Predigt

Begabt        

Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte, aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. In einem Jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller. Dem einen wid durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden. Dem anderen wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden – nach demselben Geist. Einem anderen Glaube – in demselben Geist. Einem andern die Gabe, gesund zu machen – in dem einen Geist. Einem andern die Kraft, Wunder zu tun. Einem anderen prophetische Rede. Einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden. Das alles wirkt der eine selbe Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will. (Apg 12, 1-11)

Verliebt sein kann etwas Schönes sein. Für manche fängt das schon früh in der Jugend an. Zum Beispiel bei mir. Aber leider war das aufregende Geschehen sehr einseitig. Ich hab natürlich viel darüber nachgedacht, woran das lag und wie ich es hätte schaffen können, aus der deprimierenden Situation herauszukommen. Vor kurzem bin ich auf eine wissenschaftliche Untersuchung gestoßen, die nachweist, dass Posaunenbläser besser küssen. Schon im Ansatz. Diese neue Information kommt für mich nun leider etwas spät. Sonst wäre ich damals wahrscheinlich in den Posaunenchor gegangen. Ohne wissenschaftlichen Begründung ist aber klar: beim Verliebtsein kommt es auf den gemeinsamen spirit an. Im Übrigen Verliebtsein ist besser, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht.

Frohe und gesegnete Pfingsten! Ja, wenn man wüsste, was Pfingsten ist!  Den meisten Zeitgenossen sagt Pfingsten ja nichts mehr. Eigentlich schade, denn ich finde, dass Pfingsten eine ziemlich interessante Sache ist. Pfingsten gehört – jedenfalls bis jetzt – zur christlich-abendländischen Kultur. Man will ja schließlich kein Kulturbanause sein und nichts über Pfingsten wissen… In der Bibel werden die pfingstlichen Ereignisse nach Harry Potter Art erzählt: Feuerzungen, gewaltiges Brausen… Vielleicht auch ein bisschen so wie im European Song-Contest in Malmö. Großes Ereignis! Großes Spektakel! Nur damals ohne songs. Vermutlich.

In der Bibel wird erzählt, dass wildfremde Menschen einander verstehen. Ganz ohne Sprachprobleme. Ich denke an eine Situation im metronom neulich. Neben mir zwei junge Frauen in einem intensiven Gespräch miteinander. Ich höre immer so gerne, wenn Menschen in fremden Sprachen sprechen und versuche herauszufinden, welche Sprache es ist. Leider muss ich in Hannover aussteigen. Beim Aussteigen sage ich zu den beiden: So schön, wieder einmal Russisch zu hören. Ich bilde mir nämlich ein, dass ich ein bisschen Russisch kann. Sie sehen mich an und sagen in: Wir haben Polnisch gesprochen. Naja…

Ich hab neulich ein bisschen in den European Song Contest reingehört. In manchen Songs braucht es ja nicht viele Worte. Manchmal auch gar keine Worte. Äh, äh, äh ist genug, um Begeisterung auszulösen. Stimmt aber nicht ganz. Action und Ausstrahlung derjenigen, die ihre songs präsentieren sind auch wichtig. Und natürlich die Musik. Es geht um die performance. Früher hätte man gesagt: um das  Gesamtkunstwerk.

Ich finde, dass die Pfingstgeschichte auch ein Gesamtkunstwerk ist. Ich gebe zu, dass es vielleicht etwas gewagt ist, Pfingsten und den European Song Contest in einem Atemzug zu nennen. Was verbindet beide? Das biblische Pfingsten ist die vielleicht älteste Globalisierungsgeschichte. Deshalb lohnt es sich, sie näher zu betrachten. Die Bibel berichtet, dass sich die Jünger nach dem Hinrichtungstod Jesu fünfzig Tage versteckt gehalten haben. Aus Angst, selbst Opfer der sich überschlagenen religiös-politischen Ereignisse zu werden. (Die heutigen Pfingstkirchen werden oft auch als pentekostale Kirchen bezeichnet, weil fünfzig auf Griechisch pentecost heißt.)

Man verbindet Pfingsten mit dem Gedanken an ein Sprachwunder, das dem Wirken des Heiligen Geistes zugeschrieben wird. Vielleicht wäre es einen Versuch wert, den Fremdsprachenunterricht in den Schulen grundsätzlich mehrsprachig abzuhalten. Also gleichzeitig auf Englisch, Türkisch, Russisch, Arabisch und natürlich auch auf Deutsch. Man müsste einmal abwarten, welche spirituellen Folgen das hätte. Schon klar, dass das in der Niedersächsischen Schulverordnung nicht vorgesehen ist.

In der biblischen Pfingstgeschichte werden die anwesenden Menschen wie aus dem Nichts von einer Inspiration ergriffen, die auf alle einen großen Eindruck hinterlassen haben muss. Die Überraschung in dem ganzen Geschehen ist aber: man spricht miteinander, und man versteht sich! Das ist nicht selbstverständlich. Das wissen wir selbst. Es gibt im Miteinander viele Hindernisse, Missverstehen und zermürbendes Sich-Anschweigen. Da ist das mühelose Einanderverstehen tatsächlich ein Wunder. Eine Verständigung über alle Sprach-Barrieren hinweg ist plötzlich möglich. Ein respektvolles und geradezu herzliches Miteinander wird möglich. Kulturelle und sprachliche Unterschiede sind kein Hindernis mehr. Unterschiede in der sozialen Herkunft – kein Problem. Unterschiedliche Bildungsmilieus aus denen wir kommen – kein Problem. Menschen aller Nationen und Kulturen verstehen einander! Wie wunderbar!

Schon klar: es ist eine Utopie.  Die Realität sieht anders aus.  Aber für einen kurzen Moment hat sich damals ein Traum verwirklicht. Wodurch? Offenbar nicht durch gute Organisation und Management. Nicht durch menschliches Zutun. Und doch geschieht es. Und doch erleben es Menschen. Manche sagen: Ein Wunder! Und: wenn es nicht menschengemacht ist und wahrscheinlich so auch gar nicht menschenmöglich ist, dann hat es Gott bewirkt. Sein göttlicher Geist macht dieses Wunder möglich. So haben es diejenigen, die es miterlebten jedenfalls gedeutet. Und die junge christliche Kirche hat es von ihnen übernommen. Deshalb wird Pfingsten auch als die Geburtsstunde der Kirche bezeichnet.  

Neulich erst wurden wieder einmal die statistischen Zahlen bekannt gegeben: jedes Jahr treten eine halbe Million Menschen in Deutschland aus der Kirche aus. Aber ist uns eigentlich klar, dass anderswo die christlichen Kirchen enorm wachsen. Allein in Äthiopien nimmt die Zahl der evangelisch-lutherischen Christen jedes Jahr um eine halbe Million zu! Es findet eine bemerkenswerte Verschiebung statt. Hier jedes Jahr eine halbe Million Kirchenmitglieder weg, dort jedes Jahr eine halbe Million Kirchenmitglieder dazu.

Ich habe regelmäßig Kontakt zur Kirche in Äthiopien. Neulich wurde ich von jemandem aus der Kirchenleitung der Luthgerischen Kirche in Äthiopien angesprochen:   Wir wollen der Kirche in Deutschland etwas vom Glauben zurückgeben, den sie uns durch die Mission einmal gebracht hat. Kannst Du, wurde ich gefragt für uns die Organisation in Deutschland übernehmen, dass wir dort missionieren können? Nun ist mir bewusst, dass es in Afrika unhöflich ist, einfach Nein zu sagen. Also habe ich geantwortet: Ich denke darüber nach. Das mach ich immer noch…

Aber wer weiß: Vielleicht hilft uns doch utopisches Denken: Die Utopie von einer Weltgemeinschaft in der die Würde des einzelnen Menschen geachtet wird, gleiches Recht für alle gilt, eine gerechtere Verteilung des vorhandenen Wohlstands vorgenommen wird und endlich Frieden einkehrt? Einer Völkergemeinschaft, die nicht auf Konformität abzielt und schon gar nicht autoritär und diktatorisch ist. Sondern auf Freiheit und Einheit in der Verschiedenheit beruht. In gegenseitigem Respekt. Auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung und der Allgemeinen Menschenrechte. Manchmal denke ich, dass der weitgehend abhanden gekommene Gottesbezug vielleicht doch wichtig und unverzichtbar  ist:  Denn nicht  wir sind doch das Maß aller Dinge, sondern Gott der Schöpfer von Himmel und Erde. Wir haben nicht alles in der Hand. Wir haben bei Lichte betrachtet ja nicht einmal uns selbst in der Hand – oder?

In jedem Fall aber scheint es gegenwärtig so zu sein, dass uns in Europa allmählich und kontinuierlich mehr die Religion abhandenkommt. Die durch die Institution Kirche organisierte Religion ist auch für viele Mitglieder der Kirche problematisch geworden. Insbesondere dort, wo Kirche sich mit autoritärer staatlicher Machtpolitik verbündet. Aktuell können wir dies in Russland beobachten. Dort lässt sich die orthodoxe Kirche für den Machtanspruch eines autoritären Regimes missbrauchen und gibt einem völkerrechtswidrigen Krieg ihren Segen. In der Geschichte ist das leider oft passiert. Auch bei uns. Die Frage ist: Wenn die Kirchen in großem Tempo an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren – was tritt an ihre Stelle? Wer kann die wegweisende, notwendige und kritische Stimme der Kirche ersetzen? Welcher Mensch oder welche Institution traut sich das zu?

Gemeinsam mit vielen anderen habe ich bis vor kurzem die Vorstellung für abwegig gehalten, dass es nach zwei verheerenden Kriegen in Europa noch einmal einen Krieg geben wird. Jetzt habe ich Angst davor, dass bei uns und in Europa die Demokratie kaputt gemacht wird. Manchmal denke ich, dass Demokratie und christlicher Glaube manches gemeinsam haben. Zu allererst vielleicht die Wertschätzung der Würde des einzelnen Menschen. Bei uns ein demokratisches Verfassungsrecht: Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ Im christlichen Glauben ist die Würde des Menschen damit begründet, dass der Menschen als Ebenbild Gottes gesehen wird.  

In der Demokratie geht es nicht nur um die Achtung des Einzelnen, sondern auch darum, dem Einzelnen Eigenverantwortung zuzutrauen und zuzumuten.  Und darum, dass Bewusstsein dafür zu wecken, dass es nicht allein darum geht, Regeln und Vorschriften und Gesetze zu befolgen, sondern auch darum, zu verstehen, dass sie für ein solidarisches, soziales Miteinander sinnvoll und beachtenswert sind.

Bezogen auf den Glauben hieße das, die Zehn Gebote nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes zu befolgen, sondern den Kern dahinter zu verstehen. Abgesehen von den bekannten Zehn Geboten gibt es zwei zentrale Gebote in der Bibel. Der Kontext: ein junger Mann fragt Jesus: Wie komme ich in den Himmel? Jesus fragt erstmal zurück: Was sagt die Bibel dazu? Was sind die beiden wichtigsten Gebote? Er: Gott zu ehren und den Mitmenschen zu lieben wie sich selbst. – Genau, sagt Jesus. Du bist nicht weit davon entfernt, in den Himmel zu kommen. Ja, es kommt darauf an, etwas im Kern zu verstehen. Gott ehren und den Mitmenschen achten. In der gelebten Praxis würde das vielleicht schon erstmal reichen. In der Bibel heißt es: Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Mit welcher Haltung begegnen wir einander?  Die Menschen, die wir lieben und die anderen, die wir nicht so lieben, denen wir aus dem Weg gehen oder uns mit ihnen streiten.

Aktuelle statistische Untersuchungen zeigen, dass Beleidigungen mit Worten und Gesten, Bloßstellungen, falsche Beschuldigungen, üble Nachrede, Nötigung und die mutwillige Gefährdung des anderen – dass all das kontinuierlich zunimmt. In Politik und Gesellschaft ist man sich einig: Wir brauchen eine grundsätzliche andere Haltung im Umgang miteinander. Eine andere Geisteshaltung. Damit sind wir bei einem Kerngedanken von Pfingsten: der Einheit und im Glauben.  Paulus, der auch der Völkerapostel genannt wird sagt es so: „Es gibt nicht mehr um Juden und Griechen, Sklaven und Freie – denn ihr seid alle eins in Christus!“. Vermeintlich „natürliche“ Identitäten:  Familienzusammenhänge, ethnische Zugehörigkeit, soziale Milieus und Klassen werden überwunden und ein neues, internationales und humanistisches Selbstverständnis gewinnt Raum, das eng mit unserer christlichen Grundüberzeugung verbunden ist. Es war in der NS-Zeit das Gegenprogramm zum völkischen Glauben der  Deutschen Christen und ist auch heute noch das Gegenprogramm zu allem beschränkt-völkischem Denken.

Gott und sein Wirken wird von vielen Zeitgenossen vielleicht nicht unbedingt geleugnet, aber mit der Gegenwart Gottes und der Wirksamkeit seines Heiligen Geistes wird auch nicht gerade gerechnet. Für die Bewältigung unseres Alltags spielt Gott für die meisten keine Rolle mehr. Paulus hält dagegen: Gerade in den Abläufen des Alltags und mitten in der Gesellschaft spielt Gott und sein göttlicher Geist eine Rolle. Wo sonst, wenn nicht dort? Wie geschieht dies? Paulus spricht hier von Charismen – Geistesgaben. Wenn man so will, von Kompetenzen. Er spricht nicht etwa von leistungsbezogenen Qualifikationen, sondern von persönlichkeitsspezifischen Gaben – Gottesgaben. Paulus ist davon überzeugt, dass kein Mensch ohne diese Gottesgaben ist. Dass vielmehr in jedem von uns auf sehr unterschiedliche Weise Gottes guter Geist lebendig und wirksam ist. Auch – und vielleicht gerade – in den Schwächsten und Bedürftigsten unter uns. Mit diesen Gottesgaben gelingt es uns, einander auszuhalten und viel mehr noch:   uns gegenseitig zu stärken und zu ermutigen, einander zu trösten und zu lieben und zuversichtlich leben zu lassen. Deshalb noch einmal:  Frohe und gesegnete Pfingsten!

Predigt an Pfingstmontag 2024,  Kapelle in Bohndorf, Gemeinde Altenmedingen

Zwischen den Dörfern Aljarn und Bohndorf gibt es eine kleine Waldkirche. Daneben, auch mitten im Wald einen Friedhof. An Pfingsten findet hier traditionell ein Gottesdienst statt.  Dieses Mal mit etwa zwanzig Posaunenbläserinnen und -bläsern. Mehr als die Hälfte von ihnen unter 18 Jahren. In die kleine Kirche strömen an diesem Tag die Gottesdienst- Besucherinnen und -besucher. Die Kirchenbänke sind voll besetzt. Die vorhandenen Gesangbücher reichen nicht.  Man muss zusammenrücken und zu zweit oder dritt ins Gesangbuch gucken.