Vierter Brief ais Äthiopien 2018 – Kirche und Gesellschaft

Vierter Brief aus Äthiopien – Kirche und Gesellschaft

Liebe Freunde,

Heute habe ich mich zum Mittagessen mit Firowot, ihrem Neffen und Soboka getroffen. Firowot ist eine der beiden Schwestern, von denen Soboka und ich vor zehn Jahren schon ein Grundstück am Yerer Mountain geschenkt bekommen haben. Darauf wird jetzt das erweiterte Yerer Youth Camp und Guesthouse entstehen. Der Neffe lebt in den USA. Kurz bevor er in Äthiopien sein Studium beginnen wollte, gewann der Bruder seiner Mutter in der US-amerikanischen Lotterie, durch die Menschen in aller Welt „das große Los ziehen“ können, umn in die USA legal einzuwandern. Dieses grßse Los gewann Firowots Schwager. Das Los ermöglichte ihm, auch seine Familie mit einreisen zu lassen. Aber er war unverheiratet. Also gab er bei der amerikanischen Botschaft in Addis seine beiden Neffen als eigene Kinder aus. Das ging durch und die Neffen wanderten mit dem Onkel nach Amerika aus. Später kam die Mutter der beiden jungen Männer nach.

Als Firowots Neffe jetzt Yerer Mountain besucht, mit eigenen Augen die wunderschöne Landschaft sieht und von seiner Tante die mit diesem Ort verknüpfte Familiengeschichte erzählt bekommt, ist er sehr angerührt. Kaiser Haile Selassie hatte seinem Großvater ein großes Stück Land geschenkt , das mehrere Dörfer mit einschloss und bis zum Fuß des Yerer reichte. Hier baute er eine grosse Hütte. Sie steht noch heute. In unserem Gespräch beim Mittagessen, kommt der junge Mann aus Amerika auf die Idee, in Erinnerung an seinen Großvater die alte Hütte zu einem Museum zu machen, die heruntergekommenen Stallungen neu herzurichten und – in Verbindung mit dem Yerer Youth Camp – ein Angebot für Gäste zu machen: Leben auf dem Land, Reiterferien, Schafe und Kühe hüten. Yerer Guest Farm! Für seine Tante Firowot plant er, eine neue Hütte zu bauen im traditionellen Baustil eines Tokul – entsprechend der Vorlage des Toklul, den wir gerade bauen wollen…. Isn´t that something!

Am späteren Nachmittag habe ich Pastor Gematchu zu Hause besucht. Er zählt zu den ersten einheimischen Pastoren, die noch von deutschen oder schwedischen Missionate damals unterrichtet und später ordiniert wurden. Er war Synodenpräsident im Westen, in Wolega und hat die kommunistische Zeit als junger Pastor miterlebt. Jetzt ist er neunzig Jahre alt geworden. Er geht regelmäßig in den Gottesdienst der Gemeinde Kotobe, die mein Freund und Kollege Pastor Soboka gegründet hat. Mitten in der kommunistischen Zeit, als die evangelischen Pastoren verfolgt und die kirchlichen Gebäude enteignet wurden.

Buchstäblich aus dem Nichts und – wie er es sagen würde: mit Gottes Hilfe und durch die Wirkung des Heiligen Geistes – ist eine große, lebendige Gemeinde enststanden, aus der elf weitere, neue Gemeinden in der größeren Umgebung entstanden sind. Durch Gebet und Verkündigung des Wortes Gottes. Und ich würde ergänzen: durch den unerrmütlichen persönlichen Einsatz und durch die einladende und gewinnende Art, wie Soboka auf die Menschen zugeht. Eine große und segensreiche Arbeit!

Wenn ich in Kotobe bin, treffe ich den alten Pastor Gemetchu immer im Gottesdienst. Geduldig hält er die langen Gottesdienste aus. Auch die lautstarken Prediger. Noch bin ich nicht ganz so schwerhörig wie er…. Bei meinem Besuch bei ihm zu Hause, haben wir uns neben einander gesetzt und obwohl weder er noch ich unsere Hörgeräte benutzt haben, war es ein gutes Gespräch. Ich habe immer nur kurze Fragen gestellt und er hat dann ausführlich aus seinem Leben erzählt. Als ich mich verabschiedete, habe ich ihn um seinen Segen für mich gebeten. Er hat mir die Hände auf den Kopf gelegt und hat mich gesegnet…. Was für ein wunderbarer Augenblick! Gott weiß, ob wir uns in diesem Leben wiedersehen werden.

Am Abend habe ich selbst Besuch bekommen von dem neuen Pastor in Kotobe, der zuständig ist für die elf Gemeinden des neune Kirchenkreises (parish).Wir hatten ein interessantes Gespräch über die aktuelle Situation der Mekane Yesus Kirche. Vor zwanzig Jahren, als ich das erste Mal in Äthiopien war, hatt die Mekane Yesus Kirche etwa dreieinhalb Millionen Mitglieder. Jetzt sind es neun Millionen! Jedes Jahr wächst die Kirche vermutlich um etwa eine halbe Million Mitglieder. Genau weiß man es nicht, weil an den Rändern die Mitgliedschaft oft unklar ist. Viele sind gleichzeitig noch in nder Orthodoxen Kirche geblieben und andere besuchen auch noch die Gottedienste der Pfingstkirche.

Viele Gemeinden der Mekane Yesus Kirche haben sich in den letzten Jahren rapide zu charistmatisch-fundamentalistischen Gemeinden entwickelt, die kaum noch von Pgingstgemeinden zu unterscheiden sind. Viele Gmeindeglieder sind begeistert von den autoritär-fundamentalistischen sogenannten TV-Churches in den USA mit ihren schrillen religiösen Anführern und dem Wunderheilungs-Spektakel in den TV-Show-Gottesdiensten. Die entsprechenden Spendenkonten werden immer wieder eingeblendet. Hohe Summen an Spenden fließen auf diese Konten – und meistens ohne grössere Umwege in die Tasche der religiösen „Showmaster“.

Den Anfang und Anstoß zu diesen gottesdienstlichen Fernseh- und Massenveranstaltungen hat der berühmte Billy Graham gegeben, der kürzlich verstorben ist. Die etablierten alten Kirchen in den USA haben kaum noch etwas dagegen zu setzen.

Ich sehe, daß sich die Dinge in den afrikanischen Kirchen ähnlich entwickleln. Die alten „Missionskirchen“, die einmal das Evangelium nach Afrika gebracht haben verlieren rasant an Bedeutung. Und inzwischen gibt es die umgekehrte Entwicklung: die afrikanischen Kirchen haben begonnen, die Länder im Norden zu missionieren, aus denen einmal die Missionaren kamen, die aber inzwischen weitgehend vom Glauben abgefallen sind. So jedenfalls das Bild, das viele afrikanische Christen von den Kirchen Europas haben.

Ich habe in unserem Gespräch erwähnt, dass viele alte Missionare, die jetzt im Ruhestand in Deutschland leben, auf die Entwicklung der Mekane Yesus Kirche mit Enttäuschung und Trauer reagieren. Und ich habe auch gesagt, dass ich selbst es wahrscheinlich nicht riskieren würde, mit einer deutschen Reisegruppe einen der Gottesdienste in der Mekane Yesus Kirche zu besuchen. Viele der Besucher würden aus meiner Sicht entweder in Ohnmacht fallen oder schreiend das Weite suchen. Darauf mein Gesprächspartner: Pastor Soboka und die Gemeinde in Kotobe gilt in den Augen als sehr konservativ. Da bin ich doch gerne konservativ!

Am Ende unseres Gespräches hat mich mein Gesprächspartner gefragt, was ich denn der Mekane Yesus Kirche für einen Rat geben würde. (Diese Frage oder Bitte um den Rat einer älteren Respektsperson ist typisch für die afrikanische Kultur). Ich habe geantwortet, daß ich der Mekane Yesus Kirche zu mehr Demut rate.

Wenn Pastor Soboka in etwa anderthalb Jahren in den Ruhestand geht, wird vermutlich vieles , was er in seiner Gemeinde aufgebaut keinen langen Bestand haben: die internationale, ökumenische Weite, das Interesse an fundierter, wissenschaftlicher Theologie, der reformatorische Freiheitsgedanke und das Interesse und die Freude dem Anderen und Fremdem zu begegnen. Tatsächlich habe ich die Befürchtung, dass die lutherisch-presbyteriale Mekane Yesus Kirche von der charismatisch-fundamentalistischen Pfingstkirche „geschluckt“ wird. Und viele Gemeinden der Mekane Yesus Kirche werden dies nicht einmal merken…

Gott sei Dank gibt es noch den Yerer als Rückzugsort. Für Soboka und für mich. Der Yerer und das, was dort als lebendiger Ort der Begegnung entstanden ist wird hoffentlich Bestand haben. Als Ort des Friedens mit der Möglichkeit, zu Atem und zur Besinnung zu kommen auf das, was wirklich wichtig ist und trägt.

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

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