Zweiter Brief aus Äthiopien -Januar 2018 – Gadaa und die Humanistische Psychologie

Zweiter Brief aus Äthiopien – Gadaa und die Humanistische Psychologie

Liebe Freunde,

nun hat das Seelsorgeseminar begonnen. Die Rahmenbedingungen sind ungewöhnlich: Elf Teilnehmerinnen, eine Co-Leitung und ich als einziger Mann und in der Leitung. Das Ziel des Seminars ist ebenfalls ungewöhnlich: Auf der Ebene von Kirchengemeinden soll ein Beratungssystem geschaffen werden, in dem kompetente Frauen als Ratgeber rat-suchenden Frauen in Krisen und Konflikten unterstützen. Eine Beratung von Frauen für Frauen. Und dies in einer männer-dominierten, patriarchalen Gesellschaft. Die Herausforderung besteht darin, die „Frauenberatung“ in vorhandene kirchliche und gesellschaftliche Strukturen zu integrieren. Traditionell spielt der Gemeindepastor bei Konfliktlösungen eine große Rolle. Diese Bedeutung soll nicht in Frage gestellt, sondern ergänzt werden durch kompetente Beratungsarbeit, die von entsprechend ausgebildeten Frauen innerhalb eines Kirchenkreieses (parish) wahrgenommen werden soll. Natürlich müssen auch die Ehemänner und Kirchenvorsteher (elders) mit eingebunden werden, denn ohne ihre Unterstützung würde dieses „Frauenprojekt“ nicht funktionieren. Das Seminar soll ein erster Schritt sein für ein Gemeinde-bezogenes Beratungsangebot, das es weiter zu entwickeln gilt. In einem einwöchigen Training kann selbstverständlich keine hinreichende Beratungskompetenz erworben werden. Aber die Kompetenz kann in anschließenden Seminaren weiter entwickelt werden.

Eine weitere grosse Herausforderung ist der kulturelle Aspekt:. In der Kultur und Tradition der Oromo (der grössten Ethnie im heutigen Äthiopien) spielt ein seit sechshundert Jahren ( vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts) praktiziertes Gesellschaftsmodell eine bedeutende Rolle: das Gadaa-System. Es betrifft den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und familiären Aspekt. Gadaa kann mit Recht als ein erfolgreiches Gesellschafts- und Staatsmodell betrachtet werden, das im Selbstverständnis egalitär und demokratisch ausgerichtet ist und alle Aspekte des Zusammenlebens definiert und regelt. Es betont die Elemente von dezentraler Machtteilung und wirksamer Kooperation.

Schon früh werden hier Menschenrechte beachtet und die Gleichheit und Würde der Einzelnen betont. Das Gadaa-System zielt ab auf ein friedlich-geregeltes und harmonisches Zusammanleben und -wirken. Von Geburt an hat ein Mensch das verbriefte Recht auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit. Asylsuchenden Fremden werden die gleichen Rechte gewährt und gleichen Pflichten auferlegt wie den eigenen Leuten. Gadaa umfasst ausserdem starke ethisch-moralische und religiöse Aspekte.

Im Kontext unseres Seminars ist Gadaa vor allem deshalb interessant, weil es Elemente geregelter und gewaltloser Konflikttlösung und Beratung zur Verfügung stellt. Ein Beratungs- und Konfliktlösungsmodell, das von außen kommt und das indigene kulturelle Erbe nicht beachtet, wird scheitern. Nun ist es jedoch so, dass das Beratungskonzept, das ich vertrete und zur Verfügung stelle, seine Wurzeln in der Aufklärung und in der Humanistischen Psychologie des vergangenen Jahrhunderts hat. Dabei steht das Individuum im Mittelpunkt des Interesses: die Entdeckung der eigenen Ressourcen, die Arbeit an den persönlichen Problemen und die Unterstütztung bei der Entwicklung und Entfaltung einer hinreichend gelungenen persönlichen Lebensgestaltung. Im Gegensatz dazu ist das traditionelle Gadaa-System fokussiert auf den Gedanken der Gemeinschaft und ihr Wohlergehen. Ohne harmonische Gemeinschaft kein individueller Friede. Das Gadaa-System steht für „Gewaltenteilung“ und „check and balance“. Es steht für Rechtssicherheit und Frieden (nagaa).

Bereits vor Beginn des Seminars war ich mir bewußt, dass die beiden „Ansätze“ – das „westliche“ und das „Oromo“ Modell – nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass beide Ansätze sich gegenseitig (!) befruchten und ergänzen könnten. Dies hat u.a. die Entstehung des systemisch-familientheraputischen Ansatzes bei uns gezeigt. Auf der anderen Seite sieht sich die Gesellschaft und auch die Kirche in Äthiopien durch die rapide wachsende Urbanisierung herausgefordert. Dies ist besonders augenfällig in Addis Abeba. Jeden Tag strömen mehrere Tausend Menschen vom Land in die Hauptstadt. Eine Situation, die vergleichbar ist mit den großen Städten in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als durch die Industriealisierung neue Arbeitsplätze in den Fabriken geschaffen wurden. Allerdings zu miserbalen Bedingungen.

Aber in Äthiopien entshenen kaum neue Arbeitsplätze. Für die grosse Mehrheit der Menschen gibt es keinen wirtschaftlichen Aufschwung – nicht in den grossen Städten und schon gar nicht auf dem Land, wo immer noch die meisten Menschen leben. Viele junge Menschen kommen nach Addis und sind in kurzer Zeit völlig desillusioniert. Wenn sie Glück haben, finden sie eine Gruppe anderer Jugendlicher, der sie sich anschliessen. Sie hängen in Abbruchhäusern und Rohbauten herum. Sie sind entwurzelt, haben keine Perspektive und wollen und können nicht dorthin zurück, von wo sie voller Hoffnung aufgebrochen sind,

Das ist der gesellschaftliche und soziale Hintergrund auf dem das traditionelle Gadaa-System keine Hilfe mehr sein kann. Aber womöglich der auf den einzelnen notleidenden Menschen fokussierte Hilfeansatz, der auf Methoden der Humanistischen Psychologie zurückgreift. Vor diesem Hintergrund findet unser Seminar statt. Manche Betrachter sehen im Gadaa-System als Defizit, dass Frauen nicht angemessen repräsentiert sind und keinen angemessenen Einfluß haben. Andere dagegen unterstreichen, dass die Rechte der Frauen durchaus respektiert sind und Frauen geradezu die „tragenden Säulen“ sind. Tatsächlich existiert innerhalb des Gadaa-Systems eine besondere Institution, welche die Rechte der Frauen herausstellen. Es ist die Siiqqee-Institution, durch die Frauen in der Oromo-Tradition selbstorganisiert für ihre Rechte eintreten:

Am Hochzeitstag übergibt die Brautmutter der Braut den Siiqqee-Stab. Durch die Institution und Symbolkraft des Siiqqee hat eine Frau Anspruch auf materielle Ressourcen, sozialen Status, persönliche Unversehrtheit, Respekt und Schutz der eigenen Privatsphäre. Sie erfährt Solidarität in der Gruppe anderer Frauen. Wenn zum Beispiel eine Ehefrau von ihrem Mann mißhandelt wurde, kann diese sich an ihre Frauen- Peer-Gruppe (hirriya) in ihrer Nachbarschaft wenden. Jede der Frauen führt dann ihren persönlichen Siiqqee-Stab mit sich und wendet sich an die für einen solchen Fall vorgesehene Gruppe von „Älteren“ (Shane), die dann den Fall untersucht.

Außerdem wird den Oromo-Frauen durch die Siiqqee-Institution Macht und Kompetenz übertragen, private Konflikte zu einer Lösung zu bringen und Versöhnung zwischen verfeindeten Familien zu ermöglichen. Dies ist der Anknüpfungspunkt für eine verstärkte Rollenwahrnehmung von Frauen bei der Krisenintervention und Konfliktlösung in Kirche und Gesellschaft. Hier sehe ich auch einen Anknüpfunghs- und Verbindungspunkt zwischen „humanistischem“ und „Gadaa“-Ansatz.Mit anderen Worten, dies ist sozusagen die gemeinsame Basis, auf der das von uns entwickelte Beratungskonzept beruht.

Das kulturelle Erbe des Gadaa-Systems steckt in der DNA jedes Oromo. Ich bin mir bewußt, dass es nicht einfach sein wird, im Seminar das europäische kulturelle Erbe zu vermitteln: Aufklärung, Humanismus, Wertschätzung des Einzelnen. So etwa wie „Einzelberatung“ ist praktisch unbekannt. „Selbsterfahrung“ und „tiefenpsychologische Spurensuche“ ebenso. Und auch die „Aufararbeitung eines Problems“ scheint mir nicht von großem Interesse zu sein. Vielmehr läuft alles hinaus auf „Versöhnung“ (reconciliation) Es gibt in der Regel kein „face-to-face-counseling“, also die individuelle Beratung. Vielleicht, weil sie unter dem verdacht steht, ineffektiv zu sein, weil die andere Seite nicht präsent ist. Auch die Paarberatung in der Form, wie wir sie kennen, scheint es hier nicht zu geben. Vielleicht, weil es üblich ist, Konflikte in größerer Gemeinschaft zu lösen.

Heute haben wir im Seminar daran gearbeitet, welche Vor- und Nachteile Beratungsformen in einer modernen, urbanen Gesellschaft haben. Im verbreiteten ländlichen Kontext ist die Frau nicht zuletzt ökonmisch von ihrem Mann abhängig. Nach einer Trennung oder Scheidung ist die Frau faktisch unversorgt. Oft muß sie zu ihren Eltern zurück gehen. Das ist schambesetzt, weil sie wieder „Tochter“ wird und ihren sozialen Status als „Ehefrau“ gefährdet. Darüberhinaus ist es in der Regel der Mann, der das sehr viel von ihren Männern. Recht auf die gemeinsamen Kinder hat – jedenfalls wenn sie aus dem Säuglingsalter heraus sind. Auf diesem Hintergrund erdulden viele Frauen. Eine Teilnehmerin sagte: Ich würde mir lieber das Leben nehmen, als geschieden zu werden.

Die Teilnehmerinnen sind sehr wißbegierig, die „europäische“ Form der Beratung kennen zu lernen. Aber sie spüren auch deutlich, dass diese Beratungsform im afrikanischen Kontext an Grenzen stößt. In der am westlichen Humanismus orientierten Beratung geht es um Wertschätzung des Individuums, um Toleranz und Empathie. Das Ziel ist, eine Ratsuchende zu unterstützen und zu ermutigen, die eigenen Ressoucen zu entdecken und den eigenen Lösungsweg zu finden. Dabei werden jedoch sozio-ökonomische und politisch-rechtliche Strukturen vorausgesetzt, die es aktuell weder in Äthiopien, noch in den meisten anderen afrikanischen Ländern gibt. Was nützt also alle Einfühlung und Eremutigung, wenn eine Ratsuchende kaum eine Chanmce hat, etwas an ihrer Lebenssituation zu verändern?

Und dennoch ist deutlich, dass es einen großen Unterschied macht, ob ich in einer Krisen- und Konfliktsituation allein (gelassen) bin oder ob ich durch eine peer-group von Frauen (siehe: Siiqqee!) oder in einer professionellen Beratung Verständnis, Solidarität und Einfühlung erfahre – von einer weiblichen Beraterin! Auch wenn das männlich-chauvinistische System nicht von heute auf morgen verändert werden kann, würde eine solche Beratung dennoch etwas verändern können: Es würde dem desolaten Gefühl von Hilflosigkeit und, Einsamkeit und Ausweglosigkeit etwas entgegen setzen und helfen, ein lebensförderliches und die Lebenskräfte stärkendes Bewusstsein zu bekommen.

Methodisch lehre ich ohne Lehrbuch und häufig in „Bildern“: Ich demonstriere in der Mitte der Gruppe, was ich sagen will. Ich verwende Metaphern und „zeige“ eher, als dass ich verbale Erklärungen gebe. Wir arbeiten viel mit „Anwärm-Übungen“, Rollenspiel und lösen die Gruppenrunde auf durch das Arbeiten in Duos und Trios. Dadurch wird auch die Anstrengung reduziert, dass alles Gesagte übersetzt werden muß. Das ganze Lehr- Lerngeschehen ist buchstäblich ständig in Bewegung. Wir lachen viel miteinander und die Teilnehmerinnen drängen darauf, so viel wie möglich zu erleben und zu lernen. Das ist ganz wunderbar für mich.

Herzliche Grüsse,

Kurt Jürgen

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