Das Volk, das im Finstern wandelt sieht ein großes Licht.
An Weihnachten ist manchmal die Rede vom Weihnachtswunder. Oder vom Weihnachtszauber. Oder auch vom Geheimnis, das Weihnachten umgibt. An Weihnachten gibt es Überraschungen – zumindest was die Geschenke angeht. Weihnachten ist aber für viele vor allem ein Familienfest. Dass in den Weihnachtstagen die Familie wieder zusammen ist.
Manchmal aber ist es ein Schock, wenn alles auf ein schönes Fest vorbereitet ist und dann im Streit endet. Das wird als besonders schrecklich empfunden, weil man doch alles getan hat, dass es harmonisch wird an Weihnachten. Manchmal gelingt es, das Ganze mit etwas Abstand und mit Humor zu betrachten. Unübertroffen das Weihnachten von Loriot mit der Feststellung, dass früher mehr Lametta war. (Frage: Warum gibt es heute eigentlich kein Lamette als Baumschmuck mehr?).
Bei genauerem Hinschauen aber gibt es in unserer Gesellschaft auch viele richtig böse Überraschungen. Zum Beispiel für mehrere zehntausende Familien bei uns, denen Strom und Gas abgestellt werden, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Weil das Leben für sie zu teuer geworden ist. Weil das Geld hinten und vorne nicht reicht.
Und es gibt entsetzliche Ereignisse wie der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Die ganze Stadt, wir alle trauern um die fünf Opfer. Darunter ein neunjähriges Kind. Auf dem Altar haben wir deshalb ein Licht für sie angezündet. Wir denken auch an die Hinterbliebenen und an die vielen Verletzten. Auch an die Helferinnen und Helfer und an die Menschen, die das Schreckliche miterleben mussten und es kaum seelisch verarbeiten können. Neben Ohnmacht und Trauer ist auch die Angst da. Wo kann ich mich noch sicher fühlen? Dass Schönes und Schreckliches oft ganz nahe beieinander liegen – wir kennen das. Dass die Welt sich weiterdreht, egal, was geschieht – wir sagen das vielleicht selbst manchmal. Resigniert. Achselzuckend. Aber für die Betroffenen in Magdeburg steht die Welt noch lange still. Jetzt ist die Zeit für Trauer und Besinnung. Erst danach um Aufklärung, Urteil und um Prävention.
Der Krieg ist uns in Europa durch den Überfall auf die Ukraine wieder ganz nahe gerückt. In so vielen Ländern sehen wir Bilder von Gewalt und Zerstörung. Und es ist kein Ende abzusehen. Und kein entschlossener Wille, Frieden zu schließen. Ein Wahnsinn, der sich durch die Geschichte der Menschheit zieht.
Nun ist Weihnachten keine Überraschung für jemanden, der dies schon zwanzig- oder achtzigmal erlebt hat. Doch wenn wir die alte, vertraute Weihnachtsgeschichte hören, kann es passieren, dass wir zu unserer eigenen Überraschung wieder ganz angerührt sind. Wie jedes Jahr vor uns der Stall von Bethlehem. Die Krippe, Die Hirten, Schafe und Ziegen, Esel, Hunde, Katzen und Hühner – oder so ähnlich. Merkwürdig, dass uns das alles immer wieder so anrührt. Ist es das Idyllische? Die Erinnerungen an Kindheitsweihnachten oder an die schönen Weihnachten als wir frisch verliebt waren? Oder die Erinnerung daran, dass gerade an Weihnachten alles einen Knacks bekam bis es dann ganz zu Ende war.
Weihnachten ist keine Überraschung und doch. Euch ist heute der Heiland geboren. Und ihr werdet finden das Kind in der Krippe liegend. Christ der Retter ist da…“ Wo finde ich Heilung? Wo finde ich Rettung?
In einem Kapitel des alten jüdischen Prophetenbuches Jesaja heißt es:
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell…. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn daher geht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt werden…“ Wie aktuell diese alte Geschichte ist! Das entsetzliche Leid, das ein Krieg auslöst. Das Trauma, das jeder Krieg für die Menschen auslöst und das durch mehrere Generationen mitgeschleppt wird, um es dann endlich und hoffentlich bearbeiten zu können. Die alte Erfahrung, dass Kriege immer schon von Größenwahnsinnigen und ihren gehorsamen Eliten angezettelt und vom Zaun gebrochen wurden.
Auch die Erfahrung, dass Kriege sich irgendwann verselbständigen und ein Eigenleben führen, dem kaum jemand mehr Einhalt gebieten kann. Und mitten in allem Leid die Sehnsucht. Vermischt mit Verzweiflung und ohnmächtiger Wut. Sehnsucht nach Frieden. Nach Frieden und Versöhnung und Verständigung unter den Völkern. So wie es in der Geburtsgeschichte Jesu die Himmlischen Heerscharen über dem Stall von Bethlehem verkündigen. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden…
Wer rettet, wer heilt und versöhnt diese zerstrittene und bedrohte Welt? Schon immer hat man in den selbsternannten Herrschern dieser Welt die Führer sehen wollen, die in ein gelobtes Land führen. Hat sie als Erlöser und Heiland und als unverletzbare Heilige betrachtet. Das ist nicht neu. Erstaunlich ist, dass diese alte Gewohnheit nicht aufhört.
Erstaunlich auch, dass die mit dem großen Mundwerk oft auch das Sagen haben. Und dass die klugen, eher zurückhaltenden, aber differenziert denkenden und umsichtig handelnden Menschen oft als zu wenig zupackend erlebt werden. Erstaunlich, wie am Ende doch das Zerstörerische, wie Ignoranz und Arroganz in der Kommunikation am Ende durchbricht und gnadenlos abgerechnet und der andere beschämt wird. Ein Lichtblick, dass die Parteien in der Mitte unserer Gesellschaft sich jetzt einen fairen Wahlkampf versprochen haben. Wir wissen doch, wie sehr Worte verletzen können.
Vielleicht trägt die christliche Botschaft an Weihnachten und der Blick auf das Kind in der Krippe etwas dazu bei, dass wir in Politik und Gesellschaft und auch im eigenen beruflichen und privaten Lebensbereich etwas respektvoller und freundlicher miteinander umgehen.
In Deutschland leben mehrere Millionen Angehörige anderer Religionen. Wie erleben sie Weihnachten? Gibt es Einladungen hin und her zu den religiösen Festen unter den Menschen der verschiedenen Religionen. Zu Weihnachten oder zum Ende des Ramadan oder dem jüdischen Chanukka? In den Kulturwissenschaften spricht man aktuell vom sogenannten Neuheidentum. Die germanische Göttergestalt Odin ist in der Jugendkultur populär. Überhaupt die Wikingerzeit mit der sich Vorstellungen von Freiheit und Zwanglosigkeit verbinden. Odin ist seit dem 19. Jahrhundert und besonders im Nationlsozialismus und der völkischen Bewegung heute eine Projektionsfläche auch für spirituelle Vorstellungen. Er wird als Stammvater der nordischen Herrscher, aber auch als Heiland gesehen, der Menschen und Pferde heilen kann. Es stellt sich die Frage: Findet bei uns gerade eine Rückkehr zu naturreligiösen Vorstellungen statt? Gott wird nicht in den Kirchen, sondern in der als spirituell erlebten Natur gesucht und gefunden?
Bei meinem letzten Besuch in Äthiopien wurde ich ganz offiziell von der Kirchenleitung der großen lutherischen Kirche dort gefragt, ob ich zur Verfügung stünde als Vermittler für die afrikanischen Missionare, die im Herzland Luthers den evangelischen Glauben zurückbringen wollen. Hier habe sich nach ihrem Eindruck inzwischen wieder das Heidentum verbreitet.
Und in der Tat: der christliche Glaube ist eine Herausforderung. Für das Denken und Fühlen. Das betrifft schon gleich die Weihnachtsgeschichte. Das für mich immer wieder Überraschende in der biblischen Weihnachtsgeschichte ist, dass Gott selbst Mensch wird. Nichts weniger als ein revolutionärer Gedanke, der sogar von vielen Theologen kaum auszuhalten war. Deshalb gab es in der Geschichte der Kirche eine Bewegung, die die Lehre verbreitete, dass Gott nur scheinbar Mensch geworden ist, also nur in die Rolle eines Menschen geschlüpft ist, aber immer Gott geblieben ist. Ein theologischer Gedanke, der das Revolutionäre nicht ertragen konnte. Dass Gott Mensch wird ist ein Alleinstellungsmerkmal des christlichen Glaubens.
Jesus wird in einer einfachen Handwerkerfamilie geboren. Nicht als Königssohn mit einem goldenen Löffel im Mund. Kein arabischer Prinz, dessen Leben darin besteht, den geerbten Reichtum zu genießen und auszugeben. Seit dreißig Jahren bin ich regelmäßig in Äthiopien. Heute noch kann man sich hier gut vorstellen, wie das Leben zu der Zeit Jesu wohl war. In Äthiopien leben heute noch die meisten Menschen auf dem Land. Wie bei uns bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist eine patriarchale, männerdominante Gesellschaft. Kinderrechte? Unbekannt. Frauenrechte? Weitgehend unbekannt. Nur bis zum Ende der Stillzeit verzichtet der Vater auf den Zugriff auf sein Kind. Danach gibt er dem Kind einen Namen und reklamiert damit: Du gehörst jetzt mir. Meine Schafe und Ziegen, meine Kühe, meine Frau oder auch meine Frauen und meine Kinder. Sehr früh werden Kinder als Arbeitskräfte gebraucht. Vor allem als Schaf- und Kuhhirten. Die Hirten auf dem Felde, von denen die Weihnachtsgeschichte erzählt, muss man sich als Kinder vorstellen. Ihnen wird übrigens als ersten die Botschaft von der Geburt Jesu durch die Engel mitgeteilt. Sie, die Kinder haben sofort begriffen, worum es hier ging.
Dass eine junge Frau schwanger wurde, aber lange auf die Heirat durch den Mann warten musste hatte vor allem ökonomische Gründe. Heiraten war kostspielig. Dass Maria vor diesem Hintergrund eine so große Bedeutung in der christlichen Kirche bekommen hat, ist ungewöhnlich. Sie und ihr Neugeborenes stehen im Mittelpunkt, der Mann ganz im Hintergrund. Im Übrigen werden die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit realistisch geschildert: Römische Besatzung bedeutete, keine politischen Rechte zu haben, keine eigene nationale Identität, keine Macht. Unsichere Zeiten. Unruhige Zeiten. Attentate und Aufstände liegen in der Luft. Es ist völlig überraschend, dass sich mit der religiösen Vorstellung, nämlich der, dass die Zukunft auf den Schultern eines Kindes ruht, eine religiöse Bewegung entsteht, die sich dreihundert Jahre später als weltweit führende Religion entwickelt.
Eine Geschichte über Jesus erzählt, dass Jesus einmal gesagt: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr euer Leben verspielt haben. Im Originaltext heißt es: werdet ihr nicht in das Reich Gottes kommen. Von Kindern lernen, heißt: die Kreativität, die Lernlust, das eigene klein und bedürftig sein, die Spielfreude zu entdecken und die Bereitschaft, mal die Rollen zu tauschen: mal bist du der Zauberer und mal bin ich der Verzauberte. Mal bist du der Gute und mal ich – und umgekehrt. Unsere gesellschaftlichen Rollen sind von Gott nicht festgeschrieben. Wir alle haben im Grunde nur die eine Rolle: Mensch zu sein. Und uns menschlich zu zeigen.
Und im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wir als Menschen teilhaben an der Göttlichkeit Gottes. Die Bibel sagt es so: dass wir Gottes Kinder sind. Mit dem Kind in der Krippe verbindet uns also die Menschlichkeit Gottes und unsere Teilhabe an Gottes Göttlichkeit. „Mensch und Gott- vereint beisammen“ – so heißt es in einem alten Glaubenslied.
Das ist der Hintergrund auf dem wir die alte prophetische Verheißung von Jesaja verstehen können: Denn uns ist ein Kind geboren, und die Herrschaft liegt auf seiner Schulter und des Friedens wird kein Ende sein. Recht und Gerechtigkeit werden herrschen von nun an bis in Ewigkeit.
Predigt an Heilig Abend 2024 in St. Michaelis, Bienenbüttel – Predigttext Jes 9, 1-6 und Lk 2, 1ff