Studienreise nach Äthiopien

von Lalibela im abbesynischen Hochland zu den kleinen Ethnien im Süden

Ich weiß, ich sollte vielleicht einmal von etwas anderem erzählen als von Äthiopien. Zum Beispiel von einer Reise zum Vulkan Ricon de la Vieja. Aber das kann ja noch kommen…Also noch einmal Äthiopien, das ich mir im Laufe der letzten zwanzig Jahre vertraut gemacht habe. Weiß nicht, weshalb mir diese Formulierung vom „vertraut machen“ gerade eingefallen ist. In der berühmten Geschichte Der Kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry macht sich der kleine Prinz den Fuchs vertraut. Und der zeigt ihm, wie das geht. Auf ähnliche Weise vielleicht haben mir die Menschen in Äthiopien gezeigt, wie es geht, sich ein fremdes Land vertraut zu machen. Dieses wunderbare, wilde und geheimnisvolle Land am Horn von Afrika.

In den Jahren vorher ging es für mich meistens um kirchliche Kontakte, Seminare und Projekte. Dieses Mal sollte es eine Studienreise werden. Eine Reise vom Norden in den Süden. Von den Schluchten des Abbesynischen Hochlands bis zu den Tee- und Kaffeplantagen des Südens. Von den semitischen Amharen zu den kleinen Ethinen unweit der Grenze zu Kenya. Von der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche zu den natur-religiösen Kulturen der Konso, Hamer und Mursi.

Wie alles anfing

Vor einem halben Jahrhundert war studierte ich in Tübingen. Schon damals war ich reiselustig. Nicht von ungefähr war ich also – gemeinsam mit etwa zehn anderen Kommilitonen – im „AStA-Reisedienst“ tätig. Einer studentischen Organisation, die Reisen organisierte. Für die ausländischen Kommilitonen Reisen nach München und Schloss Neuschwanstein, Rothenburg ob der Tauber und Heidelberg mitsamt Schwetzinger Festspielen. Für die deutschen Kommilitonen Reisen nach Moskau, Leningrad und Prag – sozusagen das 68er-Pflichtprogramm. Aber auch Kultur-Städtereisen nach Florenz, Rom, und Paris. Ich habe also nebenbei „Reisekaufmann“ gelernt. Von der Ausschreibung der Reise, Organisation und Durchführung bis hin zur Abrechnung. An diese Erfahrungen konnte ich – zugegeben etwas spät anknüpfen. Nur an die Abrechnungen konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Bei meinen Projekten in Äthiopien habe ich oft die Erfahrungen, dass in organisatorischer Hinsicht hier nichts klappt. Vielleicht beim dritten Versuch. Und dann ganz unerwartet und anders, als man sich ursprünglich vorgestellt hat. Es war deshalb irritierend für mich, dass auf dieser Reise praktisch alles gut geklappt hat. Ich sollte meine Vorurteile überprüfen. Auf jeden Fall ist mir am Ende der Reise ein Stein vom Herzen gefallen. Alles gut gelungen und alle Mitreisende zufrieden und begeistert von den tollen Erlebnissen.

Unsere Reisegruppe

Wir waren eine geradezu ideale Reisegruppe. Überwiegend ältere Semester, aber im Durchschnitt zehn Jahre jünger als ich….Wolfhard hatte sich auf bewundernswerte Weise darum gekümmert, dass aus unserer Reise auch wirklich eine Bildungsreise wurde. An einigen Abenden hörten wir von ihm Einführungen in die Welt der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche. An anderen Abenden etwas über die Oromo und die Völker im Süden. Dazu bekam jeder von uns kalligrafisch und buchbinderisch kunstvoll gestaltete Broschüren an die Hand.

Andrea führte uns in die Welt der Pflanzen ein. Sie zeigte uns, wie aus Samenkörnern kleine Pflanzen entstehen. Überall auf der Reise sammelte sie Samenkörner und richtete eine Miniatur-Saatzuchtanlage in ihrer Handtasche ein.. Ab und zu musste die Anlage bewässert werden. Wir waren verblüfft, was sie im Rahmen der Polytechnischen Oberschule zu DDR-Zeiten alles theoretisch und praktisch gelernt hatte.

Friedel und Saskia waren unsere mitreisenden Schiffsärzte aus Berlin. Friedel musste auf dem Hinflug gleich notfallmäßig tätig werden, als ein Fluggast in Ohnmacht fiel. Friedel war da eine große Hilfe. Ich weiß nicht, was er der Frau gesagt hat, aber jedenfalls kam sie zur Besinnung. Irritierend fand ich nur, dass Friedel ein paar mal betonte, dass er schließlich im Ruhestand sei. Innerlich habe mich von da an mehr an Saskia gehalten.

Tony mit seinem britischen Pass brachte die Gruppe manchmal in Verlegenheit. Es war mir nie ganz klar, ob man ihn nach dem ganzen Brexitgeschehen überhaupt wieder nach Deutschland einreisen lassen würde. In der Churchill Avenue in Addis Abeba hatte ich für ihn in Gedanken schon eine kleine Pension reserviert. Tony lieferte oft herrliche Kostbaren englischen Humors. Meistens waren es kleine Nebenbemerkungen, deren Witz man erst mit Zeitverzögerung merkte. Aber das war vermutlich schon Teil des Witzes.

Gerlinde löste auf ihre unnachahmlich charmante und entwaffnende Art viel Chaos bei den Kontrollen am Flughafen aus. Wenn sie gedankenverloren durch den Body-Scanner der Kontrollen huschte, spielten alle Signaltöne und -lichter verrückt. Sie versuchte dann auf hoch-sächsisch den Zuständigen klar zumachen, dass sie eigentlich ganz harmlos sei. Sie sei nur in gewisser Weise eine eiserne Lady, weil sie diese Titanplatten zwischen den Knochen trägt seit sie von der Leiter gefallen ist. Wenn die menschen etwas verdaddert guckten erklärte sie ihnen in allen Einzelheiten, dass ihr Chirurg die Platinverbindungen extra tief (wie beim Manta, fiel mir ein) gelegt habe, um unauffällig durch die Kontrollen zu kommen. Bei meinen Gerlinde-Rettungsversuchen war ich selten auf Anhieb erfolgreich. Einmal versuchte ich den Kontrolleuren die Sache über den Umweg mit dem Gewicht zu erklären: Man stelle sich bitte vor, dass diese kleine, zarte Person zwar 40 Kilo wiegt, aber nach ihrer OP zur Hälfte aus Stahl besteht. Naja, irgendwie kam Gerlinde dann doch mit ihren Sachen durch.

Andrea, Randi, Albert und ich spielten abends gerne noch ein paar Runden UNO. Nach einem anstrengenden Reisetag ging das gerade noch. Albert hatte anfangs noch betont, dass für ihn Schummeln gar nicht ginge. Dann stelle sich aber heraus, dass er in seinen letzten Jahren als Lehrer endlich begriffen habe, dass Schummeln zur Natur des Menschen gehört und der Kampf dagegen aussichtslos ist. Bei Schülern sowieso. Bei uns war ihm das schon am ersten Abend klar.

Mensch Albert! Vor mehr als fünfzig Jahren haben wir zusammen in einer Klasse die Schulbank gedrückt. Und jetzt gehen wir als zwei alte Herren gemeinsam auf Reisen! Die Anekdoten aus der Schulzeit standen gar nicht mehr im Vordergrund, sondern das Gespräch über unser Leben. Dass dies so gut möglich war, hat mich angerührt.

Randi hat uns beim UNO-Spielen oft dazu gebracht, dass wir uns vor Lachen gebogen haben. Zu spät habe ich gemerkt, dass dies immer der Moment war, wo Randi ganz unauffällig die Karten vertauscht hat. Das glaube ich zumindest, denn sonst hätte sie unmöglich so oft gewinnen können….

Jane war diejenige, die auf unspektakuläre, freundliche und verlässliche Weise die Dynamik der Gruppe zusamengehalten hat. Zwei Menschen mit Britischem Pass, aber englischer bzw. schottischer Sozialisation: wie würde das wohl gehen? Es ging prima! Jane hat sich auf der Reise zweifach ausgezeichnet: zum einen weil sie Michael in der üblen Zeit eines bakteriellen Magen-Darm-Infektes fürsorglich und gelassen begleitete und der Gruppe signlisierte: Ich kümmere mich! Keine Sorge! Zum andern, weil sie (weitgehend) unbeeindruckt blieb vom bakteriellen Angriff, der einen in kurzer Zeit völlig ausser Gefecht setzen kann.

Marliese war die eigentliche Initiatorin dieser Reise. Ich bin dankbar, dass wir einander auf dieser Reise neu und anders begegnet sind. Bei all den körperlichen und emotionalen Anstrengungen einer solchen Reise habe ich die geradezu unerschöpfliche Energie von Marliese bewundert. Aber auch ihre Fähigkeit, sich nicht zu viel zuzumuten. Grenzen zu setzen und für sich zu sorgen. Marliese ist eine outgoing personality. Sie ist nicht auf den Mund gefallen und nutzt die Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation. Beeindruckt hat mich ihre Bemerkung: „Wenn ich aufhöre zu Reden, dann geht es mir nicht gut. So weiß man immer, wie es mir geht.“

Erste Eindrücke

Die ersten Eindrücke vom Land und den Menschen: Gewimmel und Lärm. Der Moloch Addis lebt! Nicht angedeckte, ellenbogen-breite und und hüftknochen-tiefe Löcher auf Gehwegen und Strassen. Und dann unzählige blau-weiße Minibusse mit davor wartenden Menschen. Oft ordentlich schlange-stehend. Aber aus der Ordnung kann in einer Sekunde eine chaotische und beängstigend drängende Masse Mensch werden, die es in ein Fahrzeug treibt. Nach deutscher Verkehrsordnung gibt es im Fahrzeug vermutlich zehn Plätze plus Fahrer. Im normalen Betrieb in Addis fasst ein Minibus-Taxi mindestens fünzehn Passagiere. Nicht selten auch mehr. Vor den Minibussen lautes Ausrufen der jeweiligen Fahrtziele: Shiromeda! Shiromeda!

In den letzten Jahren habe ich im Gästehaus der Swedish Mission im Stadtteil Shiromeda übernachtet. Alle Gebäude sind inzwischen der Mekane Yesus Kirche übergeben worden und die Mission hat ihre Tätigkeit im ganzen Land beendet. Noch immer ist im Gästehaus etwas von der rustikalen und gemütlichen skandinavischen Atmosphäre zu spüren. Aber seit der Übergabe ist nichts mehr an den Gebäuden gemacht worden. Slit och släng! – Verschleiß es und schmeiss es weg! Würde man in Schweden sagen. In all den Jahren wurde nichts repariert. Nichts oder nur sehr provisorisch repariert. Vieles verkommt. Die Küche ist versifft. Das meiste Geschirr und Besteck verschwunden. Die Duschen oft ohne Warmwasser und wegen der offen liegenden elektrischen Drähte etwas für Wagemutige. Es tut mir weh, mit anzusehen, wie der Verfall von Jahr zu Jahr voranschreitet. Aber es ist eine Schande, wenn so unachtsam mit (geschenktem) Eigentum umgegangen wird. Die Einnahmen aus dem Gästehausbetrieb werden nicht re-investiert, sondern für anderes verwendet. Solange, bis hier jedenfalls europäische Gäste nicht mehr übernachten wollen. Dann werden die Einnahmen fehlen. Personal wird entlassen und das Ganze mehr und mehr dem Verfall preisgegeben. Das ist die traurige Perspektive, die von vielen beklagt wird, die mit Afrika verbunden sind. Natürlich nährt das die bekannten Vorurteile. Aber Schönreden kann man es auch nicht.

Am Anfang unseres Besuches in Addis Abeba wollen wir einen Blick von oben auf die Stadt werfen.Dazu fahren wir vom Sedist Kilo Platz die lange Strasse nach Norden zum Entoto hoch. Der Entoto ist ein Höhenzug, der die Stadt im Norden begrenzt. Von hier hat man den besten Blick auf Addis. Vor allem kurz vor Sonnenuntergang. Dann hat man die Abendsonne im Rücken. Einen klaren Blick auf die Stadt hat man jedoch nie. Die dicken Abgaswolken hängen über der Stadt wie eine Dunstglocke. Man hält unwillkürlich die Luft an, wenn man gezwungen ist, hinter einem der stinkenden Fahrzeuge her zu fahren. Eine Befreiung, wenn es gelingt, den Stinker zu überholen.

Im Stadtteil Shiromeda befindet sich der wohl bekannteste textile market in Addis. Hunderte von kleinen Läden reihen sich aneinander. Wir fahren die Strasse weiter und höher hinauf. Dor, wo die Serpentinen anfangen, beginnt der Eukalyptuswald. Zur Zeit von Kaiser Memelik II. wurde über all im Land Eukalyptus angepflanzt, weil das Land kahl geschlagen war. Man brauchte Holz. Und Eukalyptus, der – wie man sagt – aus Australien hier eingeführt wurde versprach schnelle Abhilfe. Ein idealer Baum zur schnellen Wiederaufforstung.

Nach dem Fällen eines Eukalyptus wachsen in kurzer Zeit starke Triebe nach. Das Holz ist hart und hat bis in die Krone kaum Äste. Sehr gut geeignet für den Hausbau. Überall ragen bis heute atemberaubende Konstruktionen von Baugerüsten in den Himmel. Aber jetzt hat man begriffen, dass der Eukalyptus auch ein Fluch ist. Die tiefen Pfahlwurzenls senken den Grundwasserspiegel, sodass der Boden erodiert und das Land austrocknet. Überall kann man das bei Fahrten durchs Land sehen. Auf dem Weg zum Entoto kommen uns viele Frauen entgegen mit riesigen Bündeln Sammelholz auf dem Rücken – oft schwerer als sie selbst. Sie holen das Holz hier vom Berg und schleppen es kilometerweit bis in die Stadt, um es dort zu verkaufen. Tagaus tagein. Der Erlös reicht nur knapp für den eigenen Tagesbedarf.

Kaiser Menelik II

Der Entoto-Höhenzug im Norden von Addis Abeba war der Ort für ein strategisch geeignetes Militärlager von Kaiser Menelik II. in einer Region, die zuvor seit mehreren Jahrhunderten von den Oromo bewohnt war. Das erklärte Ziel des Kaisers war es , das Siedlungsgebiet der Oromo zu erobern. Die Oromo leben seit fünfhundert Jahren im Südwesten Äthiopiens. Sie gehören zur Sprachfamilie der Kuschiten. Das heißt, sie sind sprachlich, kulturell und ethnisch deutlich unterschieden von den semitischen Amharen und Tigray. Das Gebiet der Oromo reichte im Osten bis zur Halbwüste des Ogaden und bis Somalia. Im Westen erstreckte es sich bis zur zur Quelle des Blauen Nil und bis an die Grenze zum – damals anglo-ägyptischen – Sudan. Die Stadt Gambela war eine Art Gegenstück zum französischen Djibouti am Roten Meer. Gambela – am schiffbaren Baro-Fluss gelegen – war ein Umschlagplatz für Waren aus dem Inneren Afrika über den Weißen Nil bis Khartoum und weiter bis Kairo. Im äußersten Süden und Südwesten lebten viele kleine Ethnien, die bis heute ihre Kultur und Sprache bewahren konnten. Der Besuch dieser Ethnien war unser vornehmliches Reiseziel.

Menelik II ließ sich moderne Rüstungsgüter vor allem von Italien liefern. Italien seinerseits hoffte, von den Auseinandersetzungen zwischen dem eher auf Versöhnung bedachten Kaiser Yohannes IV und dem Machtmenschen Menelik II zu profitieren. Das unmittelbare Ziel von Italien war es, Eritrea als Kolonie zu bekommen.

Menelik II gelang es in wenigen Jahren den Südwesten des heutigen Äthiopien – also das angestammte Land der Oromo – zu erobern. Das freie und stolze Volk der Oromo wurde massiv unterdrückt, ihr Land ausgebeutet, ihre Sprache an Schulen und im öffentlichen Bereich verboten. Aus Sicht der oromo hat Menelik II sich ebenso wie die europäischen Kolonialmächte schuldig gemacht im Hinblick auf Kolonialisierung, Ausbeutung und Unterdrückung. Und tatsächlich sassen bei der „Berliner Konferenz“ unter der Leitung von Bismarck auch äthiopische Vertreter mit am Konferenztisch als es darum ging, Afrika unter einander aufzuteilen.

Menelik II war darum bemüht, sein ausgedehntes Reich vor dem Zugriff der europäischen Kolonialmächte zu schützen. In der „Schlacht von Adua“ fügte er den Italienern eine vernichtende Niederlage zu – nicht zuletzt aufgrund der italienischen Waffenlieferungen. Menelik war aufgeschlossen für die Modernisierung des Landes. Er beförderte den Ausbau der Telegrafie und setzte sich für die Eisenbahnverbindung von Addis Abeba zum – damals französischen – Hafen Djibou ein.

Seine Expansionspolitik führte jedoch auch zu den bis heute anhaltenden Problemen im Vielvöllkerstaat Äthiopien – insbesondere im Hinblick auf das Mehrheitsvolk der Oromo. Dioe oromo scheinen jedenfalls drauf und dran zu sein, sich von Fremdherrschaft zu befreien – politisch und friedlich oder notfalls auch mit Gewalt. Menelik II hielt in dem eher beschiedenen Palast auf dem Entoto Hof. Die Reste dieser aus Holz gebauten Residenz kann man bis heute besichtigen. Von Prunk und Herrlichkeit ist da wenig zu spüren. Ein alter, hagerer Wächter reißt uns die Eintrittskarten ab. In seiner abgewetzten Uniform sieht er aus wie ein er von Menelik II Soldaten, der hier vergessen wurde und die Jahrzehnte überlebt hat. Tatsächlich kenne ich ihn von vorangegangenen Besuchen gut. Er war tatsächlich Angehöriger des Militär und seinerzeit einer der besten Marathonläufer des Landes.

Irgendwann hatte die Kaiserin offenbar die Nase voll von dem Macho-Gehabe ihres Mannes und seiner Leute. Sie ließ sich immer öfter ins Tal tragen, um an den heißen Quellen, die hier sprudelten etwas Gutes für ihren body zu tun. Schließlich überredete sie sogar ihren Gatten, den in ihm steckenden Hau-drauf oben auf dem Entoto zu lassen und sich hier unten im Tal als ein halbwegs zivilisierter Mensch zu benehmen.

Zum Teil schien ihr das gelungen zu sein. Denn immerhin entschied sich Menelik II, seine Residenz ins Tal zu verlegen und sich dort etwas bequemer einzurichten. Das meiste war ja auch erobert. Der Name für die neue Residenz – „Neue Blume“, auf Amahraisch „Addis Abeba“ – klang nicht mehr sonderlich militärisch. Ihn hatte die Gattin sich beim Blumenpflücken im Tal ausgedacht. Vielleicht könnte man Menelik II folgende Geschichte zuschreiben: Als der Kaiser auf dem Sterbebett lag, fragte er seine Generäle: „Wie hieß noch gleich das Land, das ich erobert habe?“ Aber er starb, ohne die Antwort abzuwarten.

Wir besuchen am ersten Tag auch das Ethnografische Museum auf dem alten Gelände der Universität. Ursprünglich war dies einer der Paläste von Kaiser Haile Selassie, nach seiner Rückkehr aus dem Exil in London stellte der Kaiser seinen Palast der von ihm neu gegründeten Universität von Addis Abeba zur Verfügung. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Fülle der – auch in museums-didaktischer Hinsicht gut gemachten Sammlung. Der Besuch ist in jedem Fall lohnenswerter als der Besuch des Nationalmuseum.

Der Gang durch das Ethnografische Museum ist wie eine Reise durch die verschiedenen Landschaften und Kulturen Äthiopiens, deren Eigenart hier gut repräsentiert wird. Es gibt auch eine interessante Sammlung koptisch-orthodoxer Kunst: Handschriften, Ikonen, Heiligenbilder, Kreuze und Schnitzereien. Außerdem eine interessante Kollektion alter Musikinstrumente.

Am Schluss des Museumsbesuches gehe ich voraus und warte auf die Gruppe. Vor mir steht ein Tisch und ein Stuhl. Ich bin müde und setze mich. Als wir in das Museum hineingingen, saß hier ein junger Mann, der unsere Eintrittskarten kontrollierte. Jetzt sitze ich auf seinem Platz. Da kommt eine Gruppe von Chinesen an mir vorbei. Sie sehen mich fragend an. Ich bitte sie, mir ihre Eintrittskarten zu zeigen, damit ich sie abreißen kann. Im Nachhinein wundere ich mich, dass die Chinesen offenbar keinen Unterschied machen zwischen Äthiopiern und Europäern. Aber für viele von uns sehen ja auch alle Chinesen irgendwie gleich aus.

Politische Unruhen

Der Palast liegt mitten in einem schönen Park, der heute zum Campus der Universität gehört. Einige Studenten und Studentinnen sitzen auf einer Mauer und lassen die Beine baumeln. Ich komme mit ihnen ins Gespräch. Frage sie nach den aktuellen studentischen Unruhen. Ich merke, dass sie misstrauisch und zurückhaltend sind. Erst als ich sage, wer ich bin und woher ich komme erzählen sie davon, dass dreitausend Menschen bei Polizei- und Militäreinsätzen ums Leben gekommen sind. Die meisten von ihnen Studenten, aber auch viele Bauern. Sie erzählen auch, dass im Zusammenhang mit den Unruhen vermutlich zehntausend Menschen in den Gefängnissen sitzen. Und dass jetzt eine Art Friedhofsruhe herrscht – bis zum nächsten Gewaltausbruch.

Vor einem Jahr brachen in der Hauptstadt an verschiedenen Orten im Südwesten des Landes Unruhen unter Bauern, Schülern und Studenten aus. Der Anlass für die Unruhen war der Plan der Stadtverwaltung der Hauptstadt, die Stadtfläche zu erweitern, weil Addis Abeba seit etwa zehn Jahren boom-city ist. Überall ragen jetzt zehn- und mehrstöckige Hochhäuser in den Himmel. Vor allem Bürogebäude und Hotels. Aber auch großflächig angelegte neue Wohnviertel sind an den Stadträndern entstanden. Wer, so fragen viele hat für all diese Immobilien das Geld? Und für die meisten ist die Antwort klar: Mitglieder und Protogees der jetzigen Regierung und auch viele Auslands-Äthiopier aus den USA legen hier ihr Geld an, dass sie durch Vetternwirtschaft und Korruption erworben haben.

Die kleinen Bauern im Einzugsgebiet der Großstadt Addis Abeba erleben etwas anderes: Viele von ihnen sind enteignet worden , damit sich die Stadt weiter ausdehnen kann. Manche haben als Ersatz ein kleines Haus in einer von der Stadtverwaltung schnell errichteten Siedlung am Rande der Stadt zugewiesen bekommen. Sie haben hier jedoch keine Möglichkeit, wie bisher ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Lebensweise beizubehalten. Das Land, das ihre Familien über Generationen ernährt hat ist enteignet und eine Perspektive für ein neues anderes Leben ist nicht in Sicht. So landen viele auf der Strasse: als Straßenhändler oder als Bettler.

Addis Abeba liegt auf Oromo-Gebiet ujnd kann sich nur erweitern, wenn weiteres Oromoland enteignet wird. Die Oromo nennen das land-robbing. Für sie setzt sich nur fort, was sie seit mehr als einhundert Jahren erlitten haben: Ausbeutung und Unterdrückung. Erst durch die führende Elite der Amharen, die den Kaiser stellten und nach dem Ende des Bürgerkrieges und dem Sturz des kommunistischen DERG-Regimes im Jahre 1991 durch die Tigray-Regierung. Die Oromo fühlen sich von den Tigray übervorteilt, ausgetrickst und ausgebeutet – wie zuvor von den Amharen. Es ist nicht zu übersehen, dass die Tigray das Sagen und das Einnehmen haben. Das fruchtbare Land liegt vor allem im Südwesten. Also in Oromia. Hier haben die Saudis (gegen billiges Öl), die Chinesen (im Gegenzug zum Strassen- und Eisenbahnbau und jetzt auch Inder und Türken Pachtland auf 99 Jahre zugesprochen bekommen – in einem Umfang größer als die Fläche der Schweiz! Auch die Niederländer spielen hier eine problematische Rolle: Für die Blumenzucht brauchen sie Land für ihre riesigen Gewächshäuser und vor allem Wasser. Viel Wasser, dass dann oft als Trinkwasser für die Menschen nicht zur Verfügung steht.

Das Land ist so atemberaubend schön und die Menschen sind so freundlich und herzlich, auch gegenüber Fremden. Aber manchmal denke ich bei meinen Reisen durch das Land: Es wie Reisen auf einem Minenfeld. Die USA sehen bis jetzt in der Tigray-Regierung einen Verbündeten im Kampf gegen den Terror von Al-Shabat aus dem unregierbaren Somalia. Wenn die USA unter ihrem neuen Präsidenten jedoch ihre Militär- und Finanzhilfe abziehen sollten, gäbe es ein Machtvakuum. Aus meiner Sicht steht Äthiopien dann eher ein blutiger Bürgerkrieg bevor als dass es zu einer friedlichen Lösung käme. Das Land könnte auseinander brechen.

Jubiläum in Kotobe

Wenige Tage nach unserer Ankunft in Addis Abeba feiern wir in unserer Partnergemeinde Kotobe das 20-jährige Jubiläum unserer Ökumenischen Partnerschaft. Und gleichzeitig das 15-jährige Bestehen unseres deutsch-äthiopischen Kinderhilfsvereins DAS HELLE LICHT e.V./ BRIGHT LIGHT.

Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. Von den insgesamt fünfhundert Gemeindegliedern haben sich hier sicher dreihundert versammelt., um mit uns zu feiern. Wenn hier Gottesdienst gefeiert wird, dann auch richtig. Unter zwei Stunden ist es kein richtiger Gottesdienst gewesen. Die Predigt ist meistens lang wie das jüdische Exil. In kirchlichen Kreisen bei uns gilt der Grundsatz: Man darf über alles predigen – nur nicht über zwanzig Minuten. Hier wird eine halbstündige Predigt vermutlich als Anwärmung betrachtet. Die Festpredigt wird von Michael gehalten. Michael, Marliese und ich waren vor zwanzig Jahren hier, um feierlich den Ökumenischen Partnerschaftsvertrag zu unterzeichnen. Jetzt steht hier Michael wieder auf der Kanzel. Er predigt eine gute halbe Stunde. Aber Gott sei Dank wird seine Predigt Satz für Satz ins Oromo übersetzt und anschließend – zusammengefasst – noch ins Amharische übersetzt. Das macht alles in allem eine Stunde und fünfzehn Minuten. Das ist jedenfalls nicht zu kurz.

Was wäre der Gottesdienst ohne den Chor. Die jungen Leute singen hinreißend. Die Gemeinde klatscht rhythmisch mit. Erst geraten die Mitglieder des Chores in Verzückung und dann die ganze Gemeinde. Alles bewegt sich hin und her wie ein wogendes Weizenfeld, durch das der Wind weht. Hohe Tillelit-Töne der Frauen dringen in die Ohren. Dann, wie durch ein geheimes Signal ebbt das wogende Meer ab und die Musik klingt aus.

Es folgt ein Gebet. Es beginnt leise und zögerlich, als würde der Beter nach Worten ringen. Er hat die Augen geschlossen und seine Hände geöffnet und leicht nach oben erhoben. Im crescendo nimmt das Gebet an Lautstärke zu. Die Körperbewegung des Beters wird gleichzeitig intensiver und das gebets-inniger. Ja, eindringlich, so dass man sich der invasiven Kraft des Gebetes nicht entziehen kann. Bedauerlicherweise verstehe ich die Worte nicht. Vielleicht liegt es daran, dass in mir plötzlich Fluchtgedanken hoch kommen. Ich schaue auf die Uhr, um zu sehen, wie lange der Beter das durchhalten wird. Dann fällt mir das Bibelwort ein: „… und haltet an am Gebet!“. Um Gottes Willen! Doch allmählich wird das Gebet leiser und mündet schließlich im gemeinsam gesprochenen Vaterunser.

Wir feiern in dieser großen Gemeinschaft der Christen gemeinsam das Abendmahl. Ein „Wandelabendmahl“: in zwei Reihen treten die Gottesdienstbesucher an den Altar, um hier Brot und Wein zu empfangen. Anschließend versammeln sich alle Kinder vor dem Altar, um unter Handauflegung gesegnet zu werden. Pastor Soboka hat mich gebeten, das Abendmahl mit auszuteilen und die die Kinder mit zu segnen. Das fand ich sehr bewegend. Im Verlauf des Gottesdienstes wird von unserer Partnerschaft und den Aktivitäten und Projekten berichtet, die im Rahmen dieser Partnerschaft stattgefunden haben und weiter stattfinden werden. Wir überreichen als Gastgeschenk zwei silberne Kerzenleuchter für den Altar. Im Anschluss an den Gottesdienst wird die Gemeinde zum traditionellen buna duga eingeladen – zum Kaffeetrinken draußen auf dem Rasen.

Hier sind auch viele Kinder zusammengekommen, die von unserem Kinderhilfsverein unterstützt werden. Sie tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Das Helle Licht/ Bright Light“ und dem Symbol der Sonne in unserem Emblem. Es steht für für den Bezug zu Christus, der für uns das Licht der Welt ist. Und es steht auch für das „Licht im Verstand“ – für Bildung. Für mich war es sehr anrührend, Kinder und ihre Eltern wiederzusehen, die ich schon seit so vielen Jahren kenne.Welch ein Segen!

Nach dem Gottesdienst lädt uns der Kirchenvorstand und der Vorstand von BRIGHT LIGHT ins Hotel Ararat ein. Welch ein symbolträchtiger Name! „Und Gott sprach: Dieser (Regen)Bogen ist das Zeichen des Bundes, den ich (mit euch) geschlossen habe… Solange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Erde , Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Genesis 9,12 und 8, 22.

Felsenkirchen in Lalibela

Einen Tag nach der Jubiläumsfeier fliegen wir von Addis Abeba 600 Kilometer Richtung Norden nach Lalibela. Vom Flugzeug aus sind die tiefen Schluchten mit den Zuflüssen des Blauen Nil gut zu erkennen. Es ist der Beginn der Trockenzeit. Die Flüsse führen wenig Wasser. Nach etwa zwei Stunden dann die überraschende Landung, weil bis kurz vor der Landung keine Besiedlung zu sehen ist. Die Passagiere verlassen die kleine Maschine und gehen über das Rollfeld hinüber zur Abfertigungshalle.Gleich hinter dem Eingang befindet sich die besonders gekennzeichnete Ecke für das Gepäck. Jeder nimmt sich seine Sachen und verlässt das Gebäude.

Draußen wartet schon der Bus, der uns in unser Hotel bringen soll. Auf schmaler, kurviger Strasse erreichen wir unser Ziel: Jerusalem! Das Yerusalem Hotel ist ein kleines, zauberhaft gelegenes Hotel. Alle Zimmer haben einen Balkon nach Westen. Unter uns die 2.000-Einwohner-Stadt und am Horizont die bis zu 4.000 Meter hohen in der Abendsonne rot-gold leuchtenden Berge.

Noch am Nachmittag nach unserer Ankunft besuchen wir mit einem local guide die völlig frei in einer großen Grube. Dann kann man gut von oben auf sie herabsehen. So zum Beispiel bei der eindrücklichsten und wohl bekanntesten Felsenkirche St-Georg. Die Felsenkirchen sind Ende des 12. Jahrhunderts unter der Herrschaft von König Lalibela. Die Legende erzählt, dass Gott dem König im Traum Weisung gab, hier ein zweites Jerusalem zu bauen. Mit Hilfe von Engeln soll es in kurzer Zeit fertig gestellt worden sein.

Die meisten Kirchen wurden von oben „!frei gelegt“ und dann ihr Inneres „ausgehöhlt“. Der beim Bau anfallende Abraum wurde durch die schmalen Tür- und Fensteröffnungen nach draußen befördert. Der Grundriss der Kirchen in Lalibela entspricht nicht dem der typischen äthiopischen Rundkirche. Vielmehr wird der aus Byzanz übernommene Grundriss verwendet. Viele Dekorationselemente in den Felsenkirchen haben Vorlagen aus dem Vorderen Orient der damaligen Zeit aufgenommen.

Einige von uns hatten erwartet, an diesem berühmten Ort äthiopischer Kirchengeschichte prachtvolle Bauten zu finden. Vielleicht vergleichbar mit einem romanischen Dom oder einer gotischen Kathedrale. Was wir sahen waren jedoch sehr „bodenständige“ Bauten, die durch ihre wunderbare Schlichtheit eine geheimnisvolle, gerade zu mystische Atmosphäre ausstrahlten. Es war gar nicht so einfach, durch die vielen schmalen Gänge und niedrigen Türen ins Innere der Kirchen zu gelangen. Die Felsenkirchen von Lalibela gehören seit einiger Zeit zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Etwa 50 Kilometer nördlich und hoch über Lalibela liegt die Kirche Yemrehanna Krestos. Am Morgen unseres zweiten Tages in Lalibela fahren wir mit dem Bus durch eine beeindruckende Hochgebirgslandschaft dorthin. Der Aufstieg zur Kirche ist mühsam, aber lohnenswert. Welch eine zauberhaft schöne Landschaft! Und eine große Ruhe über allem. Die Kirche ist eine Felsengrotte „eingebaut“ – ein große Höhle von vielleicht 5 Metern Breite und Tiefe und zehn Metern Höhe. Im hinteren teil der Höhle liegen Berge von mumifizierten Toten. Irgendwie schauderhaft-faszinierend.

Etwas über die äthiopische Kirchengeschichte
Zehn Jahre vor dieser Studienreise hatte ich schon einmal an eine Bildungsreise gedacht, die in Istanbul beginnen sollte. Auf dem Stadtgebiet des heutigen Istanbul fand nämlich im Jahre 451 das Konzil von Chalkädon statt. Es war die Vollversammlung der höchsten Vertreter der jungen christlichen Kirchen. Ausgestattet mit der Vollmacht, dogmatische Glaubenspositionen zu diskutieren – festzulegen. Die Beschlüsse dieser Vollversammlung sind bis heute Lehrgrundlage der byzantinischen, katholischen und evangelischen Kirchen. Es ging damals um die Beendigung eines lange erbittert geführten Streites um die Frage, wer Jesus eigentlich gewesen ist: Nur ein, wenn auch besonderer Mensch? Davon waren die sogenannten Arianer überzeugt. Oder war Jesus im gegenteil immer nur Gott – nur in Menschengestalt verhüllt (die mono-physitische oder mia- physitische Position)? Oder war er beides: „Wahrer Mensch und wahrer Gott“ – die Position der ( westlichen) katholischen und auch der evangelischen Kirche.

Die Fragestellung und schon gar der erbitterte Streit darüber kommt uns heute fremd vor. Aber die Klärung dieses dogmatischen Streites war im Hinblick auf die Identität der jungen christlichen Kirche außerordentlich wichtig. Nicht zuletzt weil der dogmatische Diskurs sehr bald in einen kirchen-politischen Machtkampf mündete und die christliche schon früh spaltete. Letztlich ging es um die Frage, wer das Oberhaupt der christlichen Kirche ist: der Bischof von Rom oder der Patriarch von Konstantinopel. Das Konzil entschied mehrheitlich: der Patriarch von Konstantinopel. Das aber ging dem Bischof von Rom, Papst Leo I gegen den Strich. Er unterschrieb alle übrigen Konzilsbeschlüsse, aber den über das Oberhaupt der Kirche nicht, weil er die Oberhoheit für sich selbst reklamierte. Das hieß: Schisma/ Trennung in eine östliche und in eine westliche christliche Kirche. Bis heute. ( Im übrigen: Die „alt-orientalischen Kirchen“ – also die syrisch-ephraemitische, die alexandrinische (koptische), die indische (Thomaschristen) und die seit 1959 autokephale (selbständige, von Alexandria losgelöste) äthiopisch-orthodoxe Kirche beanspruchen, sowieso die ältesten christlichen Kirchen zu sein. Übrigens haben sich diese Kirchen vor kurzem das erste Mal zu einem gemeinsamen Konzil getroffen).

Papst Leo I argumentierte damals mit den Gebeinen der Märtyrer Petrus und Paulus. Hatte nicht Jesus selbst zu Petrus gesagt: Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen? Der Patriarch von Konstantinopel hielt dagegen: Was bedeuten schon tote Knochen? Entscheidend ist doch, wo alles angefangen hat! Die ersten christlichen Gemeinden gab es doch in Kleinasien (z.B. Ephesus) und Griechenland (Thessaloniki, Korinth). Es ginge nicht darum, wo jemand begraben liegt, sondern vielmehr wo die Kirche ihre Geburtsorte hat! Zum Beispiel sei Kappadozien voll von frühen christlichen Gemeinden. Damals natürlich alles römische Provinz. Heute Erdogan-Land.

Seit ich vor ein paar Jahren das erste mal mit meiner Frau Dagmar in Antalya einen all-inclusive-Urlaub gemacht habe, denke ich daran, auf den Spuren des Apostel Paulus dort in Antalya bei den deutschen und skandinavischen Urlaubern für die evangelische Sache zu werben und ein paar Kirchen zu gründen. Einige meiner Freunde, mir daraufhin fest versprochen, mich in meinem türkischen Gefängnis zu besuchen. Aber mehr noch als die Türken sollte ich vielleicht die Russen fürchten, die an der türkischen Küste auch gern all-inclusive Ferien machen und sich im Zweifelsfall auf den Patriarchen von Moskau und Putin berufen.

Dagmar findet meinen Missionsdrang nicht zeitgemäß .Neulich forderte sie mich auf, doch auch einmal unsere Betten zu beziehen. Sie fand es gar nicht gut, als ich dagegen hielt: Ich kenne keine Bibelstelle, die sagt, dass Jesus die Betten gemacht hat – und ich stünde doch schließlich in seiner Nachfolge.

Wir waren alle beeindruckt von unserem Besuch in Lalibela. Viel zu schnell hat uns der Moloch Addis Abeba zurück. Aber noch nicht ganz, denn am folgenden Tagen machen wir eine Tagesreise zum Kloster Debre Libanos – mit dem selben Bus, der uns später durch den Süden Äthiopiens fahren soll.

Kloster Debre Libanos

Man erreicht den Ort von Addis aus in zweieinhalb Stunden Autofahrt. Die Strasse führt zunächst über den Kamm des Entoto-Höhenzugs und durch Eukalyptuswälder. Dann weitet sich die Landschaft und man erkennt, wie fruchtbar das Land hier ist. Aber man kommt auch an grösseren Industrieansiedlungen vorbei. Es gibt viele Tankstellen entlang der Fernstrasse – ein Hinweis darauf, dass dies die Hauptroute zum ölreichen Sudan ist. Die äthiopische Regierung profitiert durch die Einfuhr von billigem Öl aus dem Sudan und aus Saudi-Arabien. Dann zweigt eine kleine Strasse von der Hauptroute ab, die nach fünf Kilometern bis Debre Libanos führt. Plötzlich laufen Paviane über die Strasse. Im selben Augenblick kommt eine Herde Kühe die Strasse hoch. Die Kuhhirten vertreiben die Affen mit ihren langen Stöcken und durch lautes Rufen. Als wir näher an das Kloster herankommen, sehen wir buntes Markttreiben entlang der Strasse. Geflochtene, bunte Körbe, Holzschnitzereien und Devotionalien aller Art werden hier feilgeboten.

Die achteckige Klosterkirche mit der silbern glänzenden Kuppel wurde erst in den fünfziger Jahren gebaut. Die alten Klostergebäude wurden von der italienischen Besatzung im Jahr 1937 niedergebrannt und die über dreihundert Mönchen und ihr Abt hingerichtet. Es war die Vergeltung für das missglückte Attentat auf den italienischen Vizekönig Marschall Graziani. Warum dieses Kloster? Man hatte hier ein großes Waffenlager entdeckt.

In der Klosterkirche sind Glasfenster des berühmten äthiopischen Künstlers Afework Tekle zu sehen, dessen Glasfenster auch in der Africa Hall in Addfis zu sehen sind. Nach einigem Hin und her wegen des Eintritts bekommen wir schließlich einen ausgesprochen freundlichen und kompetenten Touristenführer, der uns die Kirche und das angrenzende Museum zeigt. Plötzlich erinnert sich Michael, dass es derselbe guide ist, der uns – ihn, Marliese und mich – vor zwanzig Jahren schon bei unserem ersten Besuch in Äthiopien die Kirche und die in der Nähe befindliche Heilige Quelle gezeigt hat. Was für ein Moment! Natürlich halten wir dies auf Fotos fest – vielleicht in der Hoffnung, dass wir im Vergleich fast gar nicht älter geworden sind.

Das Kloster liegt auf einem Hochplateau über einer steil abfallenden Schlucht. Wir machen Kaffeepause in einer lodge, die von einer Frau aus Deutschland betrieben wird. Gemeinsam mit ihrem inzwischen verstorbenen äthiopischen Mann hat sie diese schöne lodge aufgebaut. Von hier blickt man direkt in die Schlucht über der eindrucksvolle viele Raubvögel kreisen. Nach nur zehn Minuten Fußweg erreicht man von hier aus die den Portugiesen des 17. Jahrhunderts zugeschriebene Brücke über einen kleineren Fluss, der sich mit dem größeren Fluss vereint, der durch die Schlucht und schließlich in den Blauen Nil fließt. Eine atemberaubend schöne Landschaft. Es würde sich lohnen, hier ein paar Tage zu verweilen.

Und dann ist der Augenblick gekommen, in den äthiopischen Süden zu den kleinen indigenen Völkern zu reisen. Wir fliegen vom Bole Airport wieder mit einer kleinen Maschine der Ethiopian Airlines nach Arba Minch – mit Zwischenlandung in Awassa. Wir fliegen entlang dem ostafrikanischen Grabenbruch, der sich vom Roten Meer und der Danakil-Senke im Norden bis nach Kenya und Tansania hinzieht. Die Seen Lake Koka, Lake Ziway, Lake Abijatta, Lake Langano, Lake Shalla, Lake Awassa, Lake Abaya und Lake Chamo reihen sich nord-südlich wie auf einer Perlenschnur aneinander. Ein wunderschöner Anblick aus dem Flugzeug Fenster. Es ist jetzt eine völlig andere Landschaft als abbesynischen Hochland im Norden. Dort gibt es Tafelberge mit tiefen Tal-Einschnitten und hier eine weite Ebene. Im Norden finden wir gemäßigte Temperaturen, kalten Nächten, relativ viel Niederschlag. Hier im afrikanischen Grabenbruch dagegen zum Teil sehr hohe Temperaturen und wenig Niederschläge.

Paradise Lodge

Beim Verlassen des Flugzeugs in Arba Minch schlägt uns heiße subtropische Luft entgegen. Wir werden in der Paradise Lodge erwartet. Die Stadt liegt ausgedehnt in einen höheren und einen tiefer gelegenen Stadtteil. Auf den ersten Eindruck spricht mich die Stadt nicht an. In Arba Mijnch gibt es eine große Universität. Der Campus liegt so weit außerhalb der Stadt, dass man in der Stadt nichts von studentischem Leben merkt. Unser Busfahrer meinte dazu: Es ist gut, dass sie gar nicht erst in die Stadt kommen, sie sollen lieber für sich sein und studieren. In den letzten Jahren sind die Fernstraßen in den Norden deutlich verbessert. Ein längeres Verbindungsstück wurde sogar ganz neu gebaut. Inzwischen kann man Addis in sechs Stunden erreichen.

Die Paradise Lodge hält auf weitläufigem Gelände viele einzelne Hütten für die Gäste bereit. Die Wege zwischen den Unterkünften und dem Restaurant bzw. der Rezeption sind dadurch zwar ungewöhnlich lang, Aber die Lage ist kaum zu toppen. Vom Restaurant blickt man auf den Nechi Sar National Park und den Isthmus zwischen Chamo- und Abijata See, die umgeben sind von einer grünen Hügelkette und den Bergen des Amaro-Gebirges im Hintergrund.

Unser Bus ist von Addis leer nach Arba Minch gefahren, um uns hier dann aufzunehmen. Unser Busfahrer ist freundlich und seine Fahrkunst hervorragend. Das sollten wir noch schätzen lernen auf unserer viertägigen Fahrt zu den Südvölkern. Es ist ein relativ großer Bus mit etwa 30 Plätzen. Wir genießen es, dass wir uns breit machen können. Hinzu kommt, dass der Bus klimatisiert ist. Auch das trägt sehr zum Wohlbefinden während der Fahrt bei.

Früh am nächsten Morgen brechen wir auf nach Konso. Wir erreichen den Ort nach etwa 80 Kilometern und anderthalb Stunden Fahrtzeit. Auf den Feldern werden Bananen angebaut, die zum Verkauf vor allem in die Hauptstadt transportiert werden. Auch Mais, Baumwolle und Sorghum werden angebaut. Die Konso haben als sesshafte Feldbauern eine beeindruckende Terrassenkultur entwickelt. Vor allem aber sind sie bekannt für die waga – geschnitzte hölzerne Grabfiguren. Leider war es nicht möglich, in eines ihrer Dörfer zu fahren. Wenige Wochen vor unserer Ankunft hatte es Demonstrationen gegen die Regierung gegeben. Es waren Tote zu beklagen. Darauf zogen die Konso sich in die Berge zurück und verbarrikadierten die Zugänge zu ihren Siedlungen.

Wir fahren also weiter Richtung Westen und erreichen schließlich die Straßenkreuzung Key Afer – rote Erde. Von hier ist es nur noch eine Stunde bis Dimika, wo wir den traditionellen Wochenmarkt der Hamer besuchen wollen. Der Markt findet nur samstags statt und schließt auch schon gegen Mittag. Wir müssen uns beeilen und kommen gerade noch rechtzeitig an.

Der Hamer Markt in Dimika

Unser Busfahrer organisiert zwei einheimische Führer für uns. Unsere Gruppe wird aufgeteilt, dadurch ist es leichter, durch das Markttreiben zu kommen. Neben Gemüse, das auf dem Boden zum Verkauf angeboten wird gibt es viele kleine Buden, die Stoffe anbieten. Davor Männer mit uralten Nähmaschinen – natürlich mit Fußpedal. Überall kann man schöne kunsthandwerkliche Dinge kaufen. Auch Holzkämme, Perlenketten und Armbänder sowie bemalte Holzfiguren in jeder Größe. Viele der Hamer-Frauen denen wir begegnen sind ausgesprochene Schönheiten. Gerne sind sie bereit, sich gegen einen kleinen Geldbetrag fotografieren zu lassen.

Nach unseren Einkäufen erholen wir uns bei einer Tasse Tee und setzen dann die Fahrt bis Turmi fort. Dort übernachten wir in einer netten Lodge. Am nächsten Morgen fahren wir zunächst dieselbe Strasse über Dimika bis zur Kreuzung Key Afer zurück und dann weiter Richtung Nordwesten. Unser Tagesziel ist Jinka. Hinter Key Afer fahren wir zunächst durch eine weite Ebene bis wir zur Brücke über den Weyto-Fluß kommen. In westlicher und nördlicher Richtung liegen die Humu- und Shengema -Berg.

Besuch bei den Mursi

Die Mursi sind eine kleine Ethnie, der etwa viertausend Menschen angehören. Sie sind Viehhalter und leben vor allem von Milch und Blut. (Anderswo träumt von Milch und Honig.). Wenn das Wasser nach der Regenzeit abgeflossen ist, betreiben sie auch ein wenig Ackerbau. Das Charakteristische der Mursi ist der auffallende Schmuck der Frauen. Sie schmücken sich mit bunt bemalten Tontellern, die sie in einem mehr oder weniger großen Loch in der Unterlippe tragen. Ich habe mir sagen lassen, der soziale Status einer Frau mit der Größe dieser Unterlippen-Teller wächst. Zu Beginn wird die Unterlippe nur aufgeschnitten und dann ein vielleicht cent-grosser Teller hinein gepresst. Durch das Tragen immer umfänglicherer Tonteller wird das Loch grösser und so auch der Schmuck.

Ich habe mir auch sagen lassen, dass Frauen dann als wirkliche Schönheiten gelten, wenn sie Unterlippen-Schmuck mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern tragen. Das ist doch mal ein markantes und sozusagen augenfälliges Schönheits- und Heiratskriterium. Zur Nahrungsaufnahme kann der Schmuck herausgenommen werden. Die lang herunter hängenden Unterlippen sehen dann – jedenfalls für das europäische Schönheitsideal – nicht mehr so attraktiv aus. Wie das mit dem Küssen ist, weiß ich in diesem Fall nicht.

Die Frauen der Mursi haben es offenbar gern, wenn sie schön wild aussehen und dem Mann vermutlich ganz unheimlich wird. Manchmal statten sie sich mit großen Hörnern und viel unterschiedlichere Vegetation als Kopfschmuck aus. Vielleicht sind ihre Männer davon sehr beeindruckt. Die Fremden aber sind vermutlich Fall eher abgeschreckt. Und dann ist die Welt ja in Ordnung.

Wenn man in ein Mursi-Dorf kommt, muss jeder Besucher ein Eintrittsgeld bezahlen. Und jedes Foto hat (wie schon bei den Hamer) seinen für uns jedenfalls sehr erschwinglichen Preis. Es ist eine wesentliche Einnahmequelle für die Menschen hier, und ich finde das ganz in Ordnung. Natürlich hat man das Gefühl, in einem „Museumsdorf“ zu sein. Aber was sollte daran falsch sein? Es könnte sein, dass für Touristen abgelegene Dörfer auf diese Weise unberührt bleiben. Und das wäre auch wünschenswert. Der „Vertrag“ zwischen den Ein heimischen und den Fremden trägt für die einen zum Unterhalt bei und den anderen verschafft es ein eindrückliches Erlebnis. Es ist zu befürchten, dass keine der hier lebenden Ethnien die eigene Kultur auf Dauer bewahren kann und der „Museums-Tourismus“ eine wesentliche Einnahmequelle sein wird.

Chamo-See und Nech-Sar-Nationalpark

Zurück aus dem Süden übernachten wir wieder in der uns vertrauten Paradise Lodge in Arba Minch. Am nächsten Tag ist unser Tagesziel der Nech Sar Nationalpark und der Chamo See. Wir fahren in zwei Booten über den Chamo-See. Er ist von überschaubarer Größe, denn man verliert das Ufer nie aus dem Blick. Wir fahren vorbei an großen Flamingo-Kolonien und an hoch in den Baumwipfeln gebauten Horsten. Der Fischadler. Wir fahren an eine Stelle am gegenüber liegenden Seeufer die man hier crocodile market nennt. Und in der Tat lungern hier die Krokodile am Ufer und im Wasser herum, als warteten sie auf einen Käufer. Eines der Krokodile hält sein Maul unglaublich lange ganz weit aufgesperrt, sodass ich unwillkürlich an meine letzte Zahnbehandlung denke. Völlig unbeeindruckt bewegt sich ein Fischreiher zwischen den Urviechern.

An einer anderen Stelle am Ufer verlassen wir die Boote und begeben uns auf eine kleine Safari. Unser örtlicher Führer hat uns versprochen, dass wir auf jeden Fall Zebras und Antilopen sehen werden. Vom Seeufer ist es zunächst ein steiler Aufstieg über loses Geröll. Einigen von uns ist die Lust auf weitere Strapazen in der Mittagshitze vergangen. Sie beschließen, unter dem Schatten eines Baumes auf unsere Rückkehr zu warten. Zebras gibt es in Streifen schließlich auch bei uns.

Plötzlich sehen wir die Zebras vor uns. Drei kleine schwarze Punkte am Horizont. Wir müssen näher ran. Parallel zu uns, immer in gebührendem Abstand läuft eine einzelne Antilope und beobachtet uns. Es ist brüllend heiß. Durch Hitze und Schweiß hat sich das Lederarmband meiner Uhr aufgelöst. Das ist der Anfang, denke ich… Vor uns die Zebras. Sie sind näher gekommen. Oder wir ihnen? Friedel und ich haben uns bereit gemacht für die Jagd. Wir umgehen die Gruppe der Zebras und treiben sie dann vor uns her. Wenn wir anhalten, dann halten auch sie an. So kommen wir gut zum Schuss mit unseren Fotoapparaten. Es werden eindrückliche Fotos von Zebra-Hintern. Als wir wieder auf die Zurückgebliebenen aus unserer Gruppe stoßen – oder sollte man sagen: die Klügeren? – berichten sie uns aufgeregt, dass eine Gruppe Zebras ganz nahe an ihnen vorbeigezogen sei – so, als hätte jemand sie ihnen direkt in die Arme getrieben…

Besuch in einem Dorf der Dorze

Nach einer Erholungspause im Paradise Lodge fahren wir mit unserem Bus etwa anderthalb Stunden nach Norden in die Berge, um ein Dorf der Dorze zu besuchen. Die Ethnie der Dorze ist berühmt wegen ihrer Baumwollweberei. Dem rauen Bergklima entsprechend werden die farbenprächtigen Stoffe und Tücher (buluko) aus dickem Garn hergestellt. Im Dorf werden wir von einem jungen Mann begrüßt, der – wie sich im Gespräch heraus stellt – Angehöriger der Dorze-Königsfamilie ist. Er führt uns in eine typische, aus Bambusm, atzten geflochtene Hütte, die nach oben hin spitz zu läuft, sodass sie ein bisschen wir eine große Zipfelmütze aussieht. Die Hütten können gegebenenfalls an einen anderen Platz getragen werden. Dazu braucht es natürlich mehrere starke Männer. Es geschieht dann, wenn zum Beispiel Termiten anfangen die Hütte zu zerstören.

Wir betreten die Hütte. Praktischerweise ist es die Hütte der Familie unseres guides. Im Innern ist es dunkel. Man sieht die Hand vor Augen nicht. Bis die Augen sich an das Dunkel gewöhnt haben. In der Mitte brennt ein offenes Feuer. Die Hütten sind mit geflochtenen, etwa zwei Meter hohen Zäunen durchzogen. Hinter einer Hütte bearbeiten Frauen Banenpflanzen. Genauer gesagt: „falsche Bananenpflanzen“ (ensete). Die ensete bestimmt das tägliche Leben der Dorze. Sie ist vor allem Hauptnahrungsmittel. Ihre Blätter dienen als Verpackungsmaterial und als Unterlage jeglicher Art. Die Fasern des Stammes und die Wurzeln der ensete sind so reißfest, dass Schnüre und sogar Schuhe daraus angefertigt werden.

Eine Frau ist gerade dabei, mit einer Art Hobel oder Kamm dünne, sehr saftige Streifen vom Stamm einer ensete abzuziehen. Im Zuge der weiteren Verarbeitung wird der so hergestellte Brei in Bananenblätter gewickelt und über Wochen und Monate in tiefen Erdlöchern aufbewahrt. Dabei kommt ein Gärungsprozess in Gang. Schließlich wird der gegorene Brei auf einem flachen runden Blech über einem offenen Feuer ausgebreitet, erhitzt und am Ende sieht das Ganze aus wie ein Pfannkuchen . Der dünne Fladen ist das „täglich Brot“ der Dorze.

Wir werden eingeladen , auch den selbst gebrannten Schnaps zu probieren. Begleitet von lautstark vorgetragenen Trinksprüchen kippen wir die Sachen runter. Nit schlecht, wie die Schwaben sagen. Und auf einem bein kann man schlecht stehen…

Auf diese Weise innerlich angewärmt schwärmen wir aus zu den Verkaufsständen, an denen die Dorfbewohner ihre selbst hergestellten Produkte anbieten. Am Ende gibt es zufriedene Verkäufer und Käufer. Die Abenddämmerung setzt bereits ein, als uns eine Tanz Zeremonie vorgeführt wird. Die Tänzer haben sich Leopardenfelle umgehängt und mit Speeren und Lederschilden ausgerüstet. Als ältester Ehrengast werde ich eingeladen, mich unzer die Tänzer einzureihen. Das tue ich auch. Unter der Verkeleidung komme ich bald ins Schwitzen und gebe auf. Am meisten Spaß haben die Kinder. Im Halbkreis sitzen sie auf der Erde und verfolgen kichernd das ganze Spektakel der Erwachsenen.

Erschöpft und glücklich erreichen wir in der Dunkelheit Lodge. It´s like paradise…

Auf der Rückfahrt nach Addis Abeba

Früh am nächsten Morgen fahren wir die lange Strecke von 600 km zurück nach Addis Abeba. Die Fahrt ist weniger anstrengend als ich befürchtet hatte. Und die Eindrücke von der immer wieder wechselnden Landschaft faszinieren mich. Unterwegs halten wir an einer kleinen Kaffeeplantage. Bis dahin hatten wir noch keine Kaffeebäume und -Sträucher gesehen. Auf einer Reise durch Äthiopien muss man doch wenigstens einmal gesehen haben, wo der Kaffee wächst! Die kleinen Kaffeebüsche wachsen zunächst unter dem Dach der großen Bananenblätter heran. Die Kaffeekirschen auf den Zweigen sehen wie hingemalt aus: rot, grün, gelb – in der Farben der äthiopischen Nationalflagge…. wenn es soweit ist, werden die Kaffeekirschen gesammelt und auf breiten Holzgestellen ausgelegt. Es ist eine Kunst, die in der Sonne ausgebreiteten Kaffeekirschen immer wieder zu wenden bis sie genau die richtige Färbung und Reife haben.

Die äthiopische Kaffeezeremonie ist ein wunderbares Ritual, das einen zu Ruhe und Gelassenheit bringen kann. Die Zubereitung braucht schon ihre Zeit. Das Ritual beginnt damit, dass ein Holzfeuer auf dem Lehmboden entfacht wird. Gleichzeitig wird der Lehmboden mit frischen Gräsern Blumen und Kräutern bedeckt. Das ist schön für das Auge und verbreitet einen frischen, würzigen Duft. Die Kaffeekirschen werden auf einem runden, flachen Blech über dem offenen Feuer geröstet. Dabei verbreitet sich ein herrlicher Kaffeeduft., der den ganzen Raum erfüllt. Oft ist dieser Kaffeduft noch vermischt mit dem Duft von Weihrauch. In kleinen Klumpen in der Größe von Kandiszucker wird der Weihrauch verbrannt. Der Weihrauch brennt auf ähnlich langsame Weise wie eine Kerze. Man sagt, der Duft des Weihrauch hält Fliegen und Mücken fern. Die gerösteten Kaffeebohnen werden dann in einem Holzmörser mit einem Stößel aus Holz oder Metall zu Pulver zerstoßen. Schließlich entsteht – in mehreren Aufgüssen – jener unvergleichliche äthiopische buna. Ein schmackhafter, kräftiger Mokka. Noch vor Einbruch der Dunkelheit kommen wir im Trinity Hotel in Addis Abeba an. Geschafft!

Noch einmal Addis Abeba

Wir haben einen der blau-weißen Minibusse für unsere Reisegruppe gemietet, um eine Stadtbesichtigung zu machen. Die Besichtigung beginnt am Arat Kilo Platz (Vier-Strassen-Platz). Der Obelisk auf dem Platz ist mit einem bronzenen Löwen von Juda gekrönt – das Wappensymbol von Kaiser Haile Selassie. Der Obelisk erinnert an den 5. Mai 1941, den offiziell begangenen Tag der Befreiung der Stadt und des Landes von der italienischen Besatzung. Es ist der Tag, als Kaiser Haile Selassie von seinem Exil in London kommend in die Hauptstadt einzieht und das Volk ihm zujubelt. In der Nähe dieses Platzes haben er und seine Frau ihre letzte Ruhestätten bekommen. Die Menbere-Selassie-Kirche ist bekannter unter dem Namen Trinity Church.

Kaiser Haile Selassie

Er wird 1892 als Sohn des Ras (Fürsten) Makonnen, des Gouverneurs von Harar geboren. Sein Geburtsname ist Tafari Mekonnen. Er ist 24 Jahre alt, als es ihm gelingt, die Streitigkeiten um die Thronnachfolge für sich zu entscheiden. Als designierter Thronnachfolger ist er faktisch schon der Regent (neben der Kaiserin Zawditu, Tochter von Kaiser Menelik II). Er erhält den Fürstentitel Ras. Nach dem Tod der Kaiserin im Jahre 1930 wird er als Kaiser Haile Selassie gekrönt.

In dieser zeit haben die Faschisten die Macht in Italien übernommen. Mussolini möchte sich den Traum eines (weitgehend) zusammenhängenden Italienisch-Afrika erfüllen: Libyen, Eritrea und (ein Teil von) Somalia sind bereits italienische Kolonien. Jetzt soll Äthiopien dazu kommen und die Schmach der gegen Menelik II verlorenen Schlacht von Adua wieder gut gemacht werden. Nach vorangegangenen Provokationen durch die Italiener an der Grenze zwischen Äthiopien und Italienisch-Somalia marschieren 1935 die italienischen Faschisten in Äthiopien ein. Zeitlich parallel beginnt der Spanische Bürgerkrieg.

Nach aussichtslosen Kämpfen geht der Kaiser ins Exil nach London. In Genf hat der Völkerbund 19378 die Annexion Äthiopiens durch die Italiener anerkannt. Ein makel, der auf dem Völkerbund lasten bleibt. Die Italiener gehen gegen den Widerstand im Land mit bestialischen Methoden vor. Im Januar 1941 marschieren die Engländer über den Sudan in Äthiopien ein und vertreiben die Italiener.

Äthiopien ist stolz darauf, das einzige afrikanische Land zu sein, das nicht (über längere Zeit kolonialisiert worden ist. Als in den 60er Jahren die ersten afrikanischen Länder sich von der Kolonialherrschaft befreien können und unabhängig werden, nehmen viele von ihnen die Farben der äthiopischen Flagge in ihre Nationalflaggen auf (rot-grün-gelb) Und 1963 wird der Sitz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) nach Addis Abeba gelegt.

In der deutschen Nachkriegszeit wurde die Beziehung zu Kaiser Haile Selassi (ebenso wie zum Pfauenthron in Persien) gepflegt. Die Wochenblätter berichteten ausführlich vom Glamour und der Tragödie einer Soraya wie vom feudalen Prunk des „kleinen äthiopischen Kaisers“. Über die Verbreitung in der Rgenbogenpresse spürte der leser und die Leserin so etwas wie Teilhabe am monarchischen Geschehen, das sie den im Vergleich dazu eher tristen eigenen Alltag überstrahlen half.

Im Inneren Äthiopiens häufen sich jedoch Ende der 60er Jahre die Probleme. Die Dominanz der seit altersher regierenden amharischen Ethnie in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Sprache, Kultur und Militär weckt zunehmend den Widerstand anderer Ethnien. Besonders in Eritrea, das die UNO treuhänderisch an Haile Selassie übergeben hatte, von ihm aber schon 1952 eng mit Äthiopien verbunden und 1962 annektiert worden war. Aber auch in der nord-östlichen Provinz Tigray – kulturell und sprachlich mit Eritrea verbunden – regt sich Widerstand. Ebenso wie unter den Oromo, die sich seit jeher von den Regierenden unterdrückt und vernachlässigt fühlen und weitgehend von Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten sind. Das extreme Ungleichgewicht bei der Verteilung des Reichtums und die Konzentration der Macht in den Händen einer ethnisch bestimmten Elite schürt Spannungen im Land.

Als der Kaiser die Hungersnot in den nördlichen Provinzen 1971 – 1973 ignoriert kommt es 1974 zum Sturz des Kaisers durch das Militär. Die chaotische Situation in Äthiopien nutzt das benachbarte Somalia, um den von Menelik II eroberten, aber überwiegend von nomadischen Somali bewohnten Ogaden zurück zu bekommen. Der neue starke Mann in Äthiopien Haile Mariam Mengistu bittet den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter um Hilfe. Der jedoch befürchtet erneute militärische Verwicklungen der USA kaum dass der Vietnamkrieg beendet war. Dagegen nimmt die Sowjetunion dankbar die Gelegenheit wahr, in Ostafrika eine neue kommunistische Einflusszone aufzubauen. Nur ein Jahr nach seinem Sturz stirbt Kaiser Haile Selassi. Bis heute halten sich unterschiedliche Gerüchte über seinen Tod. Ähnlich wie die Zarenfamilie in Russland wird Haile Selassie nach dem Ende des Kommunismus von der Kirche heilig gesprochen.

Wir fahren vorbei am alten Kaiserpalast, dem heutigen Sitz des Ministerpräsidenten, vorbei am alten Parlamentsgebäude mit seinem Glockenturm, den man hier Little Big Ben nennt. Das Parlamentsgebäude wurde noch von Kaiser Haile Selassie errichtet, um hier Symbol-Demokratie zu präsentieren. Ein bis heute attraktives politisches Verfahren in Ländern, die tatsächlich von einem einzigen starken Mann regiert werden.

Die Strasse zwischen den beiden bekannten Plätzen Arat Kilo und Sedist Kilo ist eine der beiden grossen Magistralen, die Tag und Nacht von dichtem Autoverkehr verstopft sind. In dieser Strasse befindet sich die berühmte Oberschule Menelik II, der Palast des Äthiopisch-Orthodoxen Patriarchen, das Nationalmuseum – und zwei meiner Lieblingsrestaurants:

Das Romina ist ein kleines italienisches Restaurant, wo man mittags gut draußen sitzen kann. Abends ist es drinnen immer überfüllt und laut. Aber gleich nebenan gibt es eine winzige Pizzeria mit nur zwei kleinen Tischen für nicht mehr als sechs Gäste. Hier am großen Pizzaofen sitze ich gerne abends , wenn es draußen kühl ist. Das Warten lauf die Pizza lohnt sich , denn hier gibt es die beste Pizza der Stadt Und bei einem guten St. George, meinem Lieblingsbier fällt das Warten ohnehin nicht schwer.

Mein zweites Lieblingsrestaurant in dieser Strasse ist das Lucy. Es wird gerne auch von ausländischen Gästen besucht. Der Name des Restaurants bezieht sich auf jene Dame, die man 1974 in der Danakil-Senke entdeckt hat. Sie gehört zur Gattung der Australopithecus afarensis, die vor etwa drei Millionen Jahrten hier lebte. Lucy gehört zu den ältesten Funden von „Vormenschen“. Die Forscher, die sie fanden dachten bei der Namensgebung an den Beatles-Song Lucy in the Sky with Diamonds. Die Äthiopier nennen sie Dinkinesh – „Du bist wundervoll!“. Eine Replik von Lucy kann gleich nebenan im Nationalmuseum besucht werden.

Wir fahren weiter und trinken einen Kaffee im Stadtteil Piaza in der Strasse, wo sich ein Juweliergeschäft an das andere reiht. Hier oben wollte die italienische Besatzungsmacht unter dem Vizekönig Marschall Graziani ein neues Stadtzentrum nach italienischem Vorbild bauen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Nur der Name Piaza erinnert noch an das Vorhaben. Aber seit zwei Jahren gibt es einen großen Bauzaun auf dem Platz. Man sagt, dass ein äthiopisch-saudischer Geschäftsmann hier ein großes neues Geschäftsviertel bauen will. Sozusagen seinen Trump-Tower. Aber die Stadtverwaltung hat immer noch keine Baugenehmigung erteilt. Man ist sich bisher nicht einig geworden…

Neben dem Reiterdenkmal, das Menelik II. hoch zu Ross darstellt befindet sich seit einem Jahr der Eingang zur neuen Stadtbahn. Die Äthiopier nennen sie auf Englisch „the train“. Die Stadtbahn ist eine Hochbahn, die – ähnlich wie die S-Bahn in Berlin – die Stadt in einer großen Schleife umgibt. Sie wurde von den Chinesen in relativ kurzer Zeit gebaut. Sie ist modern, funktioniert und wird täglich von Tausenden genutzt. Natürlich mussten wir ausprobieren, wie es ist, mit der neuen Stadtbahn zu fahren und dabei das Gewimmel in der Stadt gemütlich von oben zu beobachten.

Wir verlassen die Stadtbahn an der Station Lagar. Eigentlich ist der Name französisch: La Gare. Einer der beiden Endpunkte der schon Ende des 19. Jahrhunderts von den Franzosen gebauten Eisenbahn. Sie reichte von (damals französisch) Djibouti bis zur neuen von Menelik II.gegründeten äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Chinesische Ingenieure haben die Bahnstrecke komplett erneuert. Bald soll man wieder von Addis nach Djibouti fahren können. Ich habe schon lange darauf gehofft!

Auf dem Rückweg zu unserem Hotel kommen wir wieder am Arat Kilo Platz mit dem Löwe-von-Juda-Obelisken vorbei. Einen Steinwurf entfernt steht die Trinity Church, in der sich die Grablege von Kaiser Haile Selassie und seiner Frau befindet.

Der Löwe von Juda und die Königin von Saba

Der bronzene Löwe auf dem Obelisk des Arat Kilo Platzes erinnert an eine alte afrikanische Tradition und insbesondere an eine nationale äthiopische Tradition. Der Löwe als Symboltier königlicher Macht spielt in Afrika eine große Rolle.

Im südlichen Äthiopien gibt es die Vorstellung, dass sich ein verstorbener König in einen Löwen verwandelt. Viele von uns erinnern sich vielleicht auch an den Schluss des Kinofilms „Jenseits von Afrika“: Der geliebte, aber irgendwie immer schon unerreichbar-jenseitige Denys (Rober Redford) verunglückt tödlich mit seinem Flugzeug. Er wird begraben und von seiner Geliebten Karen Blixen (Meryl Streep) betrauert. Und dann das tragisch-gloriose Schlussbild: In der untergehenden Sonne taucht ganz unerwartet und wunderbar ein Löwe auf dem Grab des Geliebten auf. Symbolhaft weist er auf die Verwandlung des geliebten Mannes in einen majestätischen Löwen hin – sozusagen für immer und ewig verklärt. Seitdem denke ich, dass es so schlecht vielleicht nicht wäre, wenn ich einmal in Äthiopien begraben wäre. Allerdings: in Äthiopien sind alle Löwen ausgerottet…

Die Verbindung des äthiopischen Kaisers mit dem Symbol des Löwen geht vermutlich zurück auf dieses alte Prestige-Tier. Aber viel mehr noch auf den „Löwen von Juda“: Die Bibel erzählt, dass König David den Ehrentitel „Löwe von Juda“ annimmt und an seinen Sohn, König Salomon weitergibt. Salomon wird als reich und klug beschrieben. Zu ihm kommt eines Tages die „Königin von Saba“ mit ihrem Gefolge und vielen kostbaren Gastgeschenken. Sie testet Salomon, ob er wirklich so klug ist wie man sagt. Salomon besteht die Probe, und die Königin kehrt – ihrerseits rech beschenkt – in ihr Heimatland im Süden zurück.

Diese Geschichte hat schon immer die Phantasie angeregt. Historisch gesehen ist der Befund eher dünn. Weder ist der Name dieser sagenhaften Königin überliefert noch der geografisches ihres Reiches identifiziert. Archäologische Hypothesen gehen davon aus , dass es im 8. Jahrhundert v. Chr. im Nordwesten des heutigen Jemen das Reich der Sabäer gab. Es war berühmt wegen seiner Bewässerungskunst und wegen des Weihrauchhandels. An der ost-afrikanischen Küste gab es schon damals einen lebhaften Handel. Viele Kolonisten aus der Gegend des heutigen Jemen siedelten sich dort, an der heutigen äthiopisch-eritreischen Küste an.

In der äthiopischen Überlieferungsgeschichte Kebra Nagast (Der Ruhm des Königs) wird die biblische Geschichte ausgeschmückt.: König Salomon und die Königin von Saba (hier schon eine abbesynische Königin!) verbindet eine Liebesgeschichte. Ihr gemeinsamer Sohn Menelik besucht eines Tages seinen Vater Salomon und entführt das Allerheiligste: die Bundeslade aus dem von Salomon extra für sie gebauten Tempel. Die Bundeslade repräsentierte und garantierte die dauerhafte Anwesenheit Gottes unter seinem Volk. Menelik bringt die Bundeslade in das Heimatland seiner Mutter, weil es von ihm als würdiger erachtet war, die Bundeslade zu beherbergen. Die Stadt Axum war damals das Zentrum des Landes. Axum liegt hoch im Norden des heutigen Äthiopien, nahe der Grenze zu Eritrea.

Mit Berufung auf diese Überlieferung versteht sich die äthiopisch-orthodoxe Kirche bis heute als „das wahre Israel“ – denn hier befindet sich das Allerheiligste, die mit der Bundeslade symbolisierte und repräsentierte Allgegenwart Gottes. (In schöner Konkurrenz hat sich die Äthiopische Evangelische Kirche nicht von ungefähr den Namen „Mekane Yesus“ gegeben, denn dieser Name heißt: „dort, wo Jesus ist“: bei den Evangelischen!).

Yerer und Abschied

Am nächsten Tag fahren wir zum Yerer Mountain. Für mich ist dies ein ganz besonderer Ort in meinem Leben geworden. Vor zwanzig Jahren war ich das erste Mal hier. Seitdem verbindet mich viel mit diesem Ort und den Menschen hier. Bei meinem ersten Besuch hatte unsere Partnergemeinde Kotobe hier ein grösseres Zelt aufgeschlagen. Hier lernten Kinder und ihre Eltern Lesen und Schreiben – ein literacy tent. Ich erinnere mich noch an die verklebten Augen der Kinder. In schwarzen Klumpen saßen die Fliegen in den Augenwinkeln. Es gab kein sauberes Trinkwasser und kein sauberes Wasser, um wenigstens das Gesicht waschen zu können.

Dieses Erlebnis hat dazu geführt, dass wir in hannoverschen Gemeinden Geld gesammelt haben, um am Yerer einen Brunnen zu bohren. Jetzt gibt es dort Wasser: sauber und in ausreichender Menge. Wir haben dort am Yerer mit Hilfe von Brot-für-die-Welt dreißig tausend Bäume gepflanzt und an die Bauern in der umliegenden Gegend zur Wiederaufforstung verteilt. Von der dänischen Mission wurde hier eine kleine Kirche gebaut. Und mit Hilfe von Geldgebern aus Deutschland konnten feste Gebäude für ein Kinder-Ferienlager errichtet werden.

Und demnächst soll auf dem Stück Land, das mir hier geschenkt wurde die Yerer Guest Farm entstehen: eine Lodge mit mehreren Rundhütten (tokul) im traditionellen Baustil, aber so, dass die Gebäude und ihre Ausstattung auch den europäischen Ansprüchen genügen. Wir wollen dazu eine Apfelplantage mit einhundert Apfelbäumen pflanzen. Ein Wächter soll das Ganze verwalten. Mein Traum wäre es, dort am Yerer Pferd und Wagen zu haben. Dann könnte ich donnerstags zum Wochenmarkt nach Rogge fahren.Und abends säße ich mit Freunden vor meiner Rundhütte , blickte auf die Silhouette der Berge in der Abendsonne, wir würden dabei ein gutes St. George Bier trinken und tiefen Frieden in uns spüren. Träume? Sicher! Alt-Männer-Phantasien? Ja, freilich!

An unserem letzten Tag in Addis Abeba besuchen wir das Straßenkinder-Projekt von Ato Gizachew. Gizachew und ich kennen uns seit vielen Jahren. Meine Tochter Anna Lena und Gizachew sind auf merkwürdige Weise miteinander verwandt. Das hat sich ganz zufällig herausgestellt. Die Familie eines Cousins von Anna Lenas schwedischem Großvater hat Anfang der siebziger Jahre, als in Äthiopien Hungersnot herrschte zwei äthiopische Kinder adoptiert: Bruder und Schwester von Gizachew!

Aufgrund dieser „familiären Verbindung“ hat Anna Lena einen eigenen Kinderhilfsverein gegründet, der Gizachew mit seinen Projekten unterstützt. Gemeinbsam mit einigen Freunde hatte Gizachew vor etwa fünfzehn Jahren damit begonnen, Sraßenkinder in Addis Abeba mit Essen und Kleidung zu versorgen. Heute ist daraus ein vielfältiges soziales Unternehmen geworden, das inzwischen auch eine Schule und demnächst eine vor- und nachgeburtliche Einrichtung für Mutter und Kind umfasst. Es gibt eine Handwerkerschule und eine Resozialisierungsmaßnahme für junge Frauen , die vom Land nach Addis kamen und zur Prostitution gezwungen wurden. Eine berufliche Ausbildung zum Friseur geht Hand in Hand damit, dass Obdachlosen hier ein kostenlosen Haarschnitt bekommen können. Auch Duschen und Toiletten stehen für sie zur Verfügung. Und immer noch bekommen einige Hundert Straßenkinder an verschiedenen Ausgabestellen in der Stadt täglich eine warme Mahlzeit.

An unserem letzten Abend besuchen wir das traditionell-äthiopische Habesha-Restaurant. Hier gibt es nicht nur traditionelles äthiopisches Essen, sondern auch Folklore-Darbietungen mit Musik und Tanz. Es ist ein guter Abschluss einer abenteuerlichen, wunderbaren Reise. Vor allem aber bin ich dankbar, dass niemand aus unserer Reisegruppe einen Unfall hatte oder ernsthaft krank geworden ist . Danke, liebe Weggefährten und -gefährtinnen!

Hannover, Dezember 2016

Kurt Jürgen Schmidt

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