts eine besonders starke Bedeutung. Für die deutschen Kolonisten an der Wolga, auf der Krim und anderswo im weiten Russland hatten diese kleinen, frommen Gemeinden und Hauskreise eine große Bedeutung. In Not- und Verfolgungszeiten hatten sie etwas Tröstliches und Vergewisserndes. Anfang der 90er Jahre zeigte sich erst allmählich, wo überall im Land – gewaltsam zerstreut durch Verfolgung, GULAG und Deportation – kleine Gemeinden am Leben geblieben waren.
Mehr als zwei Millionen sogenannte „Russlanddeutsche“, die in diesen Gemeinden ihr Zuhause hatten, sind innerhalb von wenigen Jahren nach Deutschland gezogen, um hier Sicherheit und Heimat zu finden. Die alten Menschen sind oft geblieben. Sie sahen ihre Wurzeln in Russland. Insbesondere in Ehen, in denen es russische Partner gab. In den verbliebenen lutherischen Gemeinden hat es vielfach Interessenkonflikte zwischen „deutschen“ Gemeindegliedern und „russischen“ Gemeindegliedern gegeben. In der ersten Hälfte der 90er Jahre, als die lutherischen Gemeinden wieder „arbeiten“ durften, hatte die deutsch-lutherische Tradition eine maßgebliche Bedeutung. Jetzt geht es darum, ob eine solches rückwärts gewandtes Empfinden für die Kirche zukunftsfähig sein kann.
Der Konflikt wird als „Sprachenkonflikt“ ausgetragen: die deutsch-traditionellen Gemeindeglieder möchten deutsch-muttersprachige Pastoren und Prediger haben. Die findet man aber nicht mehr in Russland. Deshalb hat es etliche pensionierte Pastoren aus Deutschland gekommen, die über einige wenige Jahre, manchmal aber auch über viele Jahre den lutherischen Gemeinden in Russland gedient haben. Zum Beispiel gibt es in Wladiwostok einen ursprünglich Hamburger Pastor, der seit mehr als zwanzig Jahren in Wladiwostok tätig ist und als Superintendent die Gemeinden im Russischen Fernen Osten betreut.
In Omsk, viertgrösste Stadt in Russland, wurde Ende der 90er Jahre ein eindrucksvolles lutherisches Gemeindezentrum gebaut: mit großer Kirche, Versammlungs- und Gruppenräumen und Übernachtungs-Möglichkeiten. Der Gedanke war, dass die verstreuten kleinen Gemeinden im Umkreis von vielleicht hundert oder zweihundert Kilometern hier ihr kirchliches Zentrum haben.
Auch in Krasnojarsk, ebenso wie in Tomsk, Abakan und Nowosibirsk gab es schon seit mehr als einhundert Jahren eine größere deutsch-lutherische Gemeinde – im Vergleich zu den vielen sehr kleinen Gemeinden im weiten Umfeld. Aber in den letzten zwanzig Jahren hat deutsche kirchliche Tradition, Denkweise und Sprache an Bedeutung verloren. Heute wird die lutherische Gemeinde in Krasnojarsk von einem jungen
Pastor geleitet, der ganz mit russischer Sprache und Kultur aufgewachsen ist und die Gemeinde als lutherische russische Gemeinde versteht – und nicht länger als deutsche lutherische Gemeinde in Russland.
Das Seminar in der lutherischen Kirche in Krasnojarsk
Das Seminar wird im Gottesdienstraum des Gemeindehauses der lutherischen Gemeinde stattfinden, in der Gleb Pastor ist. Hier wohnt er mit seiner Frau Nastja. Gleb und alle anderen sprechen allerdings immer von ihrer „Kirche“. Wir sind gespannt, wer wohl zum Seminar kommen wird. Es haben sich etwa fünfzehn Personen interessiert gezeigt, aber nur wenige fest zugesagt. Die Teilnehmenden sollen problematische Fälle aus ihren eigenen Gemeinden einbringen, die dann in der Gruppe bearbeitet werden. Außerdem soll es zu verschiedenen Themen wie z.B. Suizidgefährdung, Suchtproblematik, Depression, psychische Erkrankungen Theorieeinheiten geben.
Wir sind ganz am anderen Ende der Stadt in einem einfachen Hotel untergebracht. Jeden Tag müssen wir hin und zurück über eine der Jenisseij-Brücken fahren. Unser Hotel liegt in der Nähe des Jenissej im Hafengebiet. Als der Hafen noch aktiver in Betrieb war, wurden in diesem Hotel die Hafenarbeiter untergebracht. Viele von ihnen kamen von weit her. Jetzt schien das Hotel nur noch wenige Gäste zu haben.
Heute morgen wurde wir von den Mitarbeiterinnen an der Rezeption auf deutsch mit einem freundlichen „Guten Morgen!“ begrüßt. Wir sind in einem Appartment untergebracht: ein Eingangsbereich von dem WC und Dusche und zwei Zimmer abgehen. Ich habe gehört, dass es diese Konstruktion in vielen russischen Hotels gibt.
Bei unserer Ankunft fliegen am Himmel über Krasnojarsk russische Jagdgeschwader ihre Kunststücke. Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen für unseren Empfang. Gleb klärt uns auf: Übungsflüge für den nächsten „Tag der Luftwaffe“. Nachdem Gleb uns am Bahnhof abgeholt hatte, fuhr er uns in seinem Auto – ein Skoda auf Basis eines französischen Renault und ausgewiesen als russischer Lada – direkt zu seiner Kirche. Ein zwei-stöckiges Einfamilienhaus aus Holz : Eingangsbereich, Bad, Küche und Gemeindesaal im unteren Bereich und im oberen anderthalb Zimmer für das Pastoren-Ehepaar. Was wir nicht erwartet hatten: eine Sauna, eine russische Banja, die einfach dazu gehört. Gleb hatte die Sauna schon vorgeheizt. Ach wie wunderbar war dies nach der langen Reise!
Nach dem Abendbrot findet unsere erste Veranstaltung statt. Im Gemeindesaal, in dem im übrigen das ganze Gemeindeleben stattfindet – angefangen von Gottesdiensten über Musik- und Jugendgruppen, Gebetskreisen und Seelsorgegesprächen – erleben wir das erste Bibliodrama in dieser Stadt. Es sind vor allem Jugendliche aus der Gemeinde, die daran teilnehmen. Wir sind erleichtert, das alle begeistert mitgemacht haben. Was für ein vielversprechender Anfang!
Piere Curie, Immanuel Kant und German Gesse
Wir sitzen in der gemütlichen kleinen Küche. Um den Tisch sitzen die Menschen dicht gedrängt. Einige haben – wie üblich – die eine und andere Kleinigkeit zum Essen mitgebracht. Blini und süßes Gebäck, Tee und einen selbst gebackenen Kuchen. Auf der Fensterbank schleicht Piere Curie um die Blumentöpfe herum und ist bereit, zum Sprung auf den Tisch, um die Leckereien näher zu betrachten. Piere Curie ist der braun-gefleckte Hauskater. Er führt ein herrliches Leben: er lässt sich von jedem streicheln und auf den Schoß nehmen. Er wird gekrault und geschmust, dass man neidisch werden könnte.
Während unseres Seminars sitzt er vor der Tür und miaut so herzerweichend oder nervig – je nach inneren Einstellung des jeweils Zuhörenden – dass sich noch immer jemand gefunden hat, ihn reinzulassen, damit er am Geschehen teilhaben kann. Und wieder wird er ohne Ende gestreichelt und geschmust. Aber am schönsten scheint es für ihn zu sein, wenn der Pastor ihn unter seinen Pullover nimmt und Piere nur mit dem Kopf oben herausschaut und sicher sein kann, dass er allen den Kopf verdrehen kann und die Seminarleitung den Faden verliert.
Ganz anders geht es da Immanuel Kant. Der hat draußen im Hof seine Hundehütte und liegt an der Kette. Schreckliches Schicksal. Wenn man sich nicht beeindrucken lässt von dem, was seine eigentliche Aufgabe ist – bellen und gegebenenfalls ins Bein beißen – erweist sich Immanuel Kant mit Sicherheit weniger spröde als sein Namensgeber und eher streichelsüchtig. Immanuel Kant hat noch einen herumstreunenden, herrenlosen Kollegen, der zwar ein Halsband aber keinen Besitzer hat. Beide fressen bis auf weiteres aus dem selben Blechnapf.
Unser Kollege Gleb hat ihn prophylaktisch schon einmal German Gesse getauft. (Im Russischen ist es schwierig, das H am Anfang eines Wortes zu sprechen). Der Hund soll schließlich Anschluss finden an die gebildeten Kreise. Ich selbst habe nicht gleich geschaltet, als ich von Gleb als „Kollege aus Ganover“ vorgestellt wurde. Zuerst dachte ich, es sei eine Steigerung von Ganove. Wer weiß…
In unserem Hotel gab es vorsichtshalber erst Frühstück ab 10 Uhr. Dann aber gleich mit der Möglichkeit, es auch als Mittagessen einzunehmen. Wenn wir früh morgens die Hotelhalle betraten saßen ringsum schon Menschen, die auf die Öffnung des Speiseraumes warteten. Am zweiten Morgen haben wir es vorgezogen, uns einen eigenen Platz zum Frühstück zu suchen. Gar nicht weit entfernt, direkt gegenüber dem verfallenen ehemaligen Kino mit der Mosaikwand, auf der eine hochgestreckte Arbeiterfaust zeigt, wo es lang geht.
In dem gemütlichen kleinen Restaurant haben wir uns sofort zu Hause gefühlt. Erst habe ich gedacht, dass es nur an den ebenso freundlichen wie attraktiven jungen Frauen lag, die uns bedienten. Dann aber wurde mir klar, dass es an den Fotos an den Wänden lag: Bilder von Rotenburg ob der Tauber… Wow!
Zum Frühstück wurde uns eine Speisekarte vorgelegt. Lesen ging noch. Aber verstehen? Am dritten Morgen hatte ich Lust auf ein gekochtes Ei. Ich hätte gern ein gekochtes Ei. Ja freilich. Gekochtes Ei auf Englisch, auf französisch und sogar auf russisch (mein russisch): nichts zu machen. Ich habe ein Ei (oval) mit den Händen geformt und es in kochendes, sprudelndes Wasser gelegt (mit dem Esslöffel) : nichts zu machen. Aber dann ein Aufleuchten im Gesicht… Wir wollten gerade gehen, da kam das Ei – als Omelette. Wunderbar.
Jenissej, Liebestragödie und die Reise zum Polarmeer
Schon am Abend nach unserer Ankunft mit der TRANSSIB hatten uns Gleb und Nastija zu einem der Wahrzeichen der Stadt gefahren. Bei klirrender Kälte standen wir vor der Kapelle Paraskewa-Pjatniza (die Schutzheilige der Kaufleute). Die Kapelle steht auf einer Anhöhe. Frierend schauen auf die Lichter der Stadt. Kurz zum Aufwärmen in die Kapelle. Dann schnell zurück zum Auto. Bei Tag hat man von hier eine sehr schöne Aussicht auf die Stadt, die Stolby-Berge und den Jenisseij.
Gleb fragt uns: Kennt ihr die berühmteste Krasnojarskerin? Wer sollte das sein? Helene Fischer, die berühmte Schlagersängerin ist in Krasnojarsk geboren!
Heute ist Krasnojarsk ein bedeutendes wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles Zentrum. Es liegt 4.000 km östlich von Moskau – und geografisch in der Mitte von Russland.
In Krasnojarsk liegt das zweitgrößte Aluminiumwerk der Welt. Es gibt zahlreiche Betriebe im Bereich Maschinenbau, Leichtindustrie, chemische und holzverarbeitende Industrie. In der Umgebung von Krasnojarsk findet man viele Mineralien, Gold und Platin. Und Krasnojarsk ist eine Satdt des Sports. Eine Kaderschmiede für Olympiasieger und Weltrekordler.
So viele Eindrücke. Gleb und Nastja haben noch eine Überraschung für uns. Sie führen uns in eine typische mongolische Jurte zum Abendessen. Erst jetzt fällt mir ein, dass die Mongolei nicht so weit entfernt ist. Die mongolische Verknotung der Beine auf dem Sitzkissen war für mich gewöhnungsbedürftig. In fortgeschrittenem Alter aber vermutlich aussichtslos.
In den nächsten Tagen führt uns Gleb durch seine Stadt. Nicht wie einer der Stadtführer mit ermüdendem Wortschwall. Nein, eher wie ein Geist-Ergriffener: wie er uns von der herz-zereißenden Geschichte eines Menschen erzählt, der im Auftrag des Zaren um die Welt reist und in Bolivien – oder war es Brasilien? – beinahe zum Kaiser gekrönt worden wäre. Sich jedenfalls aber dort in der Fremde heftig in eine schöne Adelige verliebt. Ihr Vater und auch der Zar stimmen der Heiratet , weil jeder von beiden sich etwas davon verspricht. Erstmal jedoch reist unser Abenteurer zurück zu Mütterchen Russland und zu seinem Zaren, um alles für die Hochzeit vorzubereiten.
Er reist auf dem Landweg über Alaska (das damals noch zu Russland gehörte) und über Sibirien. (Die Transsibirischen Eisenbahn gibt es noch nicht, also mit der Pferdekutsche). Unterwegs wird er schwer krank. Er schleppt sich bis zum alten kosakischen Militärposten am Jenissei – eben nach Krasny Jar (übersetzt: schöner oder auch: roter Steilhang).
Und während wir ergriffen und erschüttert vor dem Denkmal dieses verhinderten Ehemannes und vielleicht sogar Kaisers stehen, schweift unser Blick über den Jenissej und die schneebedeckten Höhenzüge. Hier muss es gewesen sein. Was für ein tragischer Tod bei dieser grandiosen Aussicht! Unweit hiervon und ebenfalls mit Blick auf den Jenissej der Opern- und Theaterplatz. Davor das Denkmal des berühmten Dramatikers Anton Tschechow. Der hat Krasnojarsk aber offenbar – wenn überhaupt – nur als Durchreisender gesehen. Aber trotzdem Denkmal. Wegen der Kultur.
Beeindruckender als das etwas langweilige Dichterdenkmal die terrassenförmig angelegte Skulpturengruppe, welche den Jenissej als alten, aber dennoch ziemlich kraftstrotzenden Flußgott darstellt. Mitsamt der schönen Angara, die aus dem Baikalsee entspringt und sich nach vielen Windungen endlich doch mit dem Jenissej in Liebe vereint. Das aber konnte der Vater der schönen Angara nicht verhindern. Aus Zorn wirft er seiner Tochter einen dicken Felsbrocken hinterher den man noch heute im Baikalsee liegen sehen kann. Seine verliebte Tochter Angara aber machte eine Biege und weg ist sie in Richtung ihres geliebten Jenissej. So schwer ist das Leben manchmal für Väter – und noch viel schwerer für Töchter, sich aus väterlicher fürsorglicher Belagerung zu befreien…
Gleb zeigt uns in der Ferne die 1000 m lange Stahlgitter-Eisenbahnbrücke über den Jenissej, die bei der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 als hervorragendes Zeugnis russische Ingenieurskunst galt und – neben dem Eiffelturm – gebührend Eindruck machte. (Übrigens sind Kapelle und Brücke auf dem 10-Rubel-Schein abgebildet). Am Ufer des Jenissej hat der restaurierte Flussdampfer Swjatitel Nikolai festgemacht mit dem Lenin und seine Begleiter stromaufwärts unweit von Krasnojarsk in die Verbannung fuhren. Fast möchte man in den Song einstimmen „Ach, wärst du doch in Düsseldorf geblieben…“
Ein anderer ganzer Kerl, dessen Namen ich aber vergessen habe, hat von dem Geld, das er im Zusammenhang mit Glasnost und Perestroika sicherheitshalber beiseite genommen hatte und nun irgendwie anlegen wollte, der Stadt ein ägyptisches Museum vermacht. Es reichte ihm, dass es von außen ägyptisch aussah. Und das tut es auch. In seinem Inneren aber verbirgt sich ein landeskundliches Museum. Das vielleicht interessanteste und modernste seiner Art – in Sibirien.
Im oberen Stockwerk Abteilungen, die das Leben und Überleben in ostsibirischen Dörfern zeigen. Und andere Abteilungen, die das Leben und Überleben in der Sowjetzeit zeigen – von der Oktoberrevolution bis zu ihrer Auflösung Anfang der 90er Jahre. Im unteren Bereich sind Exponate aus der Kultur indigener Ethnien zu sehen, die auch heute noch zwischen Krasnojarsk und Polarmeer leben. Außerdem Exponate aus sibirischer Fauna und Flora. Anhand einer geografischen Übersichtstafel im Museum zeigt uns Gleb, wo wir sind. Ostsibirien. Hier der Jenissej. Etwa 4.000 km lang. Genau so lang wie von Krasnojarsk nach Moskau. Er entspringt 2000 km südlich von Krasnojarsk in der autonomen Republik Tuva – an der Grenze zur Mongolei.
Bei Krasnojarsk hat der Fluss etwa die Hälfte seiner Gesamtlänge erreicht. Nach weiteren 200 km fließt er mit der Angara zusammen, überquert den nördlichen Polarkreis und bildet weiter nördlich viele Flussarme. Schließlich weitet er sich see-artig und mündet im 200 km langen und 150 km breiten Jeniseijgolf, der zur Karasee gehört. Und die wiederum zum eisigen Nordpolarmeer.. Unterhalb des Jenisej-Golf liegt der Ort Ust-Port, wo man in den Permafrostboden einen natürlichen „Kühlraum“ gebaut hat zur Lagerung von Waren, die in den Sommermonaten per Schiff hierher gelangen.
Und dann berichtet uns Gleb von einer kleinen lutherischen Gemeinde dort oben ganz im Norden, die zu seinem „Kirchspiel“ gehört. Etwa 1.800 km nördlich von Krasnojarsk gelegen! Diese Gemeinde möchte er gerne besuchen. Bisher habe er noch keine Zeit dafür gehabt. Am besten würde das im im Juni nächstes Jahr gehen. Zwischen Mai und September ist der Jenissej schiffbar, aber ab Oktober kann er schon Eisschollen haben. Die Fahrt mit dem Schiff dauert sieben Tage. Eine Straße bis ganz dorthin gibt es nicht.
Zurück kann man in einem dieser ausge–musterten, einmotorigen Propellerflugzeuge fliegen. Da würde ich doch bestimmt mitkommen… Na und ob möchte ich das! Karin meint, die Schiffsreise würde sie auch gerne mitmachen, nur mit dem Flugzeug zurück, da sei ihr doch etwas mulmig. Dann doch lieber wieder mit dem Schiff zurück? Plötzlich fällt mir jene nicht-fliegende Holländerin ein, die wir in der Transsib trafen auf ihrer Zugfahrt von Amsterdam nach Peking. Hat ja auch was.
Schicksalsgemeinschaft
Heute ist Krasnojarsk ein bedeutendes wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles Zentrum. Es liegt 4.000 km östlich von Moskau – und geografisch in der Mitte von Russland. In Krasnojarsk liegt das zweitgrößte Aluminiumwerk der Welt. Es gibt zahlreiche Betriebe im Bereich Maschinenbau, Leichtindustrie, chemische und holzverarbeitende Industrie. In der Umgebung von Krasnojarsk findet man viele Mineralien, Gold und Platin. Und Krasnojarsk ist eine Satdt des Sports. Eine Kaderschmiede für Olympiasieger und Weltrekordler.
So viele Eindrücke. Gleb und Nastja haben noch eine Überraschung für uns. Sie führen uns in eine typische mongolische Jurte zum Abendessen. Erst jetzt fällt mir ein, dass die Mongolei nicht so weit entfernt ist. Die mongolische Verknotung der Beine auf dem Sitzkissen war für mich gewöhnungsbedürftig. In fortgeschrittenem Alter aber vermutlich aussichtslos.
Wir haben mit Gleb und Nastja zwei oder drei Gespräche über Politik und russische Geschichte geführt. Beide haben einen differenzierten Blick. Und beide sind auch über aktuelle Entwicklungen gut informiert. Unsere Gespräche haben mich auf Aspekte aufmerksam gemacht, die ich vorher nicht gesehen habe. Zum Beispiel engagiert sich die lutherische Gemeinde in Krasnojarsk in der Flüchtlingshilfe für Menschen, die aus der Ostukraine geflohen sind, Einige hundert von ihnen sind hierher gekommen – die meisten wohl deshalb, weil sie vorübergehend bei Familien-angehörigen oder Freunden wohnen können. IhreWohnungen und Häuser sind zerstört. Eine Zukunft für sich und ihre Kinder sehe n sie nicht mehr. Gleb betont, dass es ihn nicht interessiert, welche politische Auffassung diese Menschen haben. Er sieht ihre Not und organisiert notwendige Hilfe.
Spuren der Deportatation
Nach unserem Seminar sind wir mit Gleb drei Autostunden nach Westen gefahren, um in der Stadt ACHINSK mit einer seiner Gemeinden Gottesdienst und Abendmahl zu feiern. Die Gemeinde hat sich erst vor einigen Jahren zusammengefunden. Der Gottesdienst fand in einem großen Raum in der Stadtbibliothek statt, den eine Mitarbeiterin der Bibliothek organisiert hat. Im Gottesdienst waren etwa zwanzig Gemeindeglieder versammelt. Nur Frauen.
Nebenan fanden zeitgleich Deutsch-Sprachkurse statt. Wir wurden eingeladen, mit den Teilnehmenden ein wenig zu plaudern. Das haben wir gern getan. Auch in den Sprachkursen nur Frauen. Die meisten von ihnen haben Verwandte in Deutschland. Die betagten Eltern, die in Deutschland die übrige Lebenszeit verbringen möchten. Oder die Kinder mit ihren Familien, die sich in Deutschland eine bessere Zukunft erhoffen. Es ist oft schwierig, die Beziehung über eine so große Entfernung lebendig zu halten. Aber viele bemühen sich sehr darum. Dafür ist es gut, die Deutschkenntnisse immr wieder zu verbessern.
Ich habe in der Bibliothek überraschende Entdeckungen gemacht. Schriftliche Berichte von Menschen, die mit ihren Familien hierher transportiert wurden. Die meisten von ihnen „Wolgadeutsche“. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion in Viehwaggons geladen und nach Sibirien verfrachtet.
In Dörfer, deren Bewohner nicht wussten, wie sie sich gegenüber diesen Deutschen verhalten sollten. Es waren ja die Feinde und gleichzeitig war nicht zu übersehen, dass auch sie die Opfer des Krieges waren. In den ersten Wochen und Monaten gruben sich die Vertriebenen Erdhöhlen und hofften von Tag zu Tag neu, dass sich irgendjemand ihrer erbarmte und ihnen zu Essen gab..
Nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie der 2. Weltkrieg in Russland genannt wird, blieben die Vertriebenen dort wohnen, wo man sie „abgesetzt“ hatte. Sie bauten schließlich eigene Häuser und fanden Arbeit in den Fabriken oder in der Landwirtschaft. In einem Buch fand ich alte Fotos, die das Leben in den deutschen Siedlungen an der Wolga zeigten. Und in einem anderen Buch Zeichnungen eines Mannes, der viele Jahre in einem GULAG zubrachte und überlebt hatte.
In KRASNOJARSK gab es eines der mehr als 2.000 Lager für deutsche Kriegsgefangene. Die Lager in Sibirien boten – besonders am Anfang des Krieges – ein Bild des Grauens. Flecktyphus, Cholera und Ruhr wüteten unter den Gefangenen. Zwischen 1941 und 1945 gerieten
etwa 3 Millionen Soldaten der Wehrmacht in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Jeder Dritte von ihnen kam dabei um. Im Juni 1941 begann der Überfall auf die Sowjetunion.
Bis zum Ende des Jahres 1941 gab es 3,5 Millionen russische Kriegsgefangene. Von ihnen starben zwei Millionen durch Hunger und Seuchen. Insgesamt gab es fast sechs Millionen russische Kriegsgefangenen. Jeder zweite von ihnen überlebte die Gefangenschaft nicht. Dazu kamen fast drei Millionen sogenannte „OstarbeiterInnen“, die in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten zwangsrekrutiert wurden. Sie wurden vor allem in der Rüstungsindustrie im Reich eingesetzt. Kriegsgefangene und „Ostarbeiter“ sahen sich bei ihrer Rückkehr dem Vorwurf des Vaterlandsverrates ausgesetzt. Sie wurden in Stalins Arbeitslager nach Sibirien geschickt. Viele überlebten die Lager nicht.
Ein Gespräch über Politik führen – kann das gelingen?
Unser Eindruck war, dass wir über aktuelle Politik zurückhaltend und respektvoll reden sollten. Viele Menschen, die wir gesprochen haben, glauben, dass Volk und Führung in Russland deutlicher zusammenstehen als jemals vorher in deen letzten zehn oder zwanzig Jahren.
Den „Mann auf der Straße“ interessiert der Rubelverfall und die steigenden Preise weit mehr als die Vorgänge auf der Krim oder in der Ukraine. Das entbindet jedoch niemanden – weder im Westen noch in Russland oder der Ukraine – als Bürger und homo politicus sich sorgfältig und umfassend zu informieren und eine eigene verantwortliche Position zu den Ereignissen auf der Krim und in der Ostukraine zu beziehen.
… zum Beispiel über die Krim
Die Annexion der Krim ist ein klarer Bruch des Völkerrechtes und darf nicht hingenommen oder nachträglich legitimiert werden. Auch nicht durch berechtigte russische Interessen an der Krim. Russland rechtfertigt die Annexion dadurch, dass die Mehrheit der Bevölkerung Russland um Hilfe gerufen hat. Es hat auf der Krim jedoch keine Unterdrückung der Rechte irgendeiner Volksgruppe gegeben.
Die russische Regierung beruft sich darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim russisch-sprachig sei und sich der russischen Kultur und Geschichte verbunden weiß. In der Tat trifft dies zu. Aber man darf auch hier nicht geschichtsvergessen sein. Die Bezeichnung der Krim leitet sich wahrscheinlich vom Krim-tatarischen qrum „Felsen“ oder „Festung“ ab. In den klassischen griechischen Sagen wird das Volk der Taurer erwähnt, die hier wohnten. Hier könnte auch der Ort sein, wo das „Goldene Vlies“ vermutet wurde. Gleichzeitig mit den Griechen stießen die Skythen auf die Krim vor. Später stand die Krim unter römischer Herrschaft.
Im Zuge der Völkerwanderung unter gotischer Herrschaft. (In der Nazi-Propaganda wurde die Krim deshalb als germanisch betrachtet; die Rückeroberung der Krim für das neue Deutschland war da nur logisch!). Dann wurde die Krim byzantinisch bevor sie im 5. Jahrhundert von den Hunnen und im 13. Jahrhundert von den Tataren beherrscht wurde. In dem selben Jahrhundert folgte die venezianische, genuesische und osmanische Herrschaft bis es im 18. Jahrhundert unter Katharina der Großen „von nun an und für alle Zeiten“ in das Russische Zarenreich eingegliedert wurde.
Im Bürgerkrieg hielten Weiße Garden die Krim besetzt. Nach der Niederlage General Wrangels marschierte die Rote Armee ein. Es ist kaum bekannt, dass nach der Oktoberrevolution auf der Krim kurzzeitig ein eigener Staat: die Volksrepublik Krim entstand. Sie existierte nur wenige Monate, war jedoch der erste erfolgreiche Versuch in der islamischen Welt, einen souveränen Staat zu etablieren, welcher säkular und demokratisch war. Die Hauptreligion (aber nicht die offizielle Staatsreligion) war der sunnitische Islam. Die Amtssprache war Krim tatarisch und Russisch.
In der Verfassung dieses Staates wurde die Gleichheit aller ethnischen Gruppen festgeschrieben. Allerdings war schon damals fast die Hälfte der Bevölkerung russisch, etwa zehn Prozent waren Ukrainer. Daneben gab es die kleineren Ethnien der Armenier, Pontos-Griechen und Krim-Deutschen. Obwohl die Krimtataren nur ein Drittel der Bevölkerung stellten, waren sie trotzdem die bedeutendste Bevölkerungsgruppe innerhalb des politischen und kulturellen Lebens des Staates.
Im Februar 1918 wurde dieser Staat durch die Rote Armee zerschlagen und in die Sowjetunion eingegliedert. Bei der Besetzung der Krim durch die deutsche Wehrmacht kollaborierten die dort lebenden Tataren vielfach mit der Wehrmacht. Nach dem Abzug der Wehrmacht ließ Stalin die Krimtataren nach Zentralasien zwangsdeportieren – so wie zuvor schon die Wolgadeutschen.
Im Jahre 1954 wurde die Krim durch Chruschtschow in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert. Bis heute ist nicht klar, warum dies geschah. War es eine der bekannten Launen Chruschtschows, der selbst Ukrainer war oder war es eine wirtschaftliche Überlegung? Nach einem Anfang 1991 abgehaltenen Referendum wurde die Ukraine ein souveräner Staat. Die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine wurde auch durch die damalige sowjetische Regierung bestätigt. Nach der Annexion der Krim durch Russland fühlen sich die Krim-Tataren erneut bedroht. Sie fühlten sich sicherer unter ukrainischer Herrschaft. Jetzt haben sie den Eindruck, dass Russland sie wieder von der Krim vertreiben will.
… und über die Ukraine
Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde von Millionen Menschen als Katastrophe erlebt. Die USA haben damals die Schwäche Russlands ausgenutzt und in triumphaler Siegerpose die alleinige Führungsrolle in der Welt reklamiert. Die große Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass die neue Regierung unter Putin die erlittene Schmach tilgen und Russland zu neuem Ruhm und neuer Ehre führen kann.
Dazu gehört die Besinnung auf einstige sowjetische Macht und Größe ebenso wie eine Besinnung auf die Ursprünge der eigenen Geschichte: Ist Kiew die „Wiege Russlands“. Sind die Kiewer Rus die Vorfahren der heutigen Russen? Es gibt Stimmen in Kiew, die sagen: Umgekehrt, bei uns sind die Ursprünge und Russland ist später einfach dazu gekommen…
Russland ist daran interessiert, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit seinen Nachbarstaaten zu etablieren. Eine eurasische Zollunion – nicht unähnlich der Gründungsidee der EWG aus der später die EU entstand. Als bedeutende Staaten gehören Weißrussland und Kasachstan bereits dazu. Russland hat das Wirtschaftsabkommen der Ukraine mit der EU stets als Bedrohung der eigenen Interessen gesehen.
Im Jahre 1999 distanzierte sich Russland unter Putin von der Charta von Paris, in der die gemeinsame Bekräftigung des Völkerrechts und der Demokratie festgehalten war und verstärkte gezielt die eigenen nationalen Interessen. Russland begann, sich vom „dekadenten Westen“ zu distanzieren. Auch unter zu Hilfenahme der orthodoxen Kirche, die als system- stabilisierend gesehen und deshalb priviligiert wird.
Das Selbstbestimmungsrecht in der Ukraine als souveräner Staat muss akzeptiert werden. Dem Vorwurf von russischer Seite, in der Ukraine seien vor allem Faschisten am Werk muss entgegengehalten werden, dass bei den Wahlen im Oktober 2014 alle Rechtsparteien unter fünf Prozent geblieben sind. Russland möchte die Ukraine in seiner Einflurspäße halten. Jetzt steuert der Ukraine-Konflikt auf
einen „frozen conflict“ hin. Je länger eine friedliche Konfliktlösung hinausgeschoben wird, desto mehr läuft es auf eine jahrzehnte-lange instabile politische Situation hinaus. Vielleicht reicht es aber Russland schon, die Ukraine zu destabilisieren und so eine mögliche Aufnahme in die EU zu verhindern.
In letzter Zeit ist öfter von „Neurussland/ Novorossija“ die Rede im Zusammenhang mit Versuchen, die östlichen Gebiete der Ukraine um Donezk und Lugansk zu destabilisieren und für Russland zu reklamieren. Es ist ein Gebiet, das die südliche und östliche Ukraine sowie Bessarabien umfasste und ab 1764 als „Novorossija“ bezeichnet wurde. Ein Gebiet, das vor der Eingliederung ins Russische Reich zwischen Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und dem Russischen Reich umkämpft war.
Die ständigen Überfälle durch die Tataren des Krim-Khanats bewirkten, dass dieses Gebiet trotz der fruchtbaren Schwarzerde lange Zeit nur gering besiedelt blieb. Die im Dienst der Zarin stehenden Kosaken eroberten das Gebiet für Russland und es folgte – insbesondere nach dem Russisch-Türkischen Krieg (1768-1774) eine breit angelegte Kolonisierung, die von Katharina der Großen eingeleitet und gefördert wurde. In kurzer Zeit entstanden Städte wie Odessa, Sewastopol, Dnipropetrowsk, Alexandrowsk, Cherson und Mariupol und andere – Städtenamen, die in den Nachrichten über die Ostukraine und der Krim immer wieder erwähnt werden.
Ab 1946 ließ Stalin im Zuge der sogenannten „Westverschiebung“ eine halbe Million Ukrainer Richtung Westen deportieren und weitere hunderttausende Ukrainer nach Sibirien deportieren und Russen anstelle der Vertriebenen ansiedeln. Heute muss man in diesem Zusammenhang von ethnischen Säuberungen sprechen. Die Ukrainer haben wenig Grund ein ungestörtes Verhältnis zu Russland zu haben.
Die „Westverschiebung“ hatte auch Folgen für die Polen aus Galizien: sie wurden in die deutschen Ostgebiete nach Schlesien und Ostpreußen, Westpreußen und Posen zwangsumgesiedelt und lebten noch viele Jahre nach dem Krieg in der ständigen Ungewißheit, ob die vertriebenen Deutschen nicht eines Tages zurück kommen. Und die mehr als vier Millionen aus dem Osten vertrieben Deutschen suchten Zuflucht im verbliebenen Deutschland, das inzwischen in vier Besatzungsgebiete aufgeteilt war.
Auf dem Hintergrund dieser Nachkriegsgeschichte fällt auch ein Licht auf die „Westverschiebung“ der polnischen Bevölkerung aus Galizien, mit dem Zentrum Lwow/Lwiw/Lemberg, das nach den polnischen Teilungen einmal zu Habsburg-Österreich gehörte. Maria Theresia und ihr Sohn Josef II. ermöglichten durch ein Toleranzedikt gegen Andersgläubige (anders, als katholisch) , dass viele Protestanten – besonders aus der Pfalz – sich in Galizien. Sie waren die ersten Opfer der ethnischer Säuberungen, die auf grausame und unvorstellbare Weise folgten.
Erst durch die „Umsiedlungspolitik“ aufgrund des „Hitler-Stalin-Paktes“ wurden diese deutschen Siedler in den Warthegau, also um die Stadt Lodzs zwangsumgesiedelt und nach dem Ende des Krieges Westen verstreut. Es ist zynisch, wenn Putin die Ukraine als unreifen Staat bezeichnet. Zugegeben: die Ukraine ist ein nicht unkompliziertes politisches Gebilde. Der Westen mit
einer starken europäischen Bindung und geschichtlichen Nähe zu Polen und Litauen. Der Osten, spätestens seit Katharina der Großen „russisch“. Dazu die Krim, Charkow/Charkiv mit einer eigenen Geschichte und Odessa als Vielvölkergemisch mit seiner Offenheit zum Meer und zur Welt. Wie kann dies alles zusammengehalten werden?
Jedenfalls nicht durch Krieg und Gewalt, sondern allein durch Verhandlungen, deren Ziel es ist, durch Einhaltung des Völkerrechts und geschlossener Verträge in gegenseitigem Respekt – auch gegenüber den jeweiligen Interessen – zu Vereinbarungen zu kommen, die dem allgemeinen Rechtsverständnis und dem Frieden dienen. Dazu gehört gegebenenfalls auch die Bereitschaft zu Kompromisslösungen. Vor allem aber wird eine friedliche Lösung darin bestehen, das gemeinsame Wohl im Blick zu behalten.
Die vom Westen ausgesprochenen Sanktionen zeigen inzwischen Wirkung – auf beiden Seiten. Es wird immer deutlicher, dass Russland sich zu sehr auf seine natürlichen Ressourcen Öl und Gas verlassen hat und nicht genügend voran gekommen ist mit dm Aufbau einer modernen Wirtschaft. Die Modernisierungspartnerschaft mit dem Westen wäre dafür nötig – und steht jetzt in Frage.
Der Westen kann auf mittlere und schon gar nicht auf lange Sicht daran interessiert sein, dass die russische Wirtschaft zum Erliegen kommt. Der europäische Westen und Russland sind eine Schicksalsgemeinschaft. Es ist respektlos und arrogant, wenn Obama von Russland als „regionaler Macht“ spricht. Es darf die Hoffnung nicht aufgegeben werden, zu einer von allen gewollten und akzeptierten friedlichen Lösung zu kommen. Europa kann kein Interesse daran haben, dass Russland in eine wirtschaftliche und soziale Schieflage kommt. Es ist in beider Interesse, dass es auch dem jeweils anderen gut geht.
In den aktuellen Nachrichten lesen wir, dass Putin versucht, China und die Türkei als neue Wirtschaftspartner zu gewinnen. Eine verrückte Konstellation, denn seit zweihundert Jahren fürchtet Russland, dass das dicht besiedelte China den russischen Fernen Osten annektieren könnte. Aus dieser Befürchtung heraus wurde die TRANSSIB gebaut. Nicht nur um den russischen fernen Osten wirtschaftlich zu erschliessen, sondern auch, um gegenüber China Stärke zeiugen zu können.
Und mehr als dreihundert Jahren bedrohten Turkvölker die russische Südflanke. Erst der von Russland erfolgreich geführte Krieg gegen das osmanische Reich brachte Sicherheit. Russland sieht sich nach wie vor in der besonderen Rolle als Verteidiger des christlichen Abendlandes – was immer man darunter versteht. Angefangen von der Rolle Moskaus als „drittes Rom“ nach dem Verlust von Konstantinopel über die aktive Rolle, die Russland bei der Befreiung des Balkan von den Türken spielte bis hin zu den andauernden blutigen Kämpfen in Tschetschenien. Wer von uns weiß denn noch, dass sich Bulgarien nur mit Hilfe Russlands vom osmanischen Reich lösen konnte? In mancher Hinsicht sieht sich Russland in einer geschichtlichen Verbundenheit mit den südosteuropäischen Ländern, einschlißlich Griechenland und Armenien. Der gemeinsame Glaube spielt dabei eine wichtige Rolle.
Der frühere russische Präsident Jelzin hat einmal gesagt, der Westen solle Russland gefälligst mit „Sie“ anreden. Russland ist nach wie vor eine Großmacht mit großer Geschichte und bedeutender Kultur. In allen Gesprächen sollte der Westen dies nicht vergessen. Aus russischer Sicht kann es nicht etwa darum gehen, Russland eines Tages in die EU zu integrieren oder darum, sich mit der EU zu assoziieren. Vielmehr sehen viele Menschen in Russland es so, dass das dekadente und nur auf das Materielle fixierte Europa von Russland erlöst werden sollte. Gerne hätte ich über diese Dinge noch mehr diskutiert. Aber das wichtigste ist, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und das Mögliche mutig und zuversichtlich zu tun. Gemeinsam.
Schneewanderung im Stolby-Nationalpark
An unserem letzten Tag in Krasnojarsk haben wir mit Gleb und Nastja einen Ausflug in den Nationalpark Stoby gemacht, der unweit der Stadt am rechten Ufer des Jenissej liegt. Stolby bedeutet: Pfähle und weist auf die zahllosen Granitfelsen hin, die wie Pfähle aus der Erde wachsen. Die ganze Stadt schien auf dem Weg in dieses beliebte Wandergebiet unterwegs zu sein.
Bis zu den sehr eindrücklichen Felsformationen wanderten wir drei Stunden hin – und dann drei Stunden zurück. Und dies auf schneeglatten Wanderwegen. Die vielen Wanderer hatten den Schnee eisglatt werden lassen. An manchen Stellen waren es vor allem die Kinder, die sich einen Spaß daraus machten, die steilen Stellen herunter zu schlittern. Wir kamen müde und glücklich wieder im Gemeindehaus an. Und es tat ja so gut, als Gleb und Nastja sagten, dass wir die Wanderung durchstehen würden…
Novosibirsk und Abschied
Am nächsten Mittag brachte uns Gleb zum Bahnhof und an den Zug, der uns nach zwölf Stunden Fahrt nach NOVOSIBIRSK bringen würde. Mit großer Dankbarkeit schauen wir auf unsere Zeit in Krasnojarsk zurück und freuen uns schon aufs Wiedersehen mit den beiden Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind.
Es ist inzwischen eine Stunde nach Mitternacht als wir im Bahnhof in NOVOSIBIRSK ankommen. Der Bahnhof: ein imposanter, riesiger Bau. In typischem Grün. Ein etwa 80 Meter langer und 50 m breiter Wartesaal. Fahrgäste hängen schlafend oder dösend auf den Stühlen. Wir haben Hotelzimmer direkt im Bahnhof gebucht. Schließlich finden wir heraus, dass die Zimmer im Stockwerk über dem großen Wartesaal liegen. Auf einer Art Galerie, die rings um den Wartesaal führt. Wir schleppen unser schweres Gepäck auf die Galerie hoch. Kein Fahrstuhl in Sicht. Gehbehindert sollte man hier auf Reisen lieber nicht sein. Schweißgebadet kommen wir schließlich an einer Art Rezeption an.
Wir versuchen, der Rezeptionistin zu erklären, dass wir vorbestellt hätten. Sie wendet uns den Rücken zu. Weigert sich, unser gebrochenes Russisch zur Kenntnis zu nehmen. (Wir hatten bis dahin nicht gedacht, dass es so grauenvoll war). Unsere Rezeption ist offensichtlich schwer getroffen. Mit Hilfe einer anderen Mitarbeiterin gelingt es, dass sich die Dame an der Rezeption uns doch noch gnädig zuwendet.
Auf dem Weg zu den Zimmern gehen wir in einer Art erhöhtem Klostergang entlang. Von hier gehen alle Zimmer ab. Wie Klosterzellen, denke ich. Wir treffen uns an der Brüstung des Umlaufs mit Blick auf den Wartesaal für ein Glas Bier und schauen hinunter auf den Wartesaal. Ich habe das Bild vor Augen: Sommerurlaub. Auf dem Balkon. Vielleicht ist es die Wärme durch die hochgestellte Heizung, die nicht zu regulieren ist… Noch vier Stunden Schlaf. Der Weck-Service reißt mich aus dem Schlaf. Wo bin ich? Ich höre aus dem Lautsprecher des Wartesaals Lautsprecherdurchsagen: Zugabfahrtszeiten. Dann höre ich Vogelgezwitscher. Offenbar haben einige Vögel ihr Zuhause im Wartesaal. Zugvögel eben.
Auf dem Weg zum Bus, der uns zum Flughafen bringen soll macht sich oben auf dem Treppenabsatz mein Koffer selbständig. Er fällt polternd die Treppe runter. Wie in Zeitlupe schaue ich zu. Der Koffer bleibt direkt vor einer großen Fensterscheibe liegen. Die Scheibe bleibt zum Glück heil. Wäre er auch noch durch die Scheibe gefallen hätten wir vermutlich noch längere Zeit bleiben dürfen. Aber alles ist gut gegangen.
Wir stehen jetzt auf dem Bahnhofsvorplatz und warten auf den Bus. Es ist kalt. Der Bus fährt erst in einer halben Stunde. Wir danken daran, ein Taxi zu nehmen. Wir bitten einen jungen Mann, uns beim Verhandeln des Preises für die Taxifahrt behilflich zu sein. Dazu ist er gerne bereit. Er erklärt uns, dass die 25 € für die Taxifahrt allerdings viel zu viel und die Taxifahrer Halsabschneider sind. Wir sollten doch besser weiter auf
den Bus warten. Wir wären ohne weiteres bereit gewesen, den üblichen Preis für die Taxifahrt zum Flughafen zu zahlen. Aber wir stehen irgendwie beschämt da, denn für den jungen Mann sind 25 € offenbar ein Vermögen. Wahrscheinlich mindestens ein Zehntel seines Monatseinkommens. Der Flughafenbus kommt pünktlich. Die Fahrt dauert 40 Minuten. Dann sitzen wir wieder im Flugzeug. Von Nowosibirsk nach Moskau. Nur vier Stunden.
Dann hat uns Europa wieder.
Hannover im November 2014